Was ist Integrale Spiritualität?

Religion / Spiritualiät

Was ist Integrale Spiritualität?

Ken Wilber, Juni 2005

ANHANG : Die Notwendigkeit einer Post-Metaphysik

(Hinweis: Dieser Text ist eine Vorabveröffentlichung von Ken Wilbers Buch „Integrale Spiritualität“)

Ich werde die ersten Absätze von „Die gleitende Skala der Erleuchtung“ wiederholen; dieser Anhang setzt dort an und geht auf die wichtigsten Punkte ein.

Nun kommt der schwierige Teil des gordischen Knotens. Das Problem kann in unterschiedlicher Weise  formuliert werden – wenn Evolution stattfindet, wie kann dann Erleuchtung eine Bedeutung haben?

Erleuchtung bedeutet doch so etwas,  wie Einssein mit Allem, aber wenn alles evolviert und ich heute Erleuchtung erlange, wird dann nicht meine Erleuchtung nur noch partiell sein, wenn das Morgen kommt? Werde ich unerleuchtet werden, wenn die Sonne untergeht? Gibt es irgendeine Definition von Erleuchtung, die mich ihrer nicht morgen schon beraubt?

Eine typische Antwort auf diese Frage lautet, dass Erleuchtung bedeutet, eins zu sein mit dem Zeitlosen, Ewigen  und Ungeborenen, aber das erzeugt eine massive Dualität im Geist – das Zeitlose und Ewige gegen das Zeitliche und Evolvierende – und was ich damit im Grunde sage, ist, dass Erleuchtung eins ist mit dem halben Geist.

Wir sahen, dass „nonduale Mystik“  die „Vereinigung von Allem im grobstofflichen, subtilen und kausalen Bereich ist?“ Aber Sie können die nonduale Zustandserfahrung auf  nahezu jeder Stufe haben, inklusive der magischen und mythischen, und das mythische Weltbild z.B. beinhaltet NICHT die Phänomene der höheren Stufen. Das bedeutet, Sie können eine Realisierung der nichtdualen allgegenwärtigen Bewusstheit haben, die eine reine Einheitserfahrung mit Allem ist, aber diese Erfahrung lässt einen großen Teil des Universums außen vor.  Das heißt, Satori könnte tatsächlich eine Einheit mit einer fragmentierten Welt bedeuten. Das ist, ganz allgemein gesagt, nicht gut.?

Im oben Gesagten haben wir Variationen der gleichen Schwierigkeit, dies ist aber – um die Dinge schlimmer zu machen – nur der Anfang des Problems (nennen wir es Teil A), das folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Das Universum – zumindest das manifeste Universum – entwickelt sich. Auch wenn wir GEIST (Spirit) als die Einheit von Leere und Form definieren (wobei Leere zeitlos, ungeboren, nicht-manifest ist und sich nicht entwickelt, und Form manifest und auch in der Zeit ist und sich entwickelt), bedeutet der „zeitliche“ und „Welt-der-Formen“-Teil eine Belastung für das Verständnis von Erleuchtung, die nicht so leicht behoben werden kann. Die manifeste Welt der Form entwickelt sich und gewinnt an Komplexität – sie wird im Laufe der Zeit Mehr und Mehr und Mehr. Welche Erleuchtung ich daher heute auch verwirklichen mag, sie wird nicht so komplex sein wie eine Erleuchtung, die ich in zehn, hundert oder tausend Jahren erlangen könnte. Wenn ich dem nicht zustimme, betrachte ich Erleuchtung nur als Realisierung des Zeitlosen und Ungeborenen, und dann muss ich leugnen, dass der Geist auch die Welt der manifesten Form umfasst, und auf diese Weise haben wir einen sehr dualistischen Geist.

Einige Theoretiker, wie David Deida, haben eine wunderbare Unterscheidung getroffen, die uns hilft, diesen Teil des Problems neu zu formulieren: Leere ist Freiheit, Form ist Fülle. Erleuchtung ist die Vereinigung von Leere und Form, bzw. die Einheit von Freiheit und Fülle. Die Realisierung unendlicher Leere bedeutet frei zu sein von allen endlichen Dingen, die Freiheit von Schmerz, Leiden, Begrenzung, jeglichen Qualitäten ? die Via Negativa, die sich zu transzendenter Freiheit vom Gewussten erhebt, ein Nirvikalpa Samadhi jenseits von Wunsch und Tod, jenseits von Schmerz und Zeit, Verlangen und Bedauern, Angst und Hoffnung, ein zeitloses Dharmakaya des Ungeborenen. Andererseits, wenn Einheit mit der Leere ultimative Freiheit ist, dann ist die Einheit mit der Welt der Form die ultimative Fülle ? Eins-Sein mit dem gesamten manifesten Bereich, eins mit Rupakaya (dem Form-Körper) in all seinem Strahlen, um herauszufinden, dass die Ewigkeit das liebt, was in der Zeit entsteht. Erleuchtung als die Einheit von Leere und Form ist also Erleuchtung als die Einheit von Freiheit und Fülle.

Ich glaube, das ist sehr wahr. Teil A des Problems besteht darin, dass die Fülle sich entwickelt und Voller und Voller und Voller wird, sodass deine Erleuchtung heute weniger und weniger ist als jene von morgen. Und man kann das nicht als wirklich wegdefinieren oder behaupten, dass das nicht zählt, ohne die Nondualität auf grundlegende Weise zu verletzen (indem man behauptet, dass nur die Hälfte der Gleichung wirklich zählt). Dies war kein Problem für die großen Weisheitstraditionen, weil sie nicht wussten, dass die Welt der Form sich entwickelt, sodass dieses Problem nie auf ihren Radarschirmen auftauchte. Für sie hielt die Welt der Form still, aber heute wissen wir, dass sie sich tatsächlich entwickelt, sie entwickelt sich wirklich ? Und so ist die Einheit von Leere und Form auch zugleich irgendwie die Einheit des Ungeborenen und der Evolution.

Es sieht so aus als könnten wir diesen Teil des Problems in den Griff bekommen, indem wir einfach sagen, dass Erleuchtung zu jedem beliebigen Zeitpunkt der Evolution bedeutet, eins zu sein mit der Leere und der Welt der Form. Eins zu sein mit allem bedeutet schlicht, eins zu sein mit allem zu diesem bestimmten Zeitpunkt. So könnte beispielsweise ein Schamane der Tundra eine nichtduale Einheitserfahrung haben und Einssein mit Leere sowie mit der Welt der Form zu diesem Zeitpunkt. Es gab sonst nichts, mit dem man hätte eins sein können, sodass alles zu diesem Zeitpunkt erfasst war, und nur darüber müsste man sich Sorgen machen. Es gab nichts ?Volleres? zu diesem Zeitpunkt, und eins zu sein mit allem würde das mit einschließen. Man kann nicht die ?Einheit? einer bestimmten Zeit mit der ?Einheit? einer späteren Zeit vergleichen, weil es sich dabei um Äpfel und Birnen handelt. Einheit ist Einheit, und das löst das Problem.

Und es löst dieses Problem wirklich, bis man die Ebenen einbringt, die von westlichen Forschern entdeckt worden sind. Das bringt uns zu Teil B des Problems. Teil A können wir mit dem vorigen Absatz in den Griff bekommen, Teil B aber nicht, und es handelt sich dabei um ein Problem das sogar dann sichtbar wird wenn wir die metaphysischen Landkarten der Weisheitstraditionen selbst verwenden. Wenn man ernsthaft beginnt sich mit Teil B auseinander zusetzen, dann lösen sich die gesamten metaphysischen Interpretationen spiritueller Realitäten auf ? nicht die spirituellen Realitäten selbst, aber deren Interpretationen als Metaphysik (und das, meine ich, bringt uns unaufhaltsam zur ?Post-Metaphysik? als einzige Möglichkeit, um spirituelle Realitäten auf einwandfreie Art und Weise in der modernen und postmodernen Welt zu verteidigen).

Die metaphysischen Systeme der großen Weisheitstraditionen beinhalten typischerweise so etwas wie das Große Nest des Seins ? die Beobachtung, dass es tatsächlich Schichten des Wissens und des Seins gibt ? wie die Ebenen von Plotin (welche im gesamten Westen zu den Standard-Ebenen des Neo-Platonismus wurden, von Dionysius bis Eckhart), die Sefirot der Kabbalah oder die acht Vijnanas (acht Bewusstseinsformen) des Mahayana- und Vajrayana-Buddhismus.

Diese Traditionen gingen nun  davon aus, dass das Große Nest des Seins als Ganzes vorgegeben war, deshalb in seiner Gesamtheit in diesem Augenblick existiert, auch wenn Teile davon nicht verwirklicht sind bzw. nicht in unserem Bewusstsein existieren. Und dieses Verständnis ist nicht länger haltbar, wenn wir feststellen, dass das Große Nest sich tatsächlich in gewaltigen astronomischen und geologischen Zeiträumen entwickelt hat. Die unteren vier oder fünf Ebenen vom Großen Nest werden meistens als Materie, Empfindung, Impuls, Emotion, Symbol, Konzept gesehen (wie man sie z.B. in den Skandhas findet). Diese Ebenen entstanden jedoch in über 14 Milliarden Jahren Evolution; Materie entstand mit dem Urknall, Empfindung mit den ersten Lebensformen, Impulse mit den ersten Reptilien, Emotion bei den ersten Säugetieren, Symbole mit den ersten Primaten, Konzepte mit den ersten Menschen ?

Erstaunlich ist, wie genau diese Ebenen erfasst wurden; es ist bloß so, dass sie sich über Millionen und Milliarden von Jahre entfaltet haben.  Mit dieser Tatsache konfrontiert, wäre zur Rettung des Großen Nests der Weisheitstraditionen der einfachste Weg zu sagen, na gut, die Ebenen im Großen Nest entfalten sich tatsächlich über gewaltige Zeiträume hinweg. Wenn dem aber so ist, und wenn Erleuchtung die Einheit von Leere und der gesamten Form ist, dann besteht die einzige Möglichkeit, erleuchtet zu werden darin zu warten, bis die Gesamtheit der Zeit sich entfaltet hat.

Das ist Teil B. Die eigentliche Beschaffenheit von Erleuchtung – und von spirituellen Realitäten im Allgemeinen – verändert sich dramatisch, sobald wir den Teil des voller und voller und voller Werdens in Betracht ziehen. Man kann weiterhin die Leere verwirklichen und absolute Freiheit erlangen, aber auf der Seite der Fülle sind verhängnisvolle Schwächen dadurch in der Verwirklichung und im gesamten metaphysischem System verborgen, dass dieses Problem nicht erkannt wird. Moderne und Postmoderne erkannten das Problem, warfen jedoch die Realitäten über Bord, während sie bloß die metaphysischen Interpretationen der Realitäten hätten loswerden müssen.

Wenn wir dies nun tun, müssen wir zunächst die Ebenen des Wissens und Seins (ob Sefirot, 8 Vijnanas oder Chakren) von prä-existierenden, ontologischen Ebenen der Realität zu Ebenen umwandeln, die sich ihrerseits entwickelt haben. Charles Peirce sprach davon, dass Naturgesetze eher wie natürliche Angewohnheiten sind, und ich stimme ihm zu: Wir nennen sie kosmische Gewohnheiten oder kosmische Erinnerungen, und Entwicklungsebenen sind genau dies. Als sie sich jeweils zum ersten Mal herausbildeten, war ihre Form noch relativ offen und kreativ, als jedoch eine bestimmte Reaktion immer und immer wieder auftrat, wurde sie zu einer kosmischen Gewohnheit, die immer schwerer zu erschüttern war.

Nehmen wir die Werte-Ebenen als Beispiel: Vor etwa 50.000 Jahren war die Werte-Ebene Magenta (magisch-animistisch) so ziemlich das Höchste, das sich in der Menschheit entwickelt hatte. Aber einige hochentwickelte Individuen begannen, in neue und kreative Weisen des Wissens und Seins  vorzustoßen, und sie begannen, von einer höheren Komplexitäts- und Bewusstseinsebene aus zu reagieren. Als immer mehr Individuen sich in ähnlicher Weise verhielten, entstand die rote Werte-Ebene (egozentrisch, Macht) als kosmische Gewohnheit. Je mehr sie gelebt wurde, desto mehr wurde sie zu einer festen Gewohnheit. Um 10.000 v. Chr., als die rote Werte-Ebene das Verhalten der Menschheit beherrschte, begannen einige heroische Individuen mit Verhaltensweisen, die mehr Bewusstsein, mehr Achtsamkeit, mehr Komplexität enthielten ? und die Werte-Ebene Bernstein (absolutistisch) bahnte sich zum ersten Mal ihren Weg.

In der Linie der Weltanschauung beinhaltete der Wechsel von magisch zu mythisch die Erschaffung umfangreicher mythologischer Systeme, die, was immer auch sonst ihre Wirkung war, es vor allem erlaubten, viel komplexere soziale Systeme zu erschaffen. Die magische Ebene konnte lediglich Menschen aufgrund von Blutsabstammung und naher Verwandtschaft sozial vereinigen.  Ohne Blutsverwandtschaft gab es keine Möglichkeit, ein „Wir“ zu erzeugen, und aus diesem Grund konnten auf der magischen Ebene Stämme weder kulturell noch sozial miteinander vereinigt werden. Aber durch den Anspruch, von einem Gott der Werte und des Glaubens abzustammen (statt von einem Gott der Blutsverwandtschaft), kann Mythologie eine große Anzahl von Menschen und nichtverwandten Stämmen vereinigen, wenn diese alle den gleichen mythischen Gott anerkannten: Jeder kann diesem oder jenen Gott anhängen, auch wenn man nicht blutsverwandt ist. Die zwölf Stämme Israels konnten so unter Jehova vereint werden, und die Propheten (zumindest einige von ihnen) brachten bernsteinfarbenes Gesetz und den wahren Glauben zu den umliegenden roten heidnischen Kulturen, und vereinten und schufen so ein Volk unter einem mythischen Gott.

Zu diesem Zeitpunkt der Evolution – vor etwa viertausend Jahren – finden wir also (sehr vereinfacht) folgende Situation: In den Ebenen des Bewusstseins (Ebenen des Wissens und Seins, welche die Theoretiker des Großen Nestes als vorgegeben und unabänderlich annahmen) hatten Menschen sich vom archaischen Affen zu magenta Magie zu roter Macht zu bernsteinfarbener mythischer Zugehörigkeit entwickelt. Alle diese vier Ebenen des Bewusstseins in verschiedenen Linien standen nun den Menschen zur Verfügung  (weil jeder auf Feld 1 geboren wird und sich anhand dieser nun ?vorgegebenen?  Ebenen entwickelt, vorgegeben nur, weil sie zu kosmischen Gewohnheiten geworden sind). Und ein paar wenige heroische Seelen würden zu Orange vorstoßen und darüber hinaus. Aber keine dieser Ebenen sind platonische Gegebenheiten; sie sind keine prä-existierenden ontologischen Strukturen in irgendeinem für alle Zeiten festgelegten Großen Nest; sie entwickelten sich und wurden durch Faktoren in allen vier Quadranten bestimmt, als sie im Laufe der Zeit zu kosmischen Gewohnheiten der Menschheit wurden; Gewohnheiten, die allen zukünftigen Menschen zur Verfügung stehen ? diese Werteebenen wurden tatsächlich allen zukünftigen Menschen als tief verwurzelte Gewohnheiten weitergereicht, festgelegt für alle möglichen Zwecke, wodurch diese sich entwickelnden Ebenen einem Theoretiker des Großen Nests definitiv als ewig festgelegt erscheinen mussten. Kein metaphysisches Gepäck ? keine Archetypen, keine ontologischen Ebenen der Realität, keine unabhängigen Ebenen des Seins, die herumliegen und darauf warten, von Menschen erkannt zu werden ? nichts davon ist notwendig, um zu den gleichen Ergebnissen zu kommen und die Existenz dieser ?festgelegten? Ebenen zu erklären.

Zu dieser Zeit (vor viertausend Jahren) gab es für Menschen auch die Zustände des Wachseins, Träumens und des traumlosen Tiefschlafs, welche als Gipfelerfahrung in verschiedenen Formen der Mystik erfahren werden konnten ? Naturmystik, Gottheitsmystik, formlose und nonduale Mystik. Obwohl diese Zustände allgegenwärtig sind,dürfte sie  die Menschheit als Gesamtes  in der gleichen Reihenfolge gemeistert zu haben,  wie Meditierende dies heute tun: Eine Bewegung von der Versenkung im äußerlichen Grobstofflichen (Heidentum) zu Gottheitsmystik (aufsteigend und transzendental) zum formlosen Abgrund (die Achsen-Zeit) bis zum immerwährenden Nichtdualen. Im Unterschied zu Strukturen gibt es jedoch in der Reihenfolge von Zuständen viel Spielraum, und einzelne Menschen können in allen Zuständen in unterschiedlichem Ausmaß Gipfelerfahrungen erleben. Während der großen mythischen Zeitalter (Bernstein) auf der Erde erforschte die Menschheit als Ganzes die himmlischen Bereiche der subtilen Traumwelt: Die Menschheit bewegte sich nicht bloß strukturell von roten Stämmen (Macht) zu Gesellschaften mit mythischer Mitgliedschaft (Bernstein), ihre am weitesten entwickelten religiösen Führer bewegten sich von Zuständen heidnischer Naturmystik zu innerlicher Gottheitsmystik und prophetischer Vision, zu einer Begegnung mit einer kreativen, leuchtenden Quelle, die nicht von dieser Welt war (auch wenn höhere Zustände gelegentlich verfügbar waren).

Wir machen hier eine Pause und erinnern uns, wovon wir ausgegangen sind: Wie können wir Erleuchtung so definieren, dass siein dieser vergangenen Zeit Sinn macht? Würde Erleuchtung überhaupt in einer Zeit existieren, in der die Menschheit strukturell zutiefst ethnozentrisch war (Bernstein)? Wenn ja, was würde Erleuchtung beinhalten? Und wenn wir eine Definition von Erleuchtung finden wollen, die für jenes Zeitalter funktioniert, können wir sie dann auch für die heutige Zeit glaubhaft verwenden?

Erinnern wir uns an die allgemeine Definition von Erleuchtung als die vollständige Verwirklichung der Einheit von Leere und der gesamten Form. Viele spirituelle Erfahrungen von geringerer Tiefe sind möglich; unter ?Erleuchtung? wollen wir jedoch von nun an die äußerste Grenze der vollständigsten und höchsten spirituellen Verwirklichung verstehen.

Wie können wir also vor diesem Hintergrund ?Erleuchtung? definieren? Ich schlage folgendes vor: Erleuchtung ist die Verwirklichung der Einheit mit allen Zuständen und allen Strukturen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt existieren.

Stabilität in der kausalen Leere ermöglicht zu jedem Zeitpunkt Freiheit; die Welt der Form entwickelt sich jedoch, keinesfalls nach einem vorgegebenen Plan, sondern als kreativer evolutionärer Prozess. Diesen Vorgang können wir sicherlich sehen als Sport und Spiel von GEIST (Spirit) (und ich glaube, dass es sich tatsächlich so verhält, was uns vom wissenschaftlichen Materialismus in verschiedensten Ausprägungen entfernt), aber die ?Ebenen im Großen Nest? existieren nicht mehr als vorgegeben, und das ist auch gar nicht notwendig, um zum gewünschten Ergebnis zu gelangen. Die Welt der Form entwickelt sich, und für die Einheit mit dieser Welt ist es erforderlich, dass einzelne Menschen sich jeweils bis zu den höchsten Ebenen entwickelt haben, die zu diesem Zeitpunkt existieren. Ontologisch gesprochen existiert nichts Höheres.

Aber ein Mensch kann vollständige Einheit nur verwirklichen, wenn er oder sie sich nicht nur durch alle Strukturen, sondern auch durch alle gegebenen Zustände hindurchbewegt. Eine erleuchtete Person ist zu jedem gegebenen Zeitpunkt daher jemand, der sich biszu den höchsten Ebenen entwickelt hat, die zu genau diesem Zeitpunkt im Kosmos vorhanden sind, und sich durch die gebebenen Zustände hindurch bewegt hat (d.h., Achtsamkeit in alle Zustände gebracht hat, vom Grobstofflichen zum Subtilen zum Kausalen zum Nichtdualen).

Der allgemeine Umriss dieser Definition von Erleuchtung funktioniert sehr gut für die Erklärung der ?gleitenden Skala? evolutionärer Erleuchtung: Die Leere bleibt dieselbe – zeitlos, ungeboren, nicht manifest, unsterblich – aber die Form entwickelt sich immer weiter, und Erleuchtung bedeutet, mit beidem eins zu sein, eine Einheit, die auf der Seite der Form – voller und voller und voller – Ebenen im Kosmos beinhaltet, die nicht als platonische Archetypen, sondern als sich entwickelnde Formen angelegt wurden, Formen, welche, wenn sie einmal angelegt werden, tatsächlich so erscheinen, als wären sie für alle Ewigkeit als prä-existierende ontologische Strukturen gegeben, dabei sind sie im Grunde kosmische Gewohnheiten.

Um also auf das mythische Zeitalter (Bernstein) in unserem vereinfachten Beispiel zurückzukommen: Um mit der Welt der Form eins zu sein (die Seite der Fülle in unserer Gleichung), womit genau müsste ein spiritueller Mensch Eins sein – was beinhaltet „Eins mit der gesamten Form“ in dieser Zeit? In der Welt der Form existieren nun vier Ebenen des Wissens und Seins, die gegeben und als kosmische Gewohnheit fixiert sind (Infrarot, Magenta, Rot, Bernstein). Diese Ebenen sind nun tatsächliche Strukturen im Kosmos, und um eins zu sein mit der Gesamtheit der Form, muss ein Mensch daher in seiner eigenen Entwicklungalle diese vier Ebenen transzendieren und bewahren,  er oder sie muss sich von der archaischen zur magisch-animistischen zur roten (Macht) zur bernsteinfarbenen mythischen Struktur bewegt haben (und dabei diese Subjekte in Objekte verwandelt haben, welche im Bewusstsein ?transzendiert und bewahrt? sind). Damit hätte sie oder er tatsächlich die gesamte Welt der Form in ihrem eigenen Sein transzendiert und einbezogen – es gibt nirgendwo höhere Ebenen, die darauf warten, aus einem platonischen Himmel herunterzufallen –  und so könnte, zumindest was diese Variable angeht, eine perfekte Einheit tatsächlich erreicht werden.

Wie sieht es mit der Variablen „Zustände“ aus? Wenn ein Mensch Wachsamkeit vom Grobstofflichen in den subtilen, kausalen und nondualen Zustand gebracht hat, so dass diese Zustände zu einem gewissen Grad gemeistert wurden (wobei Subjekte zu Objekten verwandelt wurden, welche dann in Achtsamkeit oder Bewusstsein enthalten sind), dann kann sie oder er auch die Einheit mit allen diesen Welten der Phänomene verwirklichen. Wenn beides erfüllt ist, dann gibt es im gesamten Kosmos keine höheren Ebenen oder Strukturen oder Bereiche? diese Person hätte buchstäblich, in jedweder Bedeutung des Worts, eine Einheit mit dem gesamten Kosmos verwirklicht, sowohl mit der Leere wie auch mit der Form in allen Ebenen. Diese Person wäre vor viertausend Jahren so tief erleuchtet wie Erleuchtung nur möglich ist.

Zu beachten ist, dass dieser Mensch zutiefst ethnozentrisch wäre. Er oder sie hätte gar keine Wahl; es gibt keine weltzentrischen (oder postkonventionellen) Strukturen, die irgendwo im Kosmos schon entwickelt wären. Ganz gleich, wie tief verwirklicht und wie sehr alle Ebenen und Zustände gemeistert wären, diese Person würde nicht anders können als zu glauben, dass Rettung nur für ein ausgewähltes Volk existiert, oder eine Klasse, oder ein Geschlecht, oder auf nur einem bestimmten Weg erreichbar ist.

Etwa um 1000 v. Chr. begann die nächste große Ebene des Bewusstseins – Orange – sich abzuzeichnen als kreative Antwort auf Probleme, die von Bernstein nicht gelöst werden konnten. (Das Ergebnis dieser Evolution kann, wie auch Evolution ganz allgemein, als die Kreativität von GEIST (Spirit) gesehen werden, der sich selbst als AQAL manifestiert.) Indem Orange zu einer kosmischen Gewohnheit wurde, bzw. die kreativ emergierenden Entscheidungen der Menschheit sich angesichts neuer Herausforderungen verfestigten, bewegte sich die Menschheit als Ganze in der Meisterung der Zustände vom subtil Traumhaften in das kausal Formlose. Die Verbindung weltzentrischer Strukturen mit dem Zugang zum kausalen Zustand verursachten eine weltweite Explosion im Bewusstseinswachstum, im Allgemeinen bekannt als die große Achsenzeit. In der Welt dieser Zeit (ca. 6. Jahrhundert v. Chr.) findet man zum ersten Mal nicht nur Menschen, die weltzentrische oder postkonventionelle Moral befürworten, sondern auch Weise, die beginnen, von einem unendlichen kausalen Abgrund zu sprechen, oder von einem Nirwana, vollkommen frei von Leid dieser samsarischen Welt, oder die Behauptung, dass die individuelle Seele und Gott eins sind in der Gottheit (?Ich und mein Vater sind Eines?). Dies alles waren für die Menschheit neue und erstaunliche Erkenntnisse auf dem Weg ihrer kreativen Evolution.

Schnitt zum heutigen Tag, wo zwei oder drei neue, große, universelle Strukturen seit der Achsenzeit niedergelegt wurden. In der heutigen (westlichen) Welt befindet sich etwa 40% der Bevölkerung in Bernstein, etwa 50% in Orange, 20% in Grün und 2% in Türkis. [ergibt 112 %!]  Existieren Ebenen, die noch höher sind? Nicht Zustände, sondern Struktur-Ebenen? Die Antwort scheint positiv zu sein, es gibt vermutlich mindestens drei oder vier Ebenen, die höher sind als Türkis. Auch bei diesen handelt es sicht nicht um prä-existierende ontologische oder metaphysische Strukturen, die bereits irgendwo existieren, sondern um erste provisorische Strukturen, die von hoch entwickelten Seelen bei der Erforschung von Neuland angelegt werden ? und sie erschaffen diese Strukturen, indem sie dies tun (dies ist immer der Fall bei Strukturen;  sie werden tetra-entwickelt, wie wir sagen). Ich habe einige dieser höheren Ebenen in Abbildung 6 in der kognitiven Linie aufgeführt; jenseits von Schau-Logik oder dem Höheren Mind haben wir Global-Mind, Meta-Mind, Over-Mind und Super-Mind, und zweifelsohne entstehen noch weitere. In der Linie des Selbst hat Susann Cook-Greuter die ersten beiden dieser höheren Ebenen erforscht, und sie vorläufig ?konstrukt-bewusst? und ?ego-bewusst? genannt. Dies sind permanente strukturelle Kompetenzen, nicht Zustände.

Wenn wir diese Struktur-Ebenen als kosmische Gewohnheiten betrachten dann gilt: je älter die Ebene, desto tiefer ist sie dem Kosmos eingraviert. Ich benutze die Analogie des Grand Canyon; dieser ist so alt, dass er mehrere Kilometer tief ist. Das entspräche der Ebene Rot, welche vor etwa 50.000 Jahren begann und eine sehr tiefe Spur im  Kosmos eingegraben hat. Bernstein begann vor etwa 10.000 Jahren und entspräche einem Canyon von etwa 500 Metern Tiefe. Orange begann in der Achsenzeit, hatte aber seine Blütezeit in der Aufklärung des Westens, und ist vielleicht 100 Meter tief. Grün, erst ab den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in signifikantem Maße in der Bevölkerung vertreten, ist nur zehn Meter tief. Türkis wird gerade erst angelegt und ist vielleicht nur einen Meter tief.  Die Strukturen jenseits von Türkis ähneln Spuren, die von Menschen mit Stöcken im Boden gezogen werden, in ihrem Bemühen, neue kosmische Gewohnheiten im Universum zu erschaffen. Indigo ist vielleicht drei oder vier Zentimeter tief, und Ultraviolett nur wenig mehr als ein Kratzer auf der Oberfläche unseres ursprünglichen Gesichts ?

Was würde also Erleuchtung in der heutigen Welt bedeuten? Welches sind die höchsten im Kosmos verfügbaren Zustände und Ebenen? Es würde bedeuten, zumindest Indigo in den Linien Kognition und Selbst sowie den nondualen Zustand zu meistern (was den Zugang zu den grobstofflichen, subtilen und kausalen Zuständen mit einschließt). Es existieren viele weitere Arten von Verwirklichung, manche davon sehr tiefgehend. Aber „vollständige Verwirklichung“ oder „Erleuchtung“ würde beinhalten, mit allen Zuständen und Ebenen, welche zu einem gegebenen Zeitpunkt existieren, eins zu sein, und das bedeutet heute: Mindestens auf der Höhe von Indigo und nonduale Zustände.

Beachten Sie, dass jemand, der heute auf der Ebene Bernstein (mythische Zugehörigkeit) die grobstofflichen, subtilen, kausalen und nondualen Zustände gemeistert hat (Anu und Ati Yoga eingeschlossen), nicht voll erleuchtet sein würde oder sein könnte.

Die Struktur, mit der man vor 4000 Jahren voll erleuchtet gewesen wäre, ist es heute nicht mehr. Ein Mensch auf der Stufe der mythischen Zugehörigkeit heute ist nicht länger eins mit der Gesamtheit der Form, weil es oberhalb des Horizonts von Bernstein inzwischen die Strukturen Orange, Grün und Türkis gibt. Diese sind nun reale, ?ontologische?, tatsächlich existierende Strukturen im Kosmos, so real und vorhanden, als ob sie platonische ewige Gegebenheiten wären, und wenn ein Mensch diese Ebenen nicht in der eigenen Entwicklung transzendiert und einbezogen hat, dann gibt es einen großen Bereich der Realität, mit dem dieser Mensch (z.B. auf der Ebene Bernstein) nicht eins ist. Sogar, wenn sie nonduale Zustände als perfekte Einheit von Leere und Form meistern, gibt es immer noch Aspekte der Form, welche nicht in der Welt dieser Person vorkommen, und deshalb ist das Satori dieser Person eine Einheit mit einer partiellen Welt genauso, wie wir es hier erklärt haben.

In der mythischen Zeit (Bernstein) hingegen war diese gleiche Verwirklichung die Einheit mit der gesamten Welt und zählte daher als volle Erleuchtung. Damit erfüllt diese Definition von Erleuchtung alle Anforderungen, von denen wir ausgegangen waren, Anforderungen die durch A und B von Teil 2 des Gordischen Knotens hervorgerufen waren (obwohl ich, wenn ich ehrlich bin, inzwischen vergessen habe, was 1 und 2 und A und B eigentlich bedeuten. Aber ich werde sicherstellen, dass alles zusammenpasst).

Aber ich glaube, Sie verstehen, worum es mir geht: Wir begannen mit einer Handvoll extrem subtiler Probleme, die durch Evolution in der Welt der Form verursacht waren. Wir haben entdeckt, dass nur ein post-metaphysischer Ansatz zu einer Lösung führt; und wir haben gesehen, dass es eine Definition von Erleuchtung gibt, die sich in einer bedeutsamen Weise verschiebt und auf diese Weise sowohl die zeitlose, unveränderliche, immer-präsente Leere des großen Ungeborenen ehrt, wie auch die zeitliche Evolution der immer voller und volleren Welt der Form. Verwirklichung heute ist nicht freier als die vom Buddha (Leere ist Leere), aber sie ist voller als die Buddhas (und wird in Zukunft immer voller sein) – und dennoch sind die Buddhas von vor 2000 Jahren und die Buddhas von heute gleichermaßen erleuchtet in jedweder bedeutsamer Definition von Erleuchtung. (Aber ein 2000 Jahre alter Pfad ist, mit dem gleichen Maßstab gemessen, nicht länger ein Träger von Erleuchtung heute.)

Und nichts davon macht metaphysisches Gepäck in der Art des Großen Nest des Seins erforderlich. Alle ontologischen prä-existierenden Ebenen des Wissens und des Seins ? von den acht Vijnanas des Yogachara bis zu den Sefirot der Kabbalah – die sowohl von der Moderne und Postmoderne völlig verwüstet wurden –  werden einfach nicht mehr benötigt. (Wir können die Essenz von jeder dieser Ebenen generieren, jedoch auf komplett post-metaphysische Weise). Kant hat in einer Argumentation, die sowohl von der Moderne wie von der Postmoderne auf verschiedene Weise akzeptiert wurde, deren ontologische Referenzpunkte zerstört ? zurecht ? und hat die Forderung nach der Existenz eines Welt-Raums aufgestellt – auf der epistemologischen Grundlage dieses Raums, und eine AQAL-Post-Metaphysik macht genau das. Diese „post-kantianische“ Post-Metaphysik ist mit großer Sicherheit der einzige Zugang zu einer spirituellen Philosophie in der modernen und postmodernen Welt.

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