Was macht einen großen Künstler aus?

Kunst

Was macht einen großen Künstler aus?

Ken Wilber

Frage: Ken, du hast über die unterschiedlichen Entwicklungslinien geschrieben, welche sich relativ unabhängig voneinander entwickeln, sich aber doch auch gegenseitig beeinflussen, und ich frage mich, und [auf Stuart Davis und Ed Kowalczyk bezogen] das betrifft auch euch, denke ich, wie du es siehst, wie diese unterschiedlichen Praktiken sich gegenseitig beeinflussen, was und wie viel fließt von der Meditationspraxis in die Musik ein, wo gibt es Verbindungen und wo nicht.

Wenn ich Kunst als meine einzige transformative Praxis ausübe, fehlt mir dann etwas oder kann ich dann noch Anderes einbringen?

KW: Das ist eine großartige Frage, ein ganz grundlegendes Thema, welche wir als Künstler alle erfahren, und es geht dabei auch um die große theoretische Frage, was einen Künstler ausmacht – ist es eher etwas Technisches oder geht es dabei um den Menschen. Um ein einführendes Beispiel zu geben – Leni Riefenstahl. Leni war eine Filmemacherin, sie filmte [unter anderem] die Reichsparteitage der Nazis in Nürnberg. Als eine Künstlerin war sie ein absolutes Genie. Während der Olympischen Spiele 1936 [in Berlin] kreierte sie vielleicht 50% der Kameratechniken, die heute noch immer im Sport eingesetzt werden, und wenn man sich ihre Arbeit anschaut, dann ist das ein ästhetischer Genuss, ganz außerordentlich. Und doch – und das ist keine Frage, und dies wurde immer wieder diskutiert -, war sie … sie sagte von sich, dass sie einfach nur ein Ereignis filmte, aber das Ergebnis sieht wie eine Werbung für Calvin Klein aus, wie eine Glorifizierung… und dieses Beispiel führt uns zu der allgemeinen Frage: was macht einen großen Künstler aus? Man kann Picasso nehmen, er verfügte über eine großartige Technik und hat damit großartige Werke geschaffen, aber als ein Mensch hatte er nicht notwendigerweise dieselbe Größe. Dies ist ein interessantes Gebiet, welches wir hier betreten – was ist Kunst überhaupt? Ist Kunst – für sich – eine transformative Praxis oder nicht?

Ein paar Bemerkungen dazu. Zum einen kann man es natürlich in einer Technik zur Meisterschaft bringen, aber wenn das nicht in ein Gesamtbewusstsein und in eine Gesamtpersönlichkeit integriert ist, dann fehlt darin die Tiefe und Resonanz, es fehlt diese Ausrichtung, der Künstler arbeitet bruchstückhaft. Wenn ein Kunstwerk transformieren kann – und zwar nicht nur den Betrachter, sondern zuerst stellt sich die Frage: Kann es den Künstler transformieren? Und ich denke, da gibt es eine allgemeine Faustregel. Wenn man wirklich an ein höheres Selbst oder an eine höhere Kreativität angeschlossen ist, die Quelle von Kunst, dann berührt man ein größeres Selbst, das man selbst werden kann. Aus diesem Grund wissen die meisten Künstler, wenn sie mit diesen höheren Zuständen arbeiten, und mit diesen höheren, in gewisser Weise transzendenten Visionen in Berührung kommen, dass dies über sie selbst hinausgeht. Und je mehr man darin eintaucht, desto mehr kann die eigene Kunst zu einer Transformation werden. Je öfter man mit dieser höheren Stimme spricht – sagen wir den Chakren 4,5,6 oder 7 desto mehr wird einen die eigene Kunst nach oben ziehen, weil sie dort ihren Ursprung hat. Ich sage nicht, dass man nicht auch die Chakren 1,2 und 3 repräsentieren kann, aber das ist die Richtung [4,5, 6,7] in welche man gezogen wird, und das ist interessant. Aurobindo hatte als einzige Form der spirituellen Praxis das Schreiben. Ich kenne das auch. Wenn ich Weltliches schreibe, z.B. über linguistische Theorie, dann ist dies das eine. Schreibe ich jedoch über Plotin, Emerson, und trete in diesen Raum ein, dann verändert mich das zutiefst, in jedem Augenblick des Schreibens. Nun ja, ich habe jede Menge „auf dem Hintern sitzen“ Meditation gemacht, und ich habe auch 5-6 Stunden jeden Tag in diesem [kreativen] Raum verbracht, und das hat mindestens genau so viel zu meiner Transformation beigetragen wie alles andere.

Das ist das eine, und es sollte unbedingt ein wenig integral sein. Man kann diese höhereArbeit nicht als etwas Bruchstückhaftes tun, es wird dann das eigene Herz und die eigene Seele nicht erreichen und einen auch nicht voranbringen – es wird dann lediglich zu einer Technik, wie z.B. das Auto auf Hochglanz bringen oder das Zähneputzen, und darin kann man sehr gut sein, aber es wird einen nicht transformieren.

Ein weiterer Aspekt, über den wir reden können … was kann Kunst für diejenigen tun, welche sie betrachten? Zum einen – wenn man wirklich von diesen höheren Zuständen und Stufen kommt, dann kann man Menschen dabei helfen mit diesen höheren Zuständen und Stufen in Resonanz zu treten, und das ist ein wichtiger Teil von dem, was Kunst leisten kann. Es ist diese miniatur-transformatorische Fähigkeit der Kunst. Der Betrachter jedoch kann dies nicht täglich tun wie der Künstler, und daher ist es gewöhnlicher Weise nicht ein so sehr transformierendes Ereignis für ihn oder sie, wie für jemanden, der damit tagtäglich zu tun hat.

In den großen Traditionen, speziell im Hinduismus und Buddhismus und in den westlichen mystischen Traditionen, hat ein Kunstwerk einen Hauptzweck, und das ist die Unterstützung der Kontemplation. Was große Kunst also tut, und was der Grund z.B. für die Anfertigung dieser großartigen Darstellungen ist – es hilft, wenn man sie betrachtet und visualisiert, weil sie Bilder des eigenen höheren Selbst sind – und daher werden sie oft als Hilfsmittel zur Meditation und Kontemplation verwendet. In diesem Sinn könne sie dem Betrachter helfen – man geht damit nicht wie in einem Museum von einem Bild zum anderen, man kann mehr damit tun – es ist eine konkrete Methode der Kontemplation. Einer der Gründe, warum Musik so wirkungsvoll sein kann, speziell für junge Leute – sie zieht einen vorübergehend in diese höheren Zustände hinein. Darum werden manche Leute so fanatisch hinsichtlich der Musik, und sie haben Recht, Musik kann ein Hinweis auf diese wirklich fantastischen Zustände sein, in die man eintreten kann. Natürlich kann man auch in Zustände des ersten und zweiten Chakra eintreten, Rockmusik  kann das machen, und da ist nichts gegen einzuwenden, aber es gibt auch die Möglichkeit mit höheren Zuständen in Resonanz zu treten. Stufen jedoch – nein. Wenn jemand Blau ist, und auf Türkis Kunst betrachtet, wird er oder sie den türkisen Teil nicht mitbekommen. Aber es kann ein subtiler oder kausaler Zustand angesprochen werden, und das kann einen erreichen, ja auch wie ein Schlag treffen. Das ist der machtvolle Einfluss, den Kunst haben kann. Eine integrale Kunst möchte so viele Saiten wie möglich zum Schwingen bringen und möglichst viel Resonanz erzeugen. Und das führt zu einer integralen Lebenspraxis – um die Zersplitterung zu überwinden – und nicht wie Leni Riefenstahl zu sein. Leni Riefenstahl war eine großartige Künstlerin, aber ein verdorbener [rotten] Mensch. Wenn man mit Big Mind in Kontakt kommt, dem höheren Selbst, dann versuchen wir das mit dem alltäglichen und gewöhnlichen Selbst zu integrieren. Das ist unsere Aufgabe – zu versuchen, unserem höheren Selbst gerecht zu werden. Darum geht es bei der eigenen Kunst; entsprechend der Ebene und Quelle zu leben, welche diese Kunst hervorbrachte.

(Quelle: Integral Naked, What makes a great artist?)

(aus: Online Journal 30)

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