Drei Augen der ErkenntnisAus: Ken Wilber, Die drei Augen der Erkenntnis, 1983

Der heilige Bonaventura lehrte, dass der Mensch mindestens über drei Weisen, Erkenntnis zu erlangen, verfügt – „Drei Augen“, wie er sie nannte: das Auge des Fleisches, mit dem wir die äußere Welt des Raumes, der Zeit und der Dinge wahrnehmen, das Auge der Vernunft, das uns Zugang zur Philosophie, zur Logik und zum Geist selbst verschafft und das Auge der Kontemplation, das uns zur Erkenntnis transzendenter Wirklichkeit erhebt.

Wie lassen sich die „höheren“ Formen der Erkenntnis beweisen? Wenn es keine empirischen Beweise für sie gibt, was bleibt dann noch? Wir scheinen hier vor einem Problem zu stehen, weil wir nicht wissen, dass alle Erkenntnis wesentlich strukturverwandt ist und daher auf ähnliche Weise bestätigt oder widerlegt werden kann. Jede stichhaltige Erkenntnis – gleich in welchem Bereich – besteht aus drei Grundkomponenten, die wir Injunktion, Illumination und Konfirmation nennen.

  1. Injunktion: Wir verstehen darunter eine Reihe von instrumentellen Anweisungen, die einfach oder komplex, innen- oder außengeleitet sein mögen, aber stets die Form haben: „Wenn man etwas Bestimmtes wissen oder erkennen will, muss man dies oder jenes tun.“
  2. Illumination: Wir verstehen darunter das wahrnehmende Sehen mit jenem spezifischen Auge der Erkenntnis, das durch die Injunktion aktiviert wurde. Was da ein-leuchtet, kann einen selbst er-leuchten, es kann aber auch zur dritten Komponente führen, zur
  3. Konfirmation: Sie ist das gemeinschaftlich geteilte illuminierende (wahr-nehmende) Sehen derer, die dasselbe Auge benützen. Wenn die anderen die gemeinsame Wahrnehmung bejahen, kommt dies einem gemeinschaftlichen oder konsensuellen Beweis wahrheitsgemäßen Sehens gleich.

Ich möchte nun ein paar Beispiele geben und dabei mit dem Auge des Fleisches beginnen. 

ErkenntnisgewinnungAuf der Ebene des fleischlichen Auges, das die einfachste Erkenntnisweise darstellt, können die Injunktionen ganz prosaisch heißen: „Wenn du es nicht glaubst, dass es regnet, geh’ hinaus und sieh nach.“ Der Mensch geht hinaus und sieht – und damit kommt er oder sie zu seiner oder ihrer „Erleuchtung“ bzw. Erkenntnis (Illumination). Wenn auch andere Menschen der Anweisung folgen und wenn sie alle dasselbe sehen, gelangen wir zur konfirmativen Komponente und können sagen: „ Es ist wahr, dass es regnet.“

Wenn wir uns nun dem nächsten Auge, dem Auge des Geistes, zuwenden, stellen wir fest, dass es verwickelter und schwieriger sein kann, die entsprechende injunktive Komponente zu teilen. Aber Sie und ich haben sie hoffentlich im Augenblick gemeinsam und sehen übereinstimmend mit dem geistigen Auge (auch wenn wir über das, was wir sehen, vielleicht nicht völlig einer Meinung sind); wäre es nicht der Fall, würde Sie kein einziges Wort von dem verstehen, was ich hier schreibe. Um aber die Bedeutung irgendeines dieser Worte zu sehen, muss man bestimmte Anweisungen befolgen, nämlich vor allem: „Lesen lernen“. Wir haben es alle getan und dadurch Zutritt zu einer Welt erhalten, die dem Auge des Fleisches nicht unmittelbar offensteht. Die Form des Beweises ist auf der geistigen Ebene dieselbe wie auf den anderen Ebenen und hat dieselben drei Grundkomponenten: Schulung des geistigen Auges, persönliches Erkennen sowie gemeinschaftliches Vergleichen und gemeinschaftliche Bestätigung (oder Zurückweisung). Die Allgemeinverbindlichkeit geistiger Erkenntnisse ist natürlich schwerer zu erreichen als der fleischlich-sinnliche Konsens, denn das fleischliche Auge ist bei jedem dasselbe, der geistige Standpunkt jedoch verschieden. Dies ist keineswegs eine Schattenseite des geistigen Auges; es ist vielmehr ein Zeichen für seinen Reichtum.

Im transzendenten Bereich kommt man auf genau dieselbe Weise zu Erkenntnissen; ihre Grundkomponenten sind ebenfalls Injunktion, Illumination und Konfirmation. Im Zen entsprechen ihnen Zazen, Satori und Bestätigung durch den Meister. Der Beweis im transzendenten Bereich ist letztlich ein Gottesbeweis oder ein Beweis der Buddhanatur oder des Tao – er ist aber weder ein empirischer noch ein rational-philosophischer Beweis, sondern vielmehr ein kontemplativer.

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