Wert, Ethik und Moral

Gesellschaft

Wert, Ethik und Moral

Michael Habecker

Die nachfolgenden Zitate sind dem Buch Eros, Kosmos, Logos (EKL), entnommen (Krüger Verlag, 1996), wo Ken Wilber nach eigenen Aussagen eine „verknappte“ Darstellung des Themas liefert. Ich habe einige Ergänzungen vorgenommen, entsprechend der „2nd revised edition“ des Buches, veröffentlicht in den – noch nicht übersetzten – collected works Volume 6. Eine ausführliche Darlegung dieser Thematik kündigt Wilber für den zweiten Band der Kosmos Trilogie an.

Im ersten Zitatabschnitt gibt Wilber einen Abriss seiner Wertetheorie, die auf drei Wertekategorien beruht: dem „Grund-Wert“, dem „intrinsischen Wert“, und dem „extrinsischen Wert“. Alle drei Wertemerkmale sind nach Wilber gleichermaßen zu berücksichtigen, da es sonst zu Einseitigkeiten und Verzerrungen kommt. (Eine ausschließliche Grundwertebetrachtung macht keine Unterscheidungen, eine ausschließliche Betrachtung intrinsischer Werte führt zu einer Überbetonung von Rechten, eine ausschließliche Betrachtung extrinsischer Werte führt zu einer Überbetonung von Pflichten).

Im zweiten und dritten Zitatabschnitt erläutert Wilber das, was er als „moralische Grundintuition“ (MGI) bezeichnet.

Für den im Text verwendeten Holonbegriff siehe: Grundlagenkonzepte: Holons

(aus EKL S. 597f)

1. Alle Dinge und Ereignisse, welcher Art auch immer, sind vollkommene Manifestationen des GEISTES. Kein Holon, ob es gemeinhin als hoch oder niedrig, heilig oder profan, einfach oder komplex, primitiv oder fortgeschritten angesehen wird, ist dem Grund näher oder ferner als irgendein anderes, und deshalb sind alle Holons von letztlich gleichem Wert, nämlich von gleichem Grund-Wert. Alle Formen sind in gleicher Weise reine Leere, uranfängliche Reinheit.

2. Doch über den Grund-Wert hinaus sind alle Holons auch bestimmte Ganze und bestimmte Teile. In seiner Ganzheit besitzt ein Holon „Ganzes-Wert“. Es hat Wert in sich selbst und nicht nur für etwas anderes. Es ist Zweck seiner selbst und nicht nur Mittel für etwas anderes. Es hat autonomen und nicht bloß instrumentellen Wert. Das wird vielfach „intrinsischer Wert“ genannt, womit ich einverstanden bin; daneben werde ich diesen Wert, den etwas an sich selbst hat, auch „autonomen Wert“ und „Ganzheits-Wert“ nennen. Alle Holons, als Ganze, haben intrinsischen Wert.

Daraus folgt: je größer die Ganzheit, desto größer der intrinsische Wert. Ganzheits-Wert ist demnach dasselbe wie Tiefen-Wert. Je größer die Tiefe, desto größer der Wert (und je größer die potentielle Tiefe, desto größer der potentielle Wert).

Das bedeutet, wie wir des öfteren gesehen haben, daß es auch Ebenen der Bedeutsamkeit gibt: Je mehr Tiefe oder je größer die es Ganzheit, desto bedeutsamer ist dieses Ganze für den Kósmos, denn um so mehr vom Kósmos umfängt es in seiner Tiefe. (Daher sind Zellen bedeutsamer als Moleküle, weil Zellen Moleküle enthalten, und daher mehr Bedeutsamkeit des Kósmos umfassen und enthalten. Ein Affe ist bedeutsamer als eine Zelle, und so weiter).

Außerdem haben alle Holons als Ganze (das heißt in ihrer Agenz) Rechte, die einfach die Bedingungen benennen, unter denen ein Holon ganz bleiben kann. Je größer die Ganzheit eines Holons, desto mehr Rechte sind notwendig, um es aufrechtzuerhalten (d.h., je bedeutender die Ganzheit, desto größer ist das erforderliche Geflecht von Rechten zur Aufrechterhaltung der Bedeutsamkeit. Ein Affe hat mehr Rechte als eine Ameise). Diese Rechte sind nicht etwas was dem Holon hinzugefügt wird; diese Rechte sind eine einfache Feststellung der Bedingungen, (objektiv, interobjektiv, subjektiv und intersubjektiv) die notwendig sind um die Ganzheit eines bestimmten Holons aufrecht zu erhalten. Wo diese Rechte, das heißt die richtigen Bedingungen für den Bestand eines Holons nicht gegeben sind, da zerfällt die Ganzheit dieses Holons.

3. Alle Holons sind auch Teile, und als Teile haben sie instrumentellen Wert (auch „extrinsischer Wert“ genannt). Das heißt alle Holons besitzen Wert für andere. Als Teil hat ein Holon Teil-Wert oder Teilheits-Wert in seiner Eigenschaft als Teil eines größeren Ganzen. Dieses Ganze und alles, was zu ihm gehört, ist abhängig von jedem Teil: Jeder Teil ist von instrumenteller Bedeutung für den Bestand des Ganzen; jeder Teil hat extrinsischen Wert, Wert nicht nur in und für sich selbst, sondern für andere. Und je mehr Teil-Wert ein Holon hat – je größer also die Zahl der Ganzen, von denen es ein Bestand-Teil ist -, desto grundlegender ist dieses Holon für den Kósmos, denn um so mehr von seinen Inhalten gehört es als notwendiger Bestandteil an. Ein Atom ist grundlegender als ein Affe. (Woraus folgt, …je grundlegender, desto weniger bedeutsam, und umgekehrt).

Außerdem haben alle Holons als Teile (das heißt in ihrer Kommunion) „Pflichten“. Wie bei den Rechten sind die Pflichten nicht etwas was dem Holon hinzugefügt wird. Geflechte von Pflichten definieren einfach die Bedingungen, welche notwendig sind um das Ganze zu unterstützen, von dem das Teil tatsächlich ein Teil ist. Und, je größer die Tiefe eines Holon, desto größer das Geflecht der Kommunionen, in die es eingebunden ist, und desto größer auch seine Pflichten (bei entsprechend größeren Agenz-Rechten).

Ebenso existiert jedes Holon als ein Teil (in Kommunion) in einem Geflecht von Fürsorge und Verantwortlichkeit. Wie die Rechte sind auch die Verantwortlichkeiten nicht etwas was zu Holons hinzugefügt wird. Geflechte von Verantwortlichkeiten definieren einfach die Bedingungen, die notwendig sind um das Ganze zu unterstützen, von dem das Teil tatsächlich ein Teil ist. Darüber hinaus gilt, je größer die Tiefe eines Holon, in um so mehr Geflechten der Kommunion ist es involviert, und um so grösser ist seine Verantwortung in der Kommunion (entsprechend seinen größeren Rechten der Agenz).

Jedes Holon im Kósmos besitzt also gleichen Grund-Wert als reine Manifestation des GEISTES oder der Leere. Als bestimmte Ganzheit besitzt jedes Holon außerdem intrinsischen Wert, Tiefen-Wert, weil es Aspekte des Kósmos als Teil seiner selbst in sich birgt (und je mehr solcher Aspekte, desto größer ist seine Tiefe, sein intrinsischer Wert, seine Bedeutsamkeit). Als Teil besitzt jedes Holon extrinsischen oder instrumentellen Wert, weil andere Holons, die ihm äußerlich sind, für ihre eigene Existenz und für ihr eigenes Überleben auf diese oder jene Weise von ihm abhängen (und je mehr Geflechten und Ganzen dieses Holon als Teil angehört, desto grundlegender ist es und desto größer ist sein extrinsischer Wert: es ist von instrumenteller Bedeutung für die Existenz so vieler anderer Holons)(asEKL S. 684f.

Im möchte die These vorschlagen, daß es auf allen Stufen menschlicher Entwicklung eine Moralische Grund-Intuition (MGI) gibt die da lautet: „Erwirke und bewahre die größtmögliche Tiefe für die größtmögliche Spanne.“ Diese Intuition ist unmittelbarer Ausdruck der Manifestation des GEISTES in den vier Quadranten oder einfach als die Großen Drei – die Tiefe im Ich, sich ausdehnend um andere einzuschliessen (Wir), in einem entsprechenden Zustand der objektiven Dinge (Es): Alle Individuen intuieren den GEIST, und da der GEIST sich als die Großen Drei manifestiert, wird die spirituelle Grund-Intuition „Ehre und verwirkliche den GEIST“ – in allen drei Bereichen empfunden und schlägt sich, wie ich behaupten werde, in der genannten moralischen Grund-Intuition nieder.

Weiterhin behaupte ich, daß wir die verschiedenen Weltbilder – magisch, mythisch, rational, psychisch und so weiter – unter dem Gesichtspunkt dieser MGI betrachten können, um zur typischen moralischen Haltung jeder Stufe zu gelangen; die MGI ist für alle Stufen gleich (denn es gibt nur einen GEIST), aber die Definitionen von „Ich“, „andere“, „Objekte“ unterscheiden sich (weil der GEIST im Laufe seiner Selbstevolution immer weitere Tiefe freilegt).

Für die egozentrische Haltung beispielsweise besitzt nur (oder vorwiegend) das Ich Tiefe, und alle anderen sind für gewöhnlich nur Fortsätze des Ich: Seine moralische Haltung besitzt eine Spanne von 1, und Tiefe erwirkt und bewahrt es nur für diese Spanne, nämlich sich selbst. Das ist auch eine typische hedonistische Ethik.

Die soziozentrische Haltung erkennt Tiefe auch in anderen an, aber nur, wenn sie der eigenen Kultur angehören: (zur Spanne gehören alle, die an die betreffende Mythologie glauben, und deren Tiefe ist dann zu erwirken und zu bewahren. Das ist typisch für die Pflicht-Ethik). Alle anderen Menschen jedoch sind in diesem oder jenem Sinne Ungläubige, ohne Tiefe und ohne Seele und daher nicht wert, daß man sie schützt und fördert (und sie werden in der tat oft zum Ruhme des Gottes der betreffenden Kultur geopfert).

Die weltzentrisch-rationale Haltung spricht Tiefe allen Menschen zu, und Spanne ist jetzt die Menschheit insgesamt. Hier kommt es jedoch zu einer Entgleisung: Mit der Einebnung des Kósmos zum Kosmos der objektivierten Natur blieb von Tiefe nur noch ein eindimensionales Glück übrig, und die MGI muß dann neu formuliert werden als: „Erwirke das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl“ – keine Rede mehr von verschiedenen Arten des Glücks oder verschiedenen Tiefen-Niveaus, von Qualitäten also, die Vorrang vor der schieren Quantität haben sollten (mit Aussagen wie „besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedenes Schwein“ kann diese Flachland MGI nicht umgehen). Ungeachtet dieser Einschränkung gilt jedoch, daß die rational-weltzentrische Lesart der MGI allen Menschen Tiefe oder potentielle Tiefe zubilligt, und auch beginnen kann, diese auch auf nichtmenschliche Lebewesen auszudehnen.

Im transpersonalen Bereich entfaltet sich die MGI als Buddha (Ich), Dharma (Es) und Sangha (Wir) – und Sangha ist letztlich die Gemeinschaft aller Lebewesen. Natürlich sind auch hier noch Unterschiede zu berücksichtigen. Gemäß der MGI, „Erwirke und bewahre die größtmögliche Tiefe für die größtmögliche Spanne“, ist die Tötung eines Menschen schlimmer als die Tötung einer Mücke, denn beide sind zwar vollkommener Ausdruck des einen Selbst oder Buddha-Geistes, aber im Menschen ist mehr Tiefe realisiert, und daher ist er schutzwürdiger…

Ich glaube also, daß wir alle mehr oder weniger tief reichende Intuitionen des GEISTES haben und daher alle die Moralische Grund-Intuition besitzen. Die Ausgestaltung dieser Intuition hängt jedoch von unserem jeweiligen Entwick1ungsstand ab. Da der GEIST sich stets in allen vier Quadranten gleichzeitig und als diese vier Quadranten manifestiert, hängt die Deutung dieser spirituellen Intuition davon ab wie diese vier Quadranten jeweils wahrgenommen werden. Wenn wir diese horizontalen und vertikalen Faktoren zusammennehmen, erhalten wir ein vieldimensionales Raster, das, soweit ich sehe, alle wichtigen bisher vorgekommenen ethischen Grundeinsteilungen generieren kann.

Im übrigen ist die Moralische Grund-Intuition auch innerhalb einer bestimmten Entwicklungsebene nichts anderes als eben eine Intuition – keine Steintafel mit eingehauenen Geboten. Sie erhält ihre Gestalt durch die Oberflächenstrukturen der jeweiligen Kultur, und eben weil es sich um eine Intuition handelt, können die Angehörigen einer bestimmten Stufe legitimerweise uneins sein in der Frage, was Tiefe ist, was an Spanne einbezogen werden soll und wie die objektive Umsetzung auszusehen hat (Ich, Wir, Es). (Eine höhere Stufe erfordert ein authentischeres Auspacken der MGI, doch diese Stufe würde immer noch ihre eigenen Probleme der Legitimität auf ihrer eigenen Ebene haben, und so weiter)

(aus EKL S. 801)

Die Tatsache, daß weniger bedeutende Holons weniger Rechte (und weniger Pflichten) als bedeutendere Holons haben, ist nicht leichbedeutend mit: Sie haben gar keine Rechte. Die Anerkennung ihrer relativen Rechte gehört zur Befreiung des Lebens (Birch und Cobb), die dem ökonoetischen Ich und der Gemeinschaft aller empfindenden Wesen innewohnt…

„Erwirke und bewahre die größtmögliche Tiefe für die größtmögliche Spanne…“. Das bedeutet, wann immer wir GEIST intuitiv erfassen, erfassen wir ihn so, wie er in allen vier Quadranten erscheint (weil sich GEIST als alle vier Quadranten manifestiert), kurz gesagt als „Ich“, „Wir“ und „Es“. Somit intuiere ich seine Kostbarkeit nicht nur in mir, in meiner eigenen Tiefe, in meinem Ich-Bereich, sondern gleichermaßen im Bereich aller anderen Wesen, die GEIST mit mir teilen, wie ich ihn mit ihnen teile. Deswegen möchte ich den GEIST schützen und fördern, nicht nur in mir, sondern in allen Wesen, die im Besitz jenes GEISTES sind. Und ich bin dazu motiviert, wenn ich GEIST unmittelbar, klar und deutlich erfahre, diese spirituelle Entfaltung in möglichst vielen Wesen zur Wirkung zu bringen und zu vollenden: Ich erfahre GEIST nicht ausschließlich als „Ich“ oder „Wir“, sondern empfinde auch den Drang, die Verwirklichung des GEISTES zu einem objektiven Zustand in der Welt („Es“) zu machen.

Spirituelle Intuition, wirklich begriffen, beinhaltet das Verlangen, die Tiefe des „Ich“ als objektiven Zustand („Es“) in die Spanne der „wir“ zu erweitern und auszudehnen: Buddha, Sangha, Dharma. Darum heißt es: Erwirke und bewahre die größtmögliche Tiefe für die größtmögliche Spanne.

Die genauen Einzelheiten, wie die grundlegende moralische Intuition wirklich implementiert und angewendet werden kann, sind reiner Intuition nicht automatisch als philosophisches, ethisches oder anderes Wissen mitgegeben. Die Ermittlung dieses Detailwissens gehört zum intersubjektiven, kulturellen und sozialen Projekt, das wir alle in offener und herrschaftsfreier Kommunikation diskutieren, mitentscheiden und mitgestalten müssen. Darum besteht die moralische Reaktion des Menschen in jener feinen Mischung aus Göttlichem und Menschlichem. Ich kann faktisch eine großartige Intuition des GEISTES haben und doch bedeutet das nicht, dass ich alle Details kenne (wissenschaftlich, philosophisch, ethisch, kulturell, oder anders) die zu einer endgültigen Entscheidung gehören. Tatsächlich kann ich eine ausgezeichnete Intuition des GEISTES haben, bin aber aufgrund eines begrenzten Wissens und Verständnisses nur schlecht in der Lage ihn auszupacken. Ein Zen-Meister kann zwar eine profunde Intuition des Einsseins mit dem Kósmos haben, mit Gaia und all ihren Bewohnern, und er kann sein Leben dem Ziel geweiht haben, auch nicht einem einzigen Lebewesen zu schaden, aber er muß deswegen nicht automatisch wissen, dass gewisse Baumaterialien toxisch sind. Die grundlegende moralische Intuition ist das Einströmen des Göttlichen in unser Bewußtsein, nicht die Ausarbeitung von Details.

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