Dualistisch und Nicht-Dualistisch umfassen und übersteigen
Sonja Student
In dem folgenden Text aus seinem Buch „BIG MIND. Großer Geist – Großes Herz“, Aurum Verlag 2008, beschreibt der Zen-Meister und Erfinder des Big-Mind-Prozesses die Notwendigkeit, Schattenarbeit und spirituelle Praxis miteinander zu verbinden. Dabei hat er die Weisheiten des Buddhismus mit einigen der zentralen Entdeckungen der westlichen Psychologie – insbesondere dem „Voice Dialogue“ und „Teilpersönlichkeiten“ – verbunden.
In seiner Einleitung zu dem Buch schreibt Ken Wilber:
„Der von Zen-Meister Dennis Genpo Merzel entwickelte Big-Mind-Prozess ist die wohl wichtigste und schöpferischste Entdeckung innerhalb des Buddhismus der letzten zwei Jahrhunderte.“
Der Big-Mind-Prozess ist ein einfacher und effektiver Weg, das Unendliche und die begrenzten Selbste zu integrieren. Den Big-Mind-Prozess kann man auf jeder Stufe der Entwicklung praktizieren und er fördert die Weiterentwicklung.“
Ziel des Prozesses ist es, ein Integrierter Frei-Wirkender Mensch zu sein, der das Absolute und das Relative (Menschsein) verbindet.
Im hinteren Teil des Buches (S. 127/8) beschreibt Genpo die Stolpersteine auf dem spirituellen Weg:
„Wenn wir zu Beginn über das Selbst hinausgehen, neigt das Ich dazu, sich diese Erfahrung des Transzendenten zu eigen machen zu wollen, und wir bleiben dann leicht im sogenannten Absoluten stecken. Dies ist nichts Neues und kommt schon seit Jahrtausenden vor. Lehrer haben ihre Schülerinnen und Schüler immer darin unterstützt, wenn nicht sogar angetrieben, auch über diese Phase hinauszugehen und die relative Sichtweise mit einzubeziehen – also anders ausgedrückt, das dualistische Selbst.
Es hat einen guten Grund, warum Meister von alters her ihre Schülerinnen und Schüler dazu ermutigt haben, sich vom Absoluten rasch weiter zu bewegen: Wenn wir dort sind, sehen wir die Gefahr nicht, die das Verweilen im Absoluten in sich birgt. Denn im Absoluten scheinen wir Ursache und Wirkung zu missachten, und es fehlt uns an Abgrenzungen, da die Erfahrung über Grenzen und Beschränkungen hinausgeht. Jedoch können wir dies nur in unserem alltäglichen oder konventionellen, dualistischen Geist so sehen – bevor wir ins Absolute eintreten oder nachdem wir es losgelassen haben. Während wir dort feststecken – ich selbst tat dies mindestens acht Jahre lang – ,sehen wir die Probleme nicht, die das mit sich bringt.
Es ist also wahrhaftig wichtig, dass wir dort nicht bleiben. Ein Großteil des Buches wurde in der Hoffnung geschrieben, Ihnen und anderen Menschen die Bewegung ins Transzendente und dann über das Transzendente hinaus zu ermöglichen; das Transzendente zu umfassen und dabei weder an der dualistischen noch an der nicht-dualistischen Perspektive zu haften.“
Genpos neuer Ansatz des Einzigartigen Selbst enthält und übersteigt sowohl Dualität als auch Non-Dualität. In der folgenden Dreieck-Abbildung wird deutlich, dass wir zum ganzen Menschen sowohl das linke als auch das rechte Knie umfassen müssen. An der Spitze des Dreiecks steht unser gesamtes Menschsein mit allen Sichtweisen und Stimmen, den dualen und den nicht-dualen. Wir drücken uns vom Standpunkt des vollständig integrierten Menschen aus: auch der Meister, Integriertes Yin/Yang Mitgefühl oder Big Heart genannt. Dabei sind wir Menschen immer an der Spitze des Dreiecks als das verblendete Selbst und zugleich auch immer erwacht.

Wenn man aus der Stimme des Einzigartigen Selbst spricht, kann es hilfreich sein, sich das Selbst und das Nicht-Selbst nebeneinander auf zwei Stühlen sitzend vorzustellen.

Und so spricht Genpo aus der Stimme des Einzigartigen Selbst (133/5):
„Als das einzigartige Selbst bemerke ich, dass ich absolut einzigartig bin. „Absolut“ ist hier das Schlüsselwort. Es gibt niemanden anderen, die oder der so ist wie ich. Ich umfasse sowohl das Selbst als auch das Nicht-Selbst.
Auf einmal habe ich große Wertschätzung für den, der ich bin. Ich bin Der Weg und ich bin die Manifestation des Weges. Ich bin der Schöpfer und die Schöpfung. Ich bin vollkommen perfekt, so wie ich bin, und doch benötige ich viel Arbeit. Es ist ein niemals endender Prozess der Entfaltung, und doch bin ich voller Freude darüber, sein zu können, wer und was ich bin…
Ich bin weder der dualistischen noch der nicht-dualistischen Sichtweise verhaftet. Ich bin reif und weise genug, um sowohl die Begrenzungen als auch meine Grenzenlosigkeit zu erkennen. Ich bin nicht nur eine bestimmte Perspektive; ich bin alle Perspektiven, und zu jedem Zeitpunkt eine gegebene Perspektive. Ich erkenne, dass sowohl das dualistische als auch das nicht-dualistische Selbst jeweils nur eine Teilsicht darstellen und jedes für sich unvollständig ist. Nur mit dem jeweils anderen ist das einzelne vollständig…
Als das Einzigartige Selbst stecke ich weder im Denken, in der Stimme des Selbst noch in der absoluten Perspektive fest. Es ist ein sehr natürlicher Zustand panoramischen Gewahrseins verbunden mit der Fähigkeit, sich völlig auf die vorliegende Aufgabe zu konzentrieren. Wir alle befinden uns immer in diesem Zustand. Das ist die Bedeutung von „Alltagsgeist ist der Weg“.
Ein anderer Ausdruck für das Einzigartige Selbst ist die Höchste Weisheit (S. 180/1):
„Man sagt, Wissen sei Macht. In meinem Verständnis besitzen jeder Aspekt des Selbst und jede Stimme ihre eigene Weisheit. Und wir würden als Menschen ein viel gesünderes, glücklicheres und freundvolleres Leben führen, würden wir jeder Stimme ganz einfach Gehör verschaffen und ihr Anerkennung und Wertschätzung geben. Wir schaffen sowohl für das Selbst als auch für andere Probleme, wenn wir einen bestimmten Aspekt verleugnen oder unterdrücken.
Alles, jeder und jede – wie auch alle Kinder, alle Stimmen – haben ein Recht zu bestehen. Wie in einem Unternehmen wird es florieren und optimal funktionieren, wenn jeder Mitarbeiter seine Position, sein Aufgabengebiet und seine Rolle kennt und weiß, für wen er arbeitet.“
Und als Stimme der Weisheit, die wenige Wünsche und wenig Verlangen hat, blickt Genpo auf seine eigenen Lernerfahrungen zurück (186):
„Mit den Jahren hat er viel an Reife gewonnen. Er erkennt jetzt, dass er von allem etwas lernen kann – auch von Dingen, bei denen es ihm lieber gewesen wäre, sie wären nicht geschehen- und dass es am sinnvollsten ist, die Lektionen so schnell wie möglich zu lernen, anstatt sie immer wieder durchmachen zu müssen. Leugne oder ignoriere das Gesetz der Kausalität, und das Universum wird dir Feedback geben! Achte auf die Mitteilungen, die dir das Universum gibt, so wird es nicht noch mehr und immer stärkeres Feedback geben müssen. Das ist Weisheit. Glaube nicht, über dem Gesetz von Ursache und Wirkung zu stehen. Du wirst feststellen, dass niemand das tut.“
(aus: Online Journal 24)