Wege zum SelbstAus: Ken Wilber, Wege zum Selbst, 1979

Der Schatten besteht also einfach aus den unbewussten Gegenteilen dessen, was man an sich selber bewusst akzeptiert. Eine einfache Art und Weise, mit dem eigenen Schatten Kontakt aufzunehmen, ist die, gerade das Gegenteil von dem anzunehmen, was man im Moment bewusst beabsichtigt, wünscht oder begehrt. Das zeigt einem genau, wie der eigene Schatten die Welt ansieht, und mit dieser Anschauung sollte man sich befreunden. Das bedeutet nicht, dass man gemäß dem Gegensätzlichen handeln, sondern nur, dass man sich seiner bewusst sein sollte. Wenn Sie das Gefühl haben, jemanden stark zu verabscheuen, seien Sie sich der Seite Ihrer selbst bewusst, die den Betreffenden gern hat. Wenn Sie bis über beide Ohren verliebt sind, machen Sie sich den Teil Ihrer selbst bewusst, der höchst gleichgültig ist. Wenn Ihnen ein bestimmtes Gefühl oder Symptom verhasst ist, nehmen Sie bewusst jenen Aspekt Ihrer selbst wahr, der dies insgeheim genießt. In dem Augenblick, in dem Sie sich Ihrer Gegensätzlichkeiten wirklich bewusst sind, sowohl der positiven als auch der negativen Gefühle gegenüber irgendeiner Situation, fallen viele mit dieser Situation verbundene Spannungen weg, weil der Kampf der Gegensätze, der die Spannungen erzeugt hat, sich auflöst. Andererseits spalten Sie in dem Augenblick, in dem Sie die Einheit der Gegensätze aus den Augen verlieren, das Bewusstsein von den beiden Seiten in Ihnen selbst, die Pole, auseinander, errichten eine Grenze zwischen ihnen und machen so den abgelehnten Teil unbewusst, von wo er zurückkehrt, um Sie als Symptom zu quälen. Da die Gegensätze immer eine Einheit sind, können sie nur durch Unbewusstheit – durch selektive Nichtbeachtung – getrennt werden.

SchattenWenn Sie beginnen, Ihre Gegensätze, Ihren Schatten, Ihre Projektionen zu erforschen, werden Sie mit der Zeit feststellen, dass Sie Verantwortung für Ihre eigenen Gefühle und Ihre Geistesverfassung übernehmen. Sie werden allmählich erkennen, dass die Kämpfe zwischen Ihnen und anderen Menschen in Wirklichkeit Kämpfe zwischen Ihnen selbst und Ihren projizierten Gegensätzen sind. Sie werden sehen, dass Ihre Symptome nicht etwas sind, was die Umwelt Ihnen antut, sondern etwas, was Sie sich selbst antun – als übertriebenen Ersatz für das, was Sie in Wirklichkeit anderen antun würden. Sie werden finden, dass Menschen und Ereignisse Sie nicht aufregen, sondern für Sie nur Anlässe sind, sich selber aufzuregen. Es ist eine großartige Erleichterung, wenn Sie zum ersten Mal begreifen, dass sie selbst ihre eigenen Symptome hervorbringen, weil das zugleich bedeutet, dass Sie aufhören können, diese Symptome zu erzeugen, indem Sie sie in ihre ursprüngliche Form zurückübersetzen. Sie werden zur Ursache Ihrer eigenen Gefühle und nicht zur Wirkung.

Ein mehr oder weniger richtiges Selbstbild entwickeln heißt einfach, ein umfassendes Bewusstsein jener Facetten seiner selbst gewinnen, von deren Existenz man nichts wusste. Diese Facetten sind leicht aufzuspüren, weil sie sich als die eigenen Symptome, inneren Gegensätze, Projektionen zeigen. Die eigenen Projektionen zurückzunehmen bedeutet einfach, eine Grenze beseitigen, Dinge als Eigentum aufzunehmen, von denen man dachte, sie seien etwas Fremdes, in sich selber Platz machen für ein Verstehen und Annehmen der eigenen vielfältigen Möglichkeiten, der negativen wie der positiven, der guten und schlechten, der liebenswürdigen und der verächtlichen, und so ein relativ genaues Bild von dem zu entwickeln, was der eigene psycho-physische Organismus ist. Es bedeutet, die eigenen Grenzen zu verschieben, die eigene Seele neu zu kartographieren, so dass alte Feinde zu Verbündeten werden und insgeheim sich befehdende Gegensätze zu offenen Freunden werden. Am Ende werden Sie zwar vielleicht nicht alles an sich wünschenswert finden, aber vielleicht doch alles liebenswürdig.

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