Ken Wilber
Einleitung
Von einer grünen Entwicklungsstufe aus betrachtet ist die Vorstellung einer einheitlichen Transzendenz der Weltreligionen absolut überzeugend. Es ist ein „happy end“ – ein glückliches Ende einer über lange Strecken auch tragischen Geschichte. Bedenkt man all die Gewalt, welche im Namen Gottes verübt wurde, ist es eine tröstliche Vorstellung, wenn man annimmt, dass die heiligen Schriften letztendlich das gleiche aussagen.
Doch das ist nicht der Fall. Nimmt man die Schriften wortwörtlich (was auf der Bernstein Entwicklungsstufe oft geschieht), dann gibt es widersprüchliche Aussagen ohne Ende – und oft widersprechen die Schriften sich auch in sich selbst! Kriege wurden zwischen den christlichen Konfessionen ausgetragen, bezogen auf eine Welt und ein (Nicäisches) Glaubensbekenntnis. Aus einer differenzierteren Position heraus unterscheiden wir die äußerlichen, exoterischen von den innerlichen, esoterischen Aspekten, doch auch bei den esoterischen Aspekten ist Übereinstimmung eher selten.
In diesem Audiogespräch betont Wilber, dass es so etwas wie eine transzendente Einheit der Weltreligionen nicht gibt. Es gibt keinen Fixpunkt, wo sich alle treffen. Man könnte eher von vier unterschiedlichen Fixpunkten sprechen. Die religiösen Praktiken der Weltreligionen gestalten sich entsprechend der großen Reise, die jeder von uns innerhalb jeder 24 Stunden unternimmt: von einem grobstofflichen Wachzustand zu einem subtilen Traumzustand zu einem kausalen traumlosen Tiefschlaf (mit der Hinzufügung eines vierten, nicht-dualen Zustandes, der alle Zustände vereinigt). Im Buch The Paradox of Instruction spricht Adi Da vom Pfad der Yogis (grobstofflich), vom Pfad der Heiligen (subtil), vom Pfad der Weisen (kausal), and vom Pfad der siddhas (nichtdual). Daniel P. Brown kommt im Buch Psychologie der Befreiung zu den genau gleichen Tiefenstrukturen, unter Betrachtung der vielen unterschiedlichen mystischen Traditionen. Daraus resultieren vier allgemeine mystische Wege und vier unterschiedliche mystische Bestimmungen. Der erste Weg und die erste Bestimmung führen zu einer Einheit mit allen grobstofflichen Phänomenen, der zweite zu einer Einheit mit allen subtilen Phänomenen, der dritte zu einer Einheit mit allen kausalen Phänomenen und der vierte zu einer Einheit von Leere und allem, was darin erscheint.
Natürlich werden spirituelle Zustandserfahrungen immer von der Entwicklungsstufe aus erfahren und interpretiert, auf der wir uns befinden. Unsere Entwicklungshöhe ist buchstäblich der Kontext und Rahmen, in dem unsere Zustandserfahrungen erscheinen; es ist die Theaterbühne, auf der sich das Leben abspielt. Diese Kontexte und Hintergrundstrukturen sind uns notwendigerweise verborgen. Doch wir können uns ihrer bewusst werden, und die Bewusstheit, dass wir – auf eine ganz konkrete Weise – Brillen auf der Nase haben, die das, was wir wahrnehmen, färben, – Bernstein, Orange, Grün, Petrol, Türkis –, ist eine der wichtigen integralen Einsichten.
Sich auf die große menschliche Reise begeben, die eigene Bewusstheit dabei immer weiter ausdehnend, vom Grobstofflichen zum Subtilen zum Kausalen zum Nichtdualen, und dabei die Erfahrungen von der größtmöglichen Entwicklungshöhe aus betrachtend, und sich dabei auch dessen bewusst seiend, was auf diesem Entwicklungsweg alles schief gehen kann –, das ist das Ziel einer integralen Spiritualität.
Die Evolution der Transformationen Eine transzendente Einheit aller Weltreligionen?
Der Erste, der – in diesen Begrifflichkeiten – auf den Pfad der Yogis, den Pfad der Heiligen und den Pfad der Weisen hingewiesen hat, war Adi Da[1]. Er tat das in dem Buch The paradox of instruction. Er schreibt darin, wie immer, brillant. Dieses Buch ist ein geniales Werk, es ist bahnbrechend. Ich weiß nicht, ob man das Buch überhaut noch bekommen kann, seine Lebensgeschichte wird ja ständig „überarbeitet“, und es wird von immer neuen „größten Verwirklichungen der Menschheitsgeschichte“ bei ihm gesprochen, ich glaube, er hat mittlerweile 20 der größtmöglichen Verwirklichungen überhaupt erreicht, so wird gesagt, und kann nur noch von sich selbst übertroffen werden [Lachen], doch er war der Erste, der auf diese drei Pfade hingewiesen hat, den Pfad der Yogis, den Pfad der Heiligen und den Pfad der Weisen. Das entspricht dem grobstofflichen, dem subtilen und dem kausalen Körper. Das Brillante dabei war, dass er einer der Ersten war, der mit einer Tradition brach, der fast alle anderen Großen angehörten wie Huston Smith und Fritjof, Schuon, die über diese Themen schrieben: und zwar, dass es eine transzendente Einheit in den Weltreligionen gibt mit einer Erfahrung von Leere, bei der sich lediglich die äußeren Formen unterscheiden. Reine Leere zieht sich damit durch alle Religionen, eine transzendente Einheit aller Weltreligionen. Adi Da sagte hingegen, dass das nicht stimmen würde, auch wenn es viele Beispiele dafür gibt, wo Yogis, Heilige, Weise und Siddhas (ich habe Siddhas noch hinzugefügt) in die Leere und dann auch zur nichtdualen Soheit vorstoßen können. Doch es gibt auch viele Fälle, wo das nicht geschieht, sondern wo Praktizierende in den unterschiedlichen Bereichen und Zuständen bleiben [grobstofflich, subtil, kausal] – und das ist wahr. Man kann ein Zentraining durchlaufen, mit einer Konzentration auf den kausalen Körper, und bekommt niemals einen Hinweis darüber, wie man mit Kundalini Energie umzugehen hat, auch wenn diese im ganzen Körper fühlbar ist. Das ist erstaunlich. Was oft passiert, ist, dass wenn man in einem dieser Bereiche arbeitet, dass es eine Art von natürlicher Weiterführung gibt, bei der sich der eigene Bewusstseinsschwerpunkt verlagert [vom Grobstofflichen zum Subtilen zum Kausalen zum Nichtdualen]. Doch es ist auch möglich, mit dem Pfad der Heiligen zu arbeiten, und nicht mit dem Pfad der Yogis (oder dem der Schamanen, die im Wesentlichen gleich sind, sie orientieren sich beide an der Arbeit mit dem grobstofflichen Körper. Schamanen arbeiten mit den Elementen der Natur, dem was objektiv in der Natur sichtbar ist, und sie arbeiten auch ein wenig mit Innerlichkeiten, dem Bereich der Heiligen, doch Yogis wie auch Schamanen arbeiten überwiegend mit der Transformation des grobstofflichen Körpers ). Der Pfad der Heiligen jedoch arbeitet mit dem subtilen Körper, und der Pfad der Weisen arbeitet mit dem kausalen Körper. Adi Da war der Erste, der mit der Tradition brach, von einer transzendenten Einheit zu sprechen, und er hat recht. Hier handelt es sich um grundlegend unterschiedliche Wege, wenngleich viele der großen Traditionen der Welt mit einem Pfad der Weisen und einem Pfad der Siddhas auch in der einen oder anderen Form auch die anderen Pfade berücksichtigen. In Verwendung der Begriffe, die Evelyn Underhill für die vier Hauptstufen der Meditation dafür verwendet hat, (sie war wahrscheinlich die größte Autorin ihrer Zeit zum Thema Mystik, und ihr Buch Mystik ist ein absoluter Klassiker), sie sprach von vier Hauptstufen der Mystik, und sie nannte sie Reinigung, Erleuchtung, dunkle Nacht und Vereinigung. Das entspricht genau grobstofflich (Reinigung), subtil (Erleuchtung), kausal (dunkle Nacht) und nichtdual (Vereinigung) – also genau grobstofflich, subtil, kausal und nichtdual. Betrachtet man dann noch die Arbeit von Daniel P. Brown, die auch genial ist, dann hat er auch vier Hauptstufen des Wachstums gefunden, in der Mahamudra Tradition und in den Yoga Sutren von Pantanjali, und auch diese sind Variationen von grobstofflich, subtil, kausal und nichtdual. Das verändert alles, weil wir oben in der waagerechten Wilber-Combs Matrix grobstofflich, subtil, kausal und nichtdual einzeichnen können, und das ist der Pfad der Yogis oder Naturmystik, der Pfad der Heiligen oder Gottheitsmystik, der Pfad der Weisen oder formlose Mystik und der Pfad des Siddhas oder nichtduale Mystik. Damit verändert sich aus mehreren Gründen alles. Zum einen wird mit der Tradition gebrochen, die einfach nur sagt, „es gibt eine transzendente Einheit in den Weltreligionen“ (weil das so nicht stimmt). Zweitens: Viele der großen Traditionen, die mit zu trainierenden Zustandsänderungen arbeiten, bewegen sich in der Tat durch drei oder vier dieser Hauptzustände, und wenn sie das tun, dann erfolgt das in der genannten Reihenfolge. Der Grund dafür ist, dass diese Reihenfolge so angelegt ist, diesen Hauptzuständen liegt eine Architektur zugrunde. Man beginnt im Wachzustand wach zu sein (und nicht im Traumzustand). Das habe ich nicht erfunden, sondern so ist es. Wenn man das Zustandsgewahrsein trainiert, dann entfalten sich die Zustände in dieser Reihenfolge: grobstofflich zu subtil zu kausal zu nichtdual. Die Mahamudra Tradition beispielsweise nennt das die „Reinigung des grobstofflichen Geistes“ [mind], die Reinigung des subtilen Geistes, die Reinigung des sehr subtilen Geistes und dann den „Einen Geschmack“, die Soheit. Das sind genau diese vier Hauptzustandsstufen. Das revolutioniert unser Denken über Spiritualität und Religion, weil man zum einen [im Bild des Wilber-Combs Rasters] auf jeder der Strukturstufen „rechts abbiegen“ und die Zustandsstufen durchlaufenkann. Man kann die Realisation nichtdualer Soheit erfahren, als eine bleibende Eigenschaft, und sich dabei auf der Bernstein Entwicklungsstufe befinden oder bei Orange oder bei Grün. Dafür gibt es viele Beispiele. [Das Buch] Zen, Nationalismus und Krieg, Eine unheimliche Allianz ist gewissermaßen nur der Anfang davon. Das Buch hat bei seinem Erscheinen einen Sturm der Kontroverse ausgelöst, weil man sagte, dass erleuchtete Menschen so etwas [wie die Unterstützung des japanischen Nationalismus im zweiten Weltkrieg und davor] nicht tun würden. Aber erleuchtete Menschen machen das andauernd, weil sie sich [in ihrer Strukturentwicklung] bei Rot oder Bernstein oder Orange befinden. Und jetzt haben wir Boomeritis Buddhismus, und das sind Menschen. die sich auf der Ebene eines pathologischen und ungesunden Grün befinden – also kein Pluralismus, sondern Pluralitis und Boomeritis, und unglücklicherweise verstärkte Boomerits Buddhismus diese grüne Entwicklung des Relativismus, einer Sichtweise [view] keiner Sichtweise, die ein Albtraum ist. Aber, um zum Positiven dabei zu kommen, die Unterscheidung der Entwicklungsstrukturen und der Zustände bedeutet eine enorme Veränderung, weil wir erkennen können, dass sie relativ unabhängig voneinander sind, dass man sich auf praktisch jeder der Strukturstufen auf den Zustandsweg machen kann, mit enormen Fortschritten, und dass es Pathologien sowohl bei den Entwicklungsstrukturen wie auch bei den Zustandsstufen gibt. Die vertikalen Pathologien ereignen sich bei den Drehpunkten der Selbstentwicklung (und es gibt nicht nur die Drehpunkte, sondern bei jedem der Drehpunkte auch weitere Unter-Drehpunkte), und es gibt Behandelungsmöglichkeiten für praktisch jeden dieser Drehpunkte, die in der entsprechenden Literatur beschrieben sind. Es gibt noch nicht so viele Beschreibungen für die sehr hohen Entwicklungsstufen (und deren Drehpunktpathologien) von Metamind, Overmind und Supermind, weil nur sehr wenige Menschen sich bereits dort befinden, aber für alle anderen haben wir eine Menge an Erfahrungen und Behandlungsmöglichkeiten. Darüber hinaus gibt es bei der horizontalen Zustandsentwicklung Wechselpunkte [switchpoints], wie ich sie nenne, und ein Wechselpunkt ist ein Punkt, bei dem sich der Bewusstseinsschwerpunkt von einem Hauptzustand zu einem anderen verlagert. Bei diesem Wechsel kann auch etwas schief gehen, vergleichbar den Pathologien bei den Strukturen, und zwar in der Art, dass das „Ich“ einer Stufe nicht zu einem „Mir“ des nächsten Zustandes wird, sondern zu einem „Es“ oder einem „Anderen“. Die Heilung oder Therapie ist die gleiche wie bei der Struktur – und bei der Zustandsentwicklung. Freud hat in seinen [deutschsprachigen] Schriften niemals das Wort „Ego“ oder „Id“ verwandt. James Strachey, sein Hauptübersetzer ins Englische, verwendete diese Begriffe in der Absicht, Freud dadurch wissenschaftlicher zu machen. Doch Freud verwendete die Pronomen, „das Ich“ und „das Es“. Das einzige [englische] Buch, in dem man das erkennen kann, ist das Buch The problem of lay analysis, ein Buch, welchesnicht in die offizielle Sammlung seiner gesammelten Werke aufgenommen wurde. In diesem Buch wurden die Begriffe so übersetzt, wie Freud sie geschrieben hat. Es ist ein Schock, Freud als diesen großartigen Phänomenologen, der er war, neu zu lesen. Man schaut in den eigenen Geist, und dort gibt es ein „Ich“, und dieses Ich kann ich kontrollieren, es ist ein Teil von mir, und dann gibt es große Teile des eigenen Geistes, die ich sehen kann, über die ich jedoch keine Kontrolle habe. Über diese Teile spreche ich in Es-Sprache, und sage z. B.: „diese Angst, überkam mich“, oder „diese Depression ist stärker als ich“, und so erhalten wir zwei Teile der Psyche, und zwar das Ich und das Es. Ich und Es sind dabei genau die richtigen Begriffe, und Freud hat hier den Nagel auf den Kopf getroffen. Er arbeitet nur mit den ersten beiden Chakren, doch die Heilmethode für alle diese Pathologien [aufallen Ebenen oder Chakren] ist genau so, wie Freud es sagte. Seine berühmteste Aussage auf die Frage, wie Therapie funktioniert, lautet [in der englischen Übersetzung]: „where the id was, the ego shall be.“ Was er jedoch wirklich sagte war, „wo Es war, soll Ich werden“. Das ist brillant, und es stimmt genau. Man muss das Es zu einem Teil des Ich machen, und es wieder annehmen. Ist es dann zu einem Teil des Ich geworden, kann man es loslassen, und es kann zu einem „Mir“ oder „Mein“ werden. So funktioniert der 3-2-1 Prozess. Es gibt ein Es [was mich stört], ein Ding einer dritten Person, etwas, was auf jemand anderen projiziert wurde, und was immer das auch sein mag, es ist [in der Eigenwahrnehmung] kein Ich. Es ist ein Du oder ein Er, Sie oder ein Es. Wir nehmen dann [beim 3-2-1 Prozess] dieses Ding, was mich nervt, „mein Boss hasst mich“, und stellen uns diesen Boss bildlich vor, und sprechen mit ihm als einer zweiten Person, kommunizieren mit ihm, und nehmen dann auch seine Rolle ein, die Rolle einer ersten Person. „Mein Boss ist nicht wütend auf mich, ich bin wütend auf mich, oder meinen Boss, oder wen auch immer.“ Ein Es wurde dabei zu einem Ich, und dabei kann das Ich zu einem Mir oder Mein werden. Nachdem ich mich damit identifiziert habe, kann ich es loslassen, und es kann zu einem Mir oder Mein des Ich der nächsthöheren Stufe werden. Dieses höhere Ich kann dann wieder zu einer Mir/Mein des Ich der nächsthöheren Stufe werden, usw., bis es nur noch das Ich-Ich gibt. Das ist eine brillante Zusammenfassung einer gewaltigen Menge von Daten der vergangenen 2000 Jahre aus dem Osten und aus dem Westen. Es funktioniert, und hält den Überprüfungen stand.
4 Pfade
Wir können uns jetzt noch mit ein paar Beispielen dazu beschäftigen und Lehrern, die auf diesen Pfaden arbeiten. Den Pfad der Yogis gehen Traditionen, die mit jedem der Chakren arbeiten, etwa bis zum sechsten Chakra, manchmal auch dem siebten Chakra, und das ist z. B. Kundalini Yoga, Raja Yoga und die schamanische Visionssuche, auch wenn die Vision dabei eine innere Erfahrung ist, meistens ein Krafttier oder ein Element der Natur, ein Elementargeist, das wäre der schamanische Pfad der Yogis. Den Pfad der Heiligen findet man häufig in den theistischen Traditionen, als einer Perspektive einer zweiten Person gegenüber Gott oder dem Geist. Das trifft auf die Tradition des Hassidim zu, der Kabbala, des Sufismus und der christlichen Mystik. Diese Wege bleiben überwiegend ein Weg der Heiligen. Einige dieser Heiligen jedoch wurden zu Weisen, Johannes vom Kreuz oder Teresa von Avila, sie sind auf den Pfad der Weisen vorgedrungen, und dieser Pfad wird durch die Zen Tradition repräsentiert und die Tradition des Vedanta, Ramana Maharshi z.B., das ist der Pfad der Weisen. Und dann gibt es noch den Pfad der Siddhas, als die allgemein tantrischen Traditionen, wie der kashmir shaivinismus, die tantrischen Schulen des Vedanta, der Vajrayana und einige Aspekte der westlichen neoplatonischen Tradition. Der Pfad der Siddhas arbeitet mit dem Weisheitskörper, dem schon immer erleuchteten Bewusstsein als dasGeburtsrecht eines jeden Menschen, hier und jetzt. Ruht man in dieser immer gegenwärtigen, brillanten Klarheit, von Augenblick zu Augenblick, dann kann man mit der Einheit von Samsara und Nirvana zu spielen beginnen, als ein erotisches Spiel, man kann konkret Sex haben mit allem, was von Augenblick zu Augenblick erscheint. Dies ist wortwörtlich gemeint, ein konkretes Gefühl sexueller Seligkeit, Erregung und Erfüllung, von Augenblick zu Augenblick. Dies ist eine Praxis erotischer Kraft [power], das ist der Pfad der Siddhas.
Zeugenbewusstseins und „Stufen nach der Erleuchtung“
Der Pfad der Siddhas beinhaltet auch das, was manchmal etwas verdreht als „Stufen nach der Erleuchtung“ bezeichnet wird. Viele der großen Traditionen kennen Erleuchtung und auch Wege nach der Erleuchtung, Dinge, die man nach der Erleuchtung mit dem Weisheitskörper tun kann. Nachdem man einWeiser durch die Erkenntnis des eigenen wahren Selbst geworden ist, kann man auch dort noch weitergehen und sogar das wahre Selbst loslassen und alles das, was vom Zeugenbewusstsein noch übrig geblieben ist. Wie Katagiri [Roshi] es mir einmal beschrieb: „Der Zeuge ist der letzte Standpunkt, den das Ego einnimmt“. Dabei gibt es noch eine sehr subtile Kontraktion um das Herz herum, die beim Bezeugen übrig geblieben ist. Diese subtile Kontraktion erhält das Gefühl des Bezeugens aufrecht, wo das, was man bezeugt, immer vor einem erscheint. Wann immer es ein Bewusstsein von etwas gibt, das vor einem erscheint, egal wie groß oder gewaltig dieses Big Mind oder Big Heart Bewusstsein auch sein mag – gibt es dabei immer noch eine subtile Kontraktion, die die Dinge so hält, dass sie so aussehen, als würden sie vor einem erscheinen. Wenn man dort auf dem Pfad der Siddhas hindurchgeht, dem Weg „nach der Erleuchtung“, dann gibt es nicht mehr das Empfinden, dass die Dinge vor einem erscheinen. Es gibt dann kein „ich bin hier auf der Seite meines Gesichtes und betrachte die Welt dort draußen.“ Alles, was es noch gibt, ist die Welt da draußen, und es ist nicht einmal mehr ein „da draußen“, es ist einfach nur „die Welt“, die von Augenblick zu Augenblick erscheint. Sie erscheint als und in einem Spiel strahlender Klarheit und strahlenden Leuchtens. Eine anstrengungslose, spontane, erotische Einheit. Hierin ist eine Komponente der Seligkeit in immer-gegenwärtiger Bewusstheit enthalten. Das Spiel mit dieser selig erotischen Klarheit, von Augenblick zu Augenblick, ist der Pfad der Siddhas.
Dies ist eine Zusammenfassung dessen, was ich in dem Buch Overview schreibe, und das Buch Superview geht dann in die Details, z. B. für Therapeuten. Dabei bespreche ich alle 12 Entwicklungsdrehpunkte und auch die vier Wechselpunkte horizontaler Entwicklung, was dabei jeweils schiefgehen kann und welche Behandlungsmöglichkeiten es dabei gibt, und wie ich schon sagte, es gibt sehr viele Behandlungsmodalitäten, die entwickelt wurden, mit Ausnahme der oberen drei Strukturebenen.
Meditation und (Struktur)Entwicklung
Was ich zu den gestellten Fragen [in diesem Telefonat] noch sagen möchte, ist, dass es definitiv nicht wahr ist, dass Strukturentwicklung und Zustandsentwicklung völlig unabhängig voneinander sind. Wenn man ein Zustandstraining macht, dann ist es oft so, speziell wenn die Tradition, innerhalb derer man praktiziert, das zulässt, dass dann auch ein vertikales Wachstum stattfinden kann. Doch wie man [am Beispiel des Buches] Zen, Nationalismus und Krieg sehen kann, und wie es sich auch in vielen anderen Traditionen gezeigt hat, geschieht das nicht notwendigerweise. Es gibt eine sehr subtile Beziehung zwischen Meditation oder Kontemplation und einem vertikalen strukturellen Wachstum. Dennoch ist es ganz klar, dass Meditation überwiegend ein Zustandstraining ist. Doch abhängig von den vier Quadranten, und speziell dabei vom unteren linken Quadranten, der kulturellen Sangha, in der man sich befindet, übt dieser Quadrant – bewusst oder unbewusst – einen enormen Einfluss dahingehend aus, dass man sich an der Entwicklungshöhe der Sangha orientiert und dem vorherrschendem Austauschmodus, dem Bewusstseinsschwerpunkt der Sangha. Befindet sich der Bewusstseinsschwerpunkt der Sangha bei Bernstein, dann wird einen die Meditation üblicherweise bei Bernstein festhalten, oft auf eine heftige und intensive Weise. Man macht all diese erstaunlichen Erfahrungen, doch die Sangha, der man angehört, ist ethnozentrisch und glaubt nur an Allah oder einen bestimmten Weg, und man wird die Erfahrungen, die man gemacht hat, entsprechend der Entwicklungsstruktur der Gruppe oder der Kultur, der man angehört, interpretieren. Wenn die Sangha sich auf der grünen Entwicklungsebene befindet, dann wird die meditative Praxis dort die Tendenz haben, einen auf dieser Ebene (fest) zu halten. Befindet man sich jedoch in einer freien und offenen Umgebung und praktiziert Meditation, dann gibt es empirische Forschung darüber, dass Meditation auch die strukturelle Entwicklung durch mehrere vertikale Strukturstufen fördern kann. Das ist erstaunlich, weil keine andere Form von Praxis oder Therapie bisher demonstrieren konnte, einen Erwachsenen um mehr als 0,25 Entwicklungsstufen in seiner Entwicklung zu fördern. Meditation kann das, wenn, noch einmal, die Umgebung und die Gemeinschaft frei und offen genug sind. Die Studien, auf die ich mich beziehe, wurden an Universitätsstudenten durchgeführt, die keiner Sangha angehörten, und daher gab es auch keinen Einfluss, der sie auf der bernsteinfarbenen oder der grünen Entwicklungsstufe halten konnte. Doch wenn man sich in einer örtlichen Zen Gemeinschaft befindet, und alle „reden grün“, dann wird eine sehr starke Tendenz bestehen die gleiche Entwicklungshöhe einzunehmen.
All dies können wir jetzt erklären, durch die Entwicklungsstrukturen und Entwicklungszustände, und die Pathologien in beiden von ihnen. Es gibt viele bekannte Behandlungsmöglichkeiten für beide Arten von Pathologien. Das Schema, welches ich entwickelt habe, stellt sie erstmals in einen Gesamtzusammenhang.
Psychologie der Befreiung
Was ich zum Abschluss dazu noch sagen möchte, ist, dass als wir damals, als wir Psychologie der Befreiung schrieben, mit neun vertikalen Hauptdrehpunkten (und wie ich schon sagte haben wir heute Evidenz für mindestens zwölf Entwicklungsstufen), wir dem Buch den Untertitel gegeben haben „konventional and kontemplative approaches to growth“ [konventionelle und kontemplative Wachstumsansätze]. Dabei beziehen sich die konventionellen Ansätze auf die Entwicklungsstrukturen und die kontemplativen Ansätze auf die Bewusstseinszustände. Das haben wir damals noch nicht gewusst. Wir haben damals die Zustandsstufen genommen und sie oberhalb der Strukturstufe „Türkis“ aufgestapelt. Das war seinerzeit sinnvoll, und diese vier Hauptzustandsstufen haben auch Ähnlichkeiten mit den vier höheren Strukturstufen. Jack Engler schrieb über strukturelle Entwicklung mit der berühmten Aussage, welche die prä-trans Verwechselung zusammenfasst: „Man muss erst einmal ein Jemand werden, bevor man ein Niemand werden kann“, d.h. man muss erst einmal ein Ego entwickeln, bevor man es transzendieren kann. Er distanzierte sich dann auch ein Stück davon, weil er intuitiv begriff, dass bei Menschen auf praktisch jeder der vertikalen Entwicklungsstufen eine Zustandsentwicklung stattfinden kann. Daniel P. Browns genialer Beitrag bestand darin, aus 14 Mahamudra Grundlagentexten in ihrer Originalsprache den Zustandweg zu beschreiben. Und auch er nahm dann ein Stück weit Abstand von seiner Auffassung, weil er intuitiv verstand, dass das mit bestimmten strukturellen Aspekten des Wachstums nicht zusammenpasste. Es stellte sich dann heraus, dass die Beiträge von beiden heute noch wahrer sind als sie es damals waren, weil der eine Beitrag sich auf die Strukturstufen bezieht und der andere auf die Zustandsstufen. Beide hatten mehr recht mit dem, was sie sagten, als ihnen das damals bewusst war, und das ist wirklich eine Ironie. Der Grund, warum konventionelle Ansätze wenig zum Transpersonalen sagen, ist nicht der einer Abneigung gegen das Mystische, sondern weil man zu wenige Menschen auf den höheren Entwicklungsstufen findet [um sie in einer Forschung berücksichtigen zu können]. Nur 0,5% der Bevölkerung erreicht Türkis, und nur 0,1% oder weniger erreicht Indigo. Nur vielleicht einer von 3.000 Menschen befindet sich bei Indigo, und daher findet man diese Menschen nicht in den Datenerhebungen der Forscher. Doch das liegt nicht an einem anti-transpersonalen Vorurteil des Westens. Die meisten der großen Entwicklungsforscher, von Kohlberg zu James Mark Baldwin, postulierten eine höhere, wie sie es nannten spirituelle oder universelle Strukturstufe. Das Konventionelle an ihrer Vorgehensweise ist, dass sie einen Forschungsansatz gegenüber der Entwicklung anwandten, der Ergebnisse hervorbringt, die man durch Introspektion nicht sehen kann – die Strukturen oder „Hüllen“ des Bewusstseins der Zone 2.
[1] A. d. Ü.: Im 1986 erschienenen Buch Psychologie der Befreiung schreibt Wilber auf S. 147: Da Free John hat die großen esoterischen Weisheitstraditionen in drei Hauptebenen eingeteilt: den Pfad der Yogis, der vorwiegend auf die psychische Ebene abzielt; den Pfad der Heiligen, der vorwiegend auf die subtile Ebene abzielt und den Pfade der Weisen, der vorwiegend auf das Kausale abzielt.“ Zum damaligen Zeitpunkt wurden diese Stufen, die Wilber jetzt als Zustandsstufen betrachtet und beschreibt, noch auf die Entwicklungsstufen oben „draufgestapelt“.
(Quelle: IntegralSpiritualCenter„Four Paths, Four Destinations“)
(aus: Online Journal 18)
