Krankheit – biologisch und kulturell

Gesundheit / Medizin

Krankheit – biologisch und kulturell

Zwei Wege zur Interpretation von Gesundheit

Ken Wilber

Einleitung der IntegralLife Redaktion

Ken erzählt uns von seiner bewegenden Liebe zu Treya, seiner Frau, die an einer hochaggressiven Form von Krebs starb, welche kurz nach ihrer Hochzeit mit Ken diagnostiziert wurde. Während des Kampfes mit diesem Krebs erfuhr Ken zwei ganz unterschiedliche Arten wie Menschen Gesundheitsprobleme interpretieren, die er mit dem Worten illness und sickness bezeichnet. Illnes bezieht sich auf den physiologischen Zustand einer Erkrankung, wie beispielsweise einer Immunschwäche, und sickness bezeichnet die kulturellen Interpretationen der illness (d. h. all unserer Glaubensvorstellungen darüber, einschließlich Sexualität und Geschlecht, Rasse, Gesellschaftsschicht, Werte usw.) Oft ist die sickness dabei schlimmer als die illness.

Frage: In einem ihrer Bücher machen Sie einen Unterschied zwischen den Krankheitsbegriffen „disease“ und „illness“. Können Sie dazu etwas sagen?

KW: Ja. Die Worte habe ich seitdem etwas verändert [statt „disease“ „sickness“], so dass ich nicht mehr genau die gleiche Definition verwende wie ich sie im Buch verwendet habe, aber ich möchte zusammenfassen, worum es dabei geht.

Dies bezieht sich auf die Krebserkrankung von Treya, und für diejenigen, die mit dieser Geschichtenicht vertraut sind: 1984 lernte ich eine Frau namens Treya kennen, Roger und Frances Vaughan hatten uns einander vorgestellt. Wir verliebten uns sofort ineinander, und ich machte ihr einen Heiratsantrag zehn Tage nachdem wir uns kennengelernt hatten, und sie sagte „ja“. Wenige Monate danach heirateten wir, und eine Woche nach unserer Hochzeit wurde bei Treya Brustkrebs diagnostiziert. Wir verbrachten die darauffolgenden fünf Jahre, und praktisch unsere gesamte gemeinsame Zeit, mit dem Kampf gegen diese Krankheit. Treya starb 1989. Ihr Tod war das strahlendste Ereignis, das ich jemals erlebt habe. Sie ging in einem radikal verwirklichten Zustand aus diesem Leben, ein Zustand, der jeden Menschen in ihrer Umgebung veränderte, und ganz sicher mich verändert hat. Im Verlauf ihrer Krankheit wurden uns in sehr kurzer Zeit eine Reihe von Lektionen erteilt hinsichtlich dessen, wie eine Gesellschaft Krankheiten betrachtet. In dem Buch Mut und Gnade, das ich über unser Martyrium geschrieben habe, schrieb ich in einem Kapitel über die konkrete biologische Komponente einer Krankheit, und das bezeichnete ich als illness, und das ist der obere rechte Quadrant. Ein Knochen ist gebrochen, eine Niere funktioniert nicht, ein Tumor wächst, alles Dinge, die man sehen und biologisch feststellen kann, biologische Fakten im oberen rechten Quadranten. Im unteren linken Quadranten finden wir demgegenüber, wie eine Gesellschaft eine Krankheit, die jemand hat, betrachtet. Und das bezeichne ich [jetzt], um es unterscheiden zu können, als sickness. Bei jeder gesundheitlichen Komplikation hat man also beides, sickness und illness. Bei manchen Erkrankungen, einer Erkältung beispielsweise, spielt das keine große Rolle, doch dann gibt es ein ganzes Spektrum von Krankheiten, wo eine illness Ängste hervorruft, was erst einmal weder gut noch schlecht ist – biologische Fakten sind biologische Fakten, Frösche, Berge, Flüsse sind weder gut noch schlecht, sie sind das, was sie sind. Die Erkrankung ruft eine Reaktion in uns hervor, sie löst Ängste aus, macht Probleme und bringt Schattenelemente hervor, und dies „lädt“ dann diese Krankheit mit Dingen, die Angst machen, und die illnes wird so zu einer sickness. Die Behandlung der illness von Treyas Krebs nahm durchschnittlich ein paar Stunden jeden Monat in Anspruch. Doch der Umgang mit der sickness des Krebs war ein Vollzeitjob für uns. Wir hatten es dabei mit den Aussagen von Jedermann darüber zu tun, was diese Erkrankung bedeutet. Wir wurden von Menschen mit den besten Absichten bombardiert mit Erklärungen, warum Treya an Krebs erkrankt war. Die Standardlitanei dabei war: „Oh, du bist nicht offen genug, du musst dich für deine Gefühle mehr öffnen, diese Erkrankung will dich etwas lehren“, usw. In all dem steckt auch ein Körnchen Wahrheit, die sich auf den oberen linken Quadranten bezieht, und natürlich wussten wir, dass psychologische Faktoren dazu auch einen Beitrag leisten. Doch dieser Beitrag war sehr gering im Verhältnis zu den persönlichen Geschichten, die andere daraus machten. Was Leute daraus machten war, dass 100% dieser Erkrankung durch die eigene psychologische Haltung verursacht worden war, nach dem Motto„wo keine Liebe ist, entsteht Krankheit“. Dies wurde uns mit den besten Absichten gesagt, doch das kann auch zutiefst in die falsche Richtung gehen und oft zu einem Machttrip werden. „Ich habe Angst vor dem, was du hast, also muss ich dem ein Etikett verpassen, um Abstand davon zu bekommen und damit auch Sicherheit.“ Treya und ich waren beide, was psychologische Theorien angeht, keine Anfänger, und wir betrachteten das alles als eine Meditation darüber, was geschehen kann und wie etwas geschieht, und das waren ganz außerordentliche Lektionen, die wir dadurch erhielten.

Der mit Abstand schwierigste Teil dieses Martyriums war, wie ich schon sagte: Die Behandlung der eigentlichen illnes nahm ein paar Stunden jeden Monats in Anspruch, der Umgang mit der sickness beanspruchte uns 24 Stunden jeden Tag. Jeder hatte eine Theorie darüber, und diese Theorien widersprachen sich gegenseitig. Ich hatte damals die Vorstellung, eine Konferenz darüber abzuhalten, warum Treya krank war, und die Leute mit ihren unterschiedlichen Meinungen aufeinander loszulassen und mir das anzuschauen. Wenn man sich das anschaut, werden einem zwei Dinge klar: Wie sehr Menschen lieben und helfen wollen, und wie sehr Menschen – wir alle –  Angst haben, und sich zusammenziehen[1]. Illnes steht also für das, was ist, ein gebrochener Knochen ist ein gebrochener Knochen. HIV ist eine virale Infektion. Doch stellen wir uns einmal die Situation vor 20 Jahren vor, und jemand hat HIV in einer bestimmten Kultur, dann ergibt das eine sickness mit beängstigenden moralischen Dimensionen.

Wenn bei einer Krankheit die eigentliche Ursache nicht verstanden wird oder noch nicht bekannt ist, dann ist das die Gelegenheit für Projektionen. Nehmen wir die Tuberkulose als ein Beispiel. Vor der Entdeckung des Tuberkuloseerregers kannte man den Grund für Tuberkulose nicht, und es gab damals Theorien über einen schwindsüchtigen Persönlichkeitstyp als einer Tuberkuloseursache . Einer der wahrscheinlich größten existentiellen Psychologen Amerikas war Rollo May[2]. Er hatte 13 Jahre lang Tuberkulose, und war auf eine theistisch-existentielle Weise mit dem Thema Leben und Tod konfrontiert. Wenn man sich als ein westlicher Denker mit einem theistischen Existentialismus beschäftigt, dann ist das wahrscheinlich die größte Annäherung an eine der Weisheitstraditionen, die man erreichen kann. Paul Tillich[3] war ein theistischer Existentialist wie auch Rollo May, und aus dem Kampf mit seiner Krankheit wusste er, dass dies nicht etwas war, was er auch sich heraus verursacht hatte, auch wenn die Gesellschaft versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er daran Schuld war. Das war sehr schwierig damit klar zu kommen, und es ist immer noch schwierig. Treya ist damit auf eine außerordentliche Weise umgegangen, wie ich sie sonst nur von großen spirituellen Lehrern kenne. Ihre Fähigkeit damit umzugehen war einzigartig. Jedem der krank wird, kann ich nur empfehlen, die illness schnell zu kurieren, um dem Bombardement der sickness zu entgehen.

Welche Hilfe hilft wirklich? – 3 Zitatstellen

1. Treya Wilber[4] in Mut und Gnade[5], S. 280

Vor fünf Jahren saß ich einmal mit einem alten Freund beim Tee am Küchentisch, und er erzählte mir, er habe vor einigen Monaten erfahren, dass er Schilddrüsenkrebs hat. Ich erzählte ihm von meiner Mutter, die vor fünfzehn Jahren wegen Dickdarmkrebs operiert worden war und seitdem wohlauf ist. Ich legte ihm auch die Theorie dar, die meine Schwestern und ich über die Gründe für ihre Krebserkrankung entwickelt hatten. Es kamen einige zusammen, aber unsere Lieblingstheorie war wohl die, dass sie zu sehr die Frau meines Vaters und zu wenig sie selbst gewesen war … Im Laufe der Jahre hatten wir uns ziemlich häuslich eingerichtet in unseren Theorien und Geschichten über dieses traumatische Ereignis. Mein Freund sagte nun etwas, was mich wirklich aufrüttelte. „Siehst du eigentlich, was du da tust?“ fragte er. „Du behandelst deine Mutter wie einen Gegenstand, um den man Theorien spinnen kann. Die Theorien anderer Leute über dich können sich für dich selbst ziemlich brutal anfühlen. Ich weiß das, denn für mich waren die Ideen, mit denen meine Freunde daherkamen, eine glatte Zumutung, eine zusätzliche Belastung. Diese Ideen sehen nicht so aus, als wären sie vor allem der Sorge um mich entsprungen, und ganz sicher zeugten sie in dieser schweren Zeit nicht gerade von Rücksicht oder Achtung. Ich empfand ihre Theorien als etwas, das mir angetan wurde, und nicht als etwas, das als Hilfe gemeint war. Dass ich Krebs hatte, muss sie derart erschreckt haben, dass sie unbedingt einen Grund, eine Erklärung, einen Sinndafür finden mussten. Die Theorien sollten ihnen helfen; mir haben sie nur wehgetan.

2. Ken Wilber in Mut und Gnade, S. 296

Meiner Ansicht nach gehören solche Überzeugungen – vor allem die, dass man seine Wirklichkeit [und damit auch die eigenen Krankheiten] selbst herstellt – der zweiten [Entwicklungs]Ebene an. Sie haben alle Kennzeichen des für narzisstische Persönlichkeitsstörungen typischen infantilen und magischen Weltbildes, insbesondere Größenwahn, Allmachtswahn und Narzissmus. Für mich ist die Vorstellung, dass Gedanken die Wirklichkeit nicht nur beeinflussen, sondern erzeugen, ein direktes Zeugnis unvollständiger Ich-Differenzierung oder verwaschener Ich-Grenzen, und das sind Phänomene der zweiten Ebene. Gedanken und Gegenstände sind nicht klar getrennt, und daher können Manipulationen im Denken auf magische Weise die Welt manipulieren.

Ich glaube, dass der westliche Hyperindividualismus die Regression auf magische und narzisstische Stufen begünstigt hat … Ich stimme mit vielen Psychologen darin überein, dass unter der Oberfläche des Narzissmus die schiere Wut lauert, und ihr Gesicht kann etwa so aussehen: „Ich will dir nichts Böses, ich liebe dich, aber widersprich mir, und du wirst eine Krankheit bekommen, die dich tötet. Stimm mir zu, dass du deine Wirklichkeit selber erschaffen kannst, und es wird dir besser gehen, du wirst leben.“ Das hat keinerlei Grundlage in den mystischen Traditionen der Welt; es hat seine Grundlage in narzisstischen und Borderline-Pathologien.

3. Ruediger Dahlke in Krankheit als Symbol, S. 20

Aus all dem sollte klar werden, dass es immer unsinnig ist, Krankheitsbilddeutungen zu Wertungszwecken zu missbrauchen. Sie zu deuten bringt weiter in der Entwicklung zu mehr Bewusstheit, sie zu werten – sowohl bei anderen als auch bei sich selbst – wird immer nur schaden. Deutungen zum Urteilen oder gar Verurteilen zu missbrauchen sagt hauptsächlich etwas über den Charakter des Urteilenden aus, und es zeigt, dass er den hier [in dem Buch Krankheit als Symbol] vertretenen Ansatz in seinem Wesen (noch) nicht begriffen hat … Wer anderen unaufgefordert Deutungen um die Ohren schlägt, will nicht helfen, sondern heruntermachen, und er erntet im Allgemeinen zu Recht heftige Abwehr

[1] A. d- Ü.: Den Begriff eines Zusammenziehens [self-contraction] verwendet Wilber, um phänomenologisch zu beschreiben, was geschieht, wenn Menschen sich von etwas Unangenehmem wie einer Krankheit innerlich abwenden, und diese als schmerzhaft erlebte Erfahrung abwehren. 

[2] A. d. Ü.: Rollo May, 21. 4. 1909 – 22. 10. 1994.

[3] A. d. Ü.: Paul Johannes Tillich (20. August 1886 – 22. Oktober 1965) war ein deutscher und später US-amerikanischer protestantischer Theologe (Dogmatiker) und Religionsphilosoph.

[4] Aus einem dort auszugsweise abgedruckten Artikel Welche Hilfe hilft wirklich?  

[5] Goldmann Taschenbuch 1996.

(Quelle: IntegralLife.com, Illness and Sickness: Two Ways of Interpreting Health)

(aus: Online Journal 17)

Ähnliche Beiträge