Der Schatten evolutionären Denkens

Psychologie / Therapie

Der Schatten evolutionären Denkens

Ken Wilber

Einleitung der IntegralesLeben Redaktion

Der vielleicht bedeutendste Beitrag, den das Integrale zum Zen beitragen kann, ist die Positionierung des Zen in einem evolutionären Kontext. Während aktuelle Studien (wie die von UCL Professor Steve Jones) nahezulegen scheinen, dass die menschlich-biologische Evolution sich verlangsamt, scheint sich die Evolution unserer Innerlichkeit – unsere psychologische, kulturelle und spirituelle Evolution – zu beschleunigen. Es ist sehr zweifelhaft, dass die menschliche Spezies Flügel, zusätzliche Gliedmassen oder weitere Gehirnlappen entwickeln wird, der Schwerpunkt der Evolution scheint sich von der Gestaltung physisch-biologischer Materie zu den weitgehend unsichtbaren Welten von Bewusstsein und Kultur hin zu verlagern. 

Der menschliche Fortschritt der zurückliegenden 20.000 Jahre war weniger ein genetischer Fortschritt, sondern mehr ein Fortschritt und eine zunehmende Vertiefung sich entfaltender subjektiver Perspektiven, Werte und Weltsichten, mit großen Entwicklungssprüngen hin zu mehr Fürsorge, Mitgefühl und Verständnis. Indem wir die kulturelle und psychologische Entwicklung von spirituell Praktizierenden, Lehrern und Gemeinschaften verfolgen, können wir erkennen, wie unterschiedliche spirituelle Erfahrungen auf den verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Evolution interpretiert werden, was zu einer umfassenderen Sicht auf das Menschsein – und damit wiederum zu einem tieferen Verständnis unserer Spiritualität führt. 

Unglücklicherweise ist evolutionäre Spiritualität nicht immun gegenüber Gier, Ehrgeiz und Machtstreben. Man braucht sich nur an das heimtückische Zusammentreffen einer religiösen Esoterik mit der wissenschaftlichen Revolution am Beginn des 20sten Jahrhunderts zu erinnern, auf deren Grundlage die Nazis ein ganzes Volk vernichteten. Diese Ideologie wurde getragen von der fürchterlichen Vorstellung, dass die Evolution eine höherwertige Rasse „auserwählter Menschen“ hervorgebracht hat, und die Nazis sahen es als ihre Pflicht an, ihre unwiderlegbare Dominanz gegenüber einer weniger weit entwickelten Welt zu etablieren. Dies war ein im Namen von Darwin verübter industrieller Genozid.

Es scheint so zu sein, dass viele der faschistischen Bewegungen der jüngeren Vergangenheit sich allesamt auf eine Art von evolutionärer Rechtfertigung gründeten. Es ist nicht schwer, sich ein (be)trügerisches evolutionäres Schema auszudenken, bei man sich selbst, die eigenen Leute, und die eigenen Glaubensvorstellungen ganz oben auf der Entwicklungsleiter platziert, und damit jegliche Grausamkeit rechtfertigt, ohne auch nur das geringste Mitgefühl dabei zu empfinden. Fügt man dieser Mischung noch etwas spirituellen Fanatismus hinzu, dann wird Gewalt zu etwas sehr Wahrscheinlichem. 

Worin besteht also der Unterschied zwischen Hitlers evolutionärer Sicht und der von Ken Wilber? Auch der integrale Ansatz weist auf eine psychologische und kulturelle Entwicklungsabfolge hin, bei der sich Menschen in Stufen von archaisch zu magisch zu mythisch zu rational zu pluralistisch zu integral entwickeln. Ken wurde dabei für genau das kritisiert, was wir in diesem Aussatz auch kritisieren, er wurde dafür kritisiert ein Modell vorzulegen, das das Integrale an die Spitze der Entwicklung stellt. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als würde das Integrale sehr leicht von einem 2nd tier Äquivalent eines Hitler übernommen werden können, mit einer rigiden sozialen Hierarchie und einem entwicklungspsychologischen Kastensystem – eine totalitäre Bewegung von Spiral Dynamics zu Spiral Dynamit zu einer Spiral Dynastie.

Der vielleicht bedeutendste Schutz gegenüber einer derartigen Darwin’schen Diktatur ist die Beobachtung, das mit der Zunahme des menschlichen Bewusstseins auch Fürsorge, Mitgefühl und Verständnis zunehmen – was bedeutet, dass je entwickelter wir sind, desto mehr kümmern wir uns um genau diese Fragestellungen und Probleme. Empathie ist damit eingewoben in das Gewebe evolutionärer Entfaltung, und der Radius unseres Mitgefühls erweitert sich mit jedem Schritt und jeder Stufe auf der Wendeltreppe des menschlichen Potenzials.

Wahre integrale Verkörperung verhindert, dass die höheren Leitersprossen die niederen Leitersprossen beherrschen, oder sie sogar zu eliminieren versuchen – ein Charakteristikum der traditionellen, der modernen und der pluralistischen Weltsichten, was jedoch immer schwieriger wird, je integraler unsere Gedanken und Werte werden. Höhere Entwicklungsstufen schätzen – und verneigen sich vor – der gesamten Abfolge menschlicher Entwicklung. Integrale Menschen und Gemeinschaften haben ein Auge auf soziale Hierarchien, die versuchen, autokratische Impulse aufzunehmen, und haben gleichzeitig ein Verständnis dafür, woher diese Impulse kommen. Sie unterscheiden zwischen „Herrschaftshierarchien“ und „Wachstumshierarchien“, und jeder hat dabei das Recht, sich auf der Entwicklungsleiter so weit nach oben zu entwickeln wie der oder die das möchte, inspiriert durch das unerschöpfliche Potenzial im Zentrum eines jeden Herzens, und lediglich begrenzt durch soziale Umstände, Selbsttäuschung, und den Horizont menschlichen Vorstellungsvermögens. 

Die Leere bleibt von diesem Debakel der Formen für immer unberührt, mit einem gleichmütigen Lächeln für jedes Kräuseln auf der Oberfläche ihres Glanzes.

Aus dem Dialog

Frage: Wie können wir bei unseren hohen Zielen gegenüber der Evolution verhindern, dass daraus ein spiritueller Faschismus wird, wo wir alles gemäss unseren Ansichten zurechtbiegen, und alles, was wir nicht mögen oder was unserer Meinung nach nicht entsprechend entwickelt ist, weglassen?

KW: Das ist die Schattenseite von evolutionärem Denken. Jede Gedankenform existiert in der Welt der Manifestationen und ist daher bis zu einem gewissen Grad dualistisch und hat daher auch ihr Schattenelement, wie jede Form des Denkens. Was beim evolutionären Denken speziell problematisch ist, ist das, was du erwähnst, die Tendenz zu faschistischem Denken.Viele der faschistischen Organisationen haben, wenn auch sehr verdreht, irgendeine Art einer evolutionären Philosophie, bei der sie selbst jeweils ganz oben auf der Entwicklungsskala stehen …

Frage: Ich habe kürzlich etwas über den Warschauer Zoo während der Nazizeit gelesen, und dass die Nazis an ganz bestimmten Tieren dort interessiert waren, die ihren Vorstellungen von Evolution entsprachen.

KW: Das ist eine weitere Manifestation dieses Schattenelementes von evolutionärem Denken. Es gibt jedoch ein eigenartiges und interessantes Selbst-Korrektiv dabei. Je höher die Entwicklungsebene, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich genau dieses Problems bewusst wird und sich darum kümmert. Nehmen wir als Beispiel die moralische Entwicklung von egozentrisch zu ethnozentrisch zu weltzentrisch, dann machen sich auf der weltzentrischen Entwicklungsstufe die wenigen Menschen, die diese Stufe erreichen, Gedanken über diejenigen, die diese Ebene noch nicht erreicht haben, weil der weltzentrische Ansatz niemanden ausschließt. Diese Einschließlichkeit oder Inklusion ist genau das Denken, das niemanden ausschließt, nur weil er einem aus irgend einem Grund missfällt; etwas, das die unteren Entwicklungsebenen nicht tun. Die Egozentrik schließt alle aus, außer einem selbst: „Nur ich bin wirklich wer, alle anderen sind nichts wert!“ Auf der ethnozentrischen Bewusstseinstufe ist nur meine (religiöse oder politische A.d.Ü.) Gemeinschaft gerettet, und alle anderen Gruppen sind minderwertig, sie werden in der Hölle landen. Ich kann daher mit ihnen machen, was ich möchte. Doch auf der weltzentrischen Stufe sind wir hier alle zusammen und verbunden, und auch wenn es dabei ein Verständnis von Entwicklung gibt, wird der faschistischen Schattenseite davon der Boden entzogen. Der Schatten wird hinterfragt und damit gibt es ein Selbstkorrektiv, was das Auftreten des Schattens weniger wahrscheinlich macht. Das ist eines der wenigen Arten von Schatten, die ein sich selbst korrigierendes Element enthalten. Das bedeutet nicht, dass damit automatisch alles gelöst wäre, doch die Wahrscheinlichkeit dafür ist geringer …

(Quelle: Integral Life, Integral Zen, The Shadow of Evolution, Diane Musho Sensei und Ken Wilber)

(aus: Online Journal 26)

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