Architektur des Wachstums

Psychologie / Therapie

Architektur des Wachstums

Ken Wilber

Frage: Ich möchte dich fragen, wie du das machst, wenn du ein Buch schreibst wie beispielsweise Eine kurze Geschichte des Kosmos. Es hat eine evidente, logische Struktur, die Argumentation ist sehr fundiert und rational, wie geht das?

KW: Was man mit einem Buch wie Eine kurze Geschichte des Kosmos macht ist, zu Menschen durch die drei großen Entwicklungsstufen zu sprechen, und zwar die mythisch-traditionelle Stufe, die rational-moderne Stufe, und die postrational-postmoderne Stufe. Man versucht, aus allen drei dieser Stufen heraus zu sprechen, z. B. in dem man Schlüsselworte verwendet, die eine Resonanz zu diesen Stufen haben. Für die traditionelle Stufe sind das grundlegende Prinzipien, Sicherheiten und absolutistische Wirklichkeiten. Für die moderne Stufe sind das Logik und Beweise. Hier geht es um Beweisbarkeit, um Fakten und um logische Argumente. Die Postmoderne hingegen möchte die Innerlichkeiten mit aufnehmen und die Aufmerksamkeit auf die Subjektivität lenken, als einem zentralen Aspekt von Wirklichkeit. Ich versuche daher durch und zu allen diesen drei Ebenen zu sprechen, und man vermeidet dabei Begriffe oder Themen, die für die jeweiligen Ebenen ein „rotes Tuch“ darstellen. Für die traditionelle Ebene – das ist die Ebene, über die ich mir am wenigsten Sorgen mache, weil es nur wenige Menschen auf dieser Entwicklungsstufe gibt, die sich für integrale Ansätze interessieren –, doch es gibt diese Menschen, und daher möchte ich hierzu eine kurze Anmerkung machen: Worauf wir bei einem integralen Ansatz achten ist die Tatsache, dass Menschen „multiple Intelligenzen“ haben. Diesen Begriff hat Howard Gardner vorgeschlagen, und er bedeutet, dass Menschen unterschiedliche Entwicklungslinien bzw. unterschiedliche Fähigkeiten haben. Man kann etwa ein Duzend davon unterscheiden, einschließlich kognitiver Entwicklung, moralischer Entwicklung, ästhetischer Entwicklung und Selbstentwicklung. Es gibt zwei wichtige Entwicklungslinien, die eine Schlüsselfunktion dabei haben, und eine davon ist die kognitive Entwicklungslinie, die beschreibt, was ein Mensch zu denken in der Lage ist, was seine Ansichten sind, die Anzahl von Perspektiven, die jemand in der Lage ist einzunehmen, das Bewusstsein, das jemand hat. Und das andere ist die Selbst-Entwicklungslinie. Das Selbst ist der Bewusstseinsschwerpunkt, aus dem ein Mensch heraus handelt. Die kognitive Linie ist das Reden [talk], und die Entwicklungslinie des Selbst ist das Handeln [walk]. Die kognitive Entwicklungslinie ist meistens der Selbstentwicklungslinie um ein, zwei oder noch mehr Entwicklungsstufen voraus. Menschen können über etwas denken, ohne dies wirklich schon zu verkörpern. Das ist wichtig, weil die meisten Menschen in der westlichen und östlichen Welt, die einen Bildungsweg durchlaufen haben, integral denken können. Doch ihr Bewusstseinsschwerpunkt ist traditionell, modern oder postmodern. Bei 2% – 5% der Menschen ist auch der Bewusstseinsschwerpunkt bei der integralen Entwicklungsstufe. Viele Menschen haben jedoch diese Art von gespaltenem Psychogramm, mit einer kognitiven Fähigkeit, die bis auf die integrale Stufe hinaufreicht, wohingegen ihr Bewusstseinsschwerpunkt, das woran sie glauben und woraus sie handeln, sich auf der traditionellen, modernen oder postmodernen Ebene befindet. Das ist wichtig, weil viele Menschen integrale Ansätze hören und verstehen, und Bücher von mir, Jean Gebser oder Robert Kegan lesen und verstehen können – sie begreifen das kognitiv. Es macht Sinn für sie, und viele finden das aufregend, und sie meinen, dass das, was sie tun integral wäre, auch wenn ihr Bewusstseinsschwerpunkt sich auf der traditionellen, modernen oder postmodernen Entwicklungsstufe befindet. Was die Menschen meisten machen ist, dass sie versuchen ihre gegenwärtige Entwicklungsebene so integral wie möglich zu gestalten. Das bedeutet, dass sie als das Mindeste versuchen, die Quadranten ins Gleichgewicht zu bringen – das Ich, das Wir, das Es (singular) und das Es (plural), über die wir gesprochenhaben. Das entspricht dem Wahren, Schönen und Guten, der Kunst, der Moral und der Wissenschaft. Dies sind unterschiedliche Dimensionen, über die Menschen auf jeder der Entwicklungsstufen verfügen. Wenn Menschen über das Integrale lesen oder nachdenken, dann versuchen sie, auf der Entwicklungsstufe, auf der sie sich befinden, alle vier Quadranten zu integrieren. Das ist eines der ersten Dinge, die dabei passieren. Es gibt Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, die auf der traditionellen Entwicklungsstufe arbeiten und Menschen mit „fundamentalistischen“ Ansichten, und das Integrale kann ihnen dabei helfen, Ich, Wir und Es zu integrieren, auf der traditionellen Ebene. Es gibt Menschen auf der modernen Entwicklungsstufe, der rationalen und formal-operationalen Entwicklungsstufe, die ebenso versuchen alle vier Quadranten zu integrieren. Sie reflektieren auch über die Spirale der Entwicklung, das Spektrum des Bewusstseins, und versuchen auch schon diese mit zu integrieren. Menschen mit einem Bewusstseinsschwerpunkt auf der grünen Entwicklungsstufe und einer integralen Kognition lieben es, die Quadranten zu integrieren. Es gibt sehr viele grüne Ansätze, die sich darauf konzentrieren die Quadranten zu integrieren, doch die Entwicklungsebenen, die Hierarchie der Entwicklung, wird dabei ausgelassen, weil Grün, als die pluralistische Entwicklungsebene gegen jede Art von Hierarchie ist. Dies ist meistens so, weil Grün Wachstumshierarchien und Herrschaftshierarchien verwechselt. Wachstumshierarchien sind gut, die Bewegung von egozentrisch zu ethnozentrisch zu weltzentrisch, doch Herrschaftshierarchien sind wie das Kastensystem, oder kapitalistisch-kolonialistische Bewegungen – das sind Herrschaftshierarchien. Pluralistische Entwicklungsstufen sind so heiß darauf, die Unterdrückung los zu werden, dass sie das Kind mit dem Bade ausschütten. Sie verwerfen auch gleich mit den Herrschaftshierarchien die Wachstumshierarchien – Atome zu Moleküle zu Zellen zu Organismen; oder egozentrisch zu ethnozentrisch zu weltzentrisch. Doch Grün, wenn es sich mit dem Integralen beschäftigt, liebt die Quadranten, und es gibt derzeit viele grüne Ansätze welche die Quadranten integrieren. Dies alles ist gut, und hilft Menschen dabei so holistisch und umfassend und ganzheitlich wie möglich zu werden, innerhalb der Begrenzungen ihrer eigenen Entwicklungsstufe, welche Stufe das auch sein mag.
Das sollte man dabei berücksichtigen wenn es darum geht Menschen zu erreichen, Einfluss zu nehmen und den integralen Ansatz zu verbreiten.

Frage: Glaubst du, dass die Entwicklung und Evolution der unterschiedlichen Gesellschaften notwendigerweise dem Weg folgen muss, der durch die westliche Geschichte beschrieben wird, und auf den du dich oft beziehst?

KW: Im Unterschied zu individuellen Holons durchlaufen Kulturen oder soziale Holons nicht bestimmte Entwicklungsabfolgen. Individuelle Holons entwickeln sich von archaisch zu magisch zu mythisch zu rational zu pluralistisch zu integral usw., nicht indem sie platonischen Formen oder vorgegebenen Mustern folgen, sondern als das Ergebnis sozialen Lernens und kultureller Evolution. Wir begannen als Über-Affen auf der archaischen Entwicklungsstufe, und was dann folgte waren eine Reihe von teilweise freien Wahlmöglichkeiten, die von den frühen Menschen getroffen wurden, und die zur Bildung der magischen Bewusstseinsstruktur führten. Als dann mehr und mehr Menschen die magische Struktur bildeten, wurde sie zu etwas, was ich eine „kosmische Gewohnheit“ oder „kosmische Erinnerung“ nenne. Es bildeten sich Strukturen, die ein Teil von dem ausmachen, was ein Mensch ist. Je mehr diese Struktur wiederholt wurde, desto mehr etablierte sie sich als etwas „Festes“. Etwa um 10.000 vor Christus bildeten sich Nationen, aufgrund bestimmter Gegebenheiten in allen vier Quadranten, einschließlich dem unteren rechten Quadranten, dem Äußerlichen, den Systemen, den techno-ökonomischen Strukturen, an Orten, wo Stämme sich zu größeren sozialen Einheitenzusammenfinden mussten, wo die 12 Stämme Israels beispielsweise sich zu einer Nation zusammenfanden. Dies erforderte einen Wechsel der Nachfolge von der Blutsverwandtschaft, welche charakteristisch für das Magische ist, zu einem Nachfolgewechsel, der unterschiedliche Blutsverwandtschaften verband, und das war nur möglich bei einem mythischen Ahnen, einem Gott. Von diesem Gott konnte jeder seine Abstammung herleiten. Zu dieser Zeit entstehen also überall auf der Welt verschiedene Formen von Gottheiten, zusammen mit der mythischen Entwicklungsstruktur, und dies erfolgte aus einer Reihe von relativ freien Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten, die Menschen überall auf der Welt getroffen haben. Je mehr die mythischer Struktur angewendet wurde, desto mehr verfestigte sie sich als eine Struktur, und wurde zu einer kosmischen Gewohnheit. Diese entwickelte sich weiter, bis zur Zeit der westlichen Aufklärung, mit der rationale Entscheidungen mehr und mehr in den Vordergrund traten, die sich aus dem konkret-operationalen Denken und traditionellen Werten entwickelten. Mehr und mehr Menschen wendeten diese rationalen Ansätze an, und so wurden diese ihrerseits zu Strukturen. In den sechziger Jahren konnten wir dann das Entstehen von pluralistischen Strukturen überall auf der Welt verfolgen, und diese sind immer noch dabei sich zu bilden, weil es sich hier um etwas relativ Neues handelt, wohingegen die magische Struktur mittlerweile so sehr festgelegt ist, dass Menschen, die geboren werden, in einem Alter von etwa 1-3 Jahren sich durch eine magische Periode entwickeln, und zwar überall auf der Welt. Diese kognitiven Strukturen wurden, bis hinauf zur konkret-operationalen Ebene getestet bei Aborigines, den Stämmen der Regenwälder, in der Türkei, Deutschland, Mexiko, Indien, und es handelt sich dabei um universelle Strukturen in Individuen.

Was bei Kulturen, wenn Menschen zusammenkommen, hingegen geschieht ist folgendes: Whitehead sprach davon, dass Individuen eine dominante Monade haben, und dies bedeutet ein einziges Zentrum von Willen und Bewusstheit. Soziale Holons jedoch haben keine dominante Monade. Ein Wir hat, im Unterschied zu einem Ich, keine singuläre Quelle von Intentionalität. Wir drei [in diesem Telefongespräch] bilden jetzt ein Wir, doch dieses Wir ist kein Über-Ich, es ist keine einzelne Einheit, welche die Ursache für unser aller Handeln darstellt. Wohingegen, wenn mein Hund sich dafür entscheidet, den Raum zu durchqueren, dann folgen ihm dabei 100% aller seiner Atome, Moleküle und Zellen, und das ist eine dominante Monade. Gruppen hingegen haben einen dominanten Modus ihrer Austauschbeziehungen. Dies betrifft alle Gruppen, Gänse im Formationsflug, Wolfsrudel und Menschen, die miteinander in Beziehung stehen. Befindet sich die Mehrheit der Menschen einer Gruppe auf einer traditionellen Entwicklungsebene, dann wird der Austauschmodus dieser Gruppe aus traditionellen Werten bestehen. Der Austauschmodus ist ein Teil von dem, was im unteren rechten und im unteren linken Quadranten die Gruppen zusammenhält, zusammen mit der techno-ökonomischen Infrastruktur und den verschiedenen Institutionen und „Habitaten“, Gebräuchen und Gewohnheiten usw., doch oft wird eine Gruppe durch ihren vorherrschenden Austauschmodus identifiziert, und das ist der Grund, warum wir die Entwicklung von Kulturen insgesamt beschreiben können als archaisch zu etwa magisch zu etwa mythisch zu etwa rational, und jetzt pluralistisch. Das bedeutet nicht, dass wenn wir eine Kultur betrachten und feststellen „dies ist eine traditionelle Kultur“, dass sich dann jeder in dieser Kultur auf einer traditionellen Entwicklungsebene befindet. Es bedeutet lediglich, dass der dominierende Austauschmodus traditionell ist. Es kann in dieser Kultur Menschen auf der archaischen und magischen Entwicklungsebene geben, so wie auch Menschen, die rational oder sogar pluralistisch sind. Die Evidenz, die wir haben, sagt sehr klar, dass diese Strukturen die Entwicklung von Individuen beschreiben in all den Kulturen, wo dies überprüft wurde, doch dass bedeutet nicht, dass die Kulturen selbst sich genau in diesen Stufen entwickeln. Die Individuen entwickeln sich entsprechend dieser Stufen, doch eine Kultur kann einen dominierenden Austauschmodus haben, der durch eine ganze Reihe von Faktoren bestimmt wird, und speziell in der modernen Welt gibt es Strukturen in Afrika beispielsweise, wo die Mehrheit der Menschen sich in einem magischen Bewusstseinsmodus befindet, und die Menschen können Artefakte importieren, die von modernen und postmodernen Bewusstseinsmodi produziert wurden, einschließlich Maschinengewehre und Computer. Hier [in Gruppen und Kulturen] geschieht also etwas sehr anderes [als in Individuen]. Es ist daher wichtig sich zu erinnern, dass die Kulturen nicht notwendiger weise eine lineare Entwicklung durchlaufen. Das kurze Beispiel, das ich gerne dafür gebe, ist ein Pokerspiel, an dem sechs Menschen teilnehmen. Nehmen wir einmal an, diese Menschen befinden sich alle auf einer egozentrischen Entwicklungsstufe, die rote Entwicklungsstufe, narzisstisch und machtorientiert. Drei von ihnen verlassen die Pokerrunde, und dafür kommen drei Mitspieler hinzu, die sich in ihrer Entwicklungsstufe auf der pluralistischen Entwicklungsebene befinden. Die Verteilung ist jetzt 50:50, die Hälfte der Pokerrunde spricht in einem egozentrischen und narzisstischen Modus, und die andere Hälfte spricht eine pluralistische Sprache und hat einen pluralistischen Modus. Das Pluralistische versteht den Narzissmus der anderen, doch das gilt nicht umgekehrt. Nehmen wir an, ein weiterer narzisstischer Teilnehmer verlässt die Runde und wird ersetzt durch einen weiteren Mitspieler auf der pluralistischen Entwicklungsebene, dann hat sich diese Gruppe von einem roten, machtorientierten und narzisstischen Austauschmodus zu einem pluralistischen Austauschmodus bewegt, und das sieht so aus, als wenn dabei zwei Entwicklungsstufen [Blau und Orange] übersprungen worden wären. Das ist das, was geschehen kann, wenn eine Struktur entstanden ist. Kulturen können eine dramatische Veränderung erfahren, und das hängt auch von den Artefakten, die dort verwendet werden, ab, und den gegebenen Machtstrukturen und den damit verbundenen Austauschmodi. Die Individuen hingegen müssen sich weiterhin durch die Stufen der Reihe nach hindurch entwickeln. Wir haben schon über den Marxismus gesprochen, als einem Versuch, pluralistische Ideale in traditionelle Ackerbaukulturen einzuführen. Doch das geht definitiv nicht. Das gleich sehen wir heute in der Entwicklung nicht-westlicher Kulturen. Der westlichen Einfluss ist immer noch sehr hoch, – das Thema Globalisierung –, was dazu führt, dass das Wachstum anderer Kulturen unter hohen Spannungen geschieht, und wenn man diese Entwicklungen verfolgen will, sollte man sorgfältig sowohl Quadranten als auch Entwicklungslinien als auch Entwicklungsebenen als auch Zustände und Typologien betrachten. Werden diese Kulturen sich auch linear entwickeln, von einem archaischen zu einem magischen zu einem mythischen zu einem rationalen Austauschmodus? Nein, jedenfalls nicht notwendigerweise. Die Individuen in diesen Gesellschaften entwickeln sich jedoch durch diese Stufen hindurch.

Frage: Sollten sie dabei das westliche Modell übernehmen oder nicht?

KW: Nein, wahrscheinlich nicht, was die einzelnen Entwicklungslinien betrifft. Und noch einmal, dies ist kein entweder/oder, es ist ein sowohl als auch. Es gibt Dinge bei der Globalisierung, die sehr positiv sind, und Dinge, die sehr negativ sind. Das Positive dabei ist, dass in dem Maße, wie die moderne wissenschaftliche Entwicklungsebene gelebt wird, damit auch universelle Rechte für alle Menschen berücksichtigt werden. Damit wird es beispielsweise selbstverständlich, in Ländern der dritten Welt auch Mädchen Schule und Bildung zugänglich zu machen und für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen einzustehen. Die Schattenseite der Globalisierung ist, dass Organisationsstrukturen [corporate structures] globalisiert werden, und Organisationsstrukturen sind Artefakte, die von jeder der Entwicklungsebenen moralisch gesteuert und angetrieben werden können. Die moralische Entwicklung der modernen Entwicklungsstufe ist sehr hoch, es ist eine weltzentrische Moral, die für universelle Menschenrechte eintritt, unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht oder Herkunft. Doch die Artefakte, die durch die Moderne geschaffen wurden, von Maschinengewehren zu Gaskammern, können auch durch prä-moderne Individuen verwendet werden, Menschen, die von Narzissmus und ethnozentrischem Machtstreben angetrieben werden. Praktisch jeder kann ein Maschinengewehr bedienen. Das ist das Problem. Der Moderne wird die Schuld für eine Menge Dingegegeben, die jedoch moderne Artefakte sind, welche von Menschen eingesetzt werden, die durch prämoderne moralische Strukturen getrieben werden. Die Nazis waren ethnozentrisch, sie waren nicht modern, doch sie bedienten sich moderner Technologie und moderner Artefakte. Das ist ein wirkliches Problem, dem wir uns gegenübersehen.
Das gleiche kann im Business passieren. Die Artefakte, Strukturen und Systeme des Business sind im Wesentlichen ein Produkt der Moderne, doch viele Menschen im Business agieren nicht von der moralischen Entwicklungsebene der Moderne aus,  – diese Menschen gibt es auch, es gibt sehr viele moralische Menschen im Business, doch es gibt auch sehr viele unmoralische Menschen im Business, die nur am Profit interessiert sind, sich nicht für die innerlichen Dimensionen interessieren, sich nicht um andere kümmern, und Bewusstsein und Liebe ausklammern. Sie bewegen sich auf einer machtorientierten Entwicklungshöhe, die rote Entwicklungsstufe, wie wir sie nennen, und dieser machtstrebende, egozentrische Antrieb ist sehr verbreitet im Geschäftsleben [corporate life]. Und diese Art von Geschäftsleben spielt eine viel zu große Rolle bei der Globalisierung. Das Ganze wird ein wenig komplex, es lässt sich jedoch unter Verwendung eines integralen Rahmens analysieren, und man kann gut verfolgen, was dabei geschieht. Der Westen ist also nicht für alles ein Modell, das sollten wir dabei berücksichtigen. Es gibt Dinge, die es wert sind, als ein Modell zu gelten, wie Aspekte einer Verfassung, welche die Menschenrechte garantiert, und die Rechte von Gemeinschaften – in einer Ausgewogenheit zwischen Agenz und Kommunion. Doch die konkreten Organisationsstrukturen, und die Art und Weise der Profitorientierung ist wohl nicht als ein Modell geeignet. Kulturen der dritten Welt sind gewaltigen Machteinflüssen von Seiten der Industrienationen, die derzeit die Macht haben, ausgesetzt, und sie werden nicht freiwillig darauf verzichten. Das ist eine bedauerliche Situation, und die Einflussmöglichkeiten darauf sind begrenzt, was ebenso bedauerlich ist.

Frage: Glaubst du, dass der evolutionäre Prozess immer auch eine moralische Entwicklung bedeutet? Gibt es notwendigerweise weniger Gewalt, wenn wir mehr entwickelt sind?

KW: Eine einfache Antwort darauf ist „Ja“, je mehr Entwicklung, desto weniger Gewalt. Der Grund dafür sind die Perspektiven, über die wir schon gesprochen haben. Mit zunehmender Entwicklung „bewohnt“ man konkret den Standpunkt anderer Menschen, man fühlt diese als einen Teil des eigenen Selbst. Je mehr man in und mit den Standpunkten anderer Menschen lebt, desto besser versteht man diese, und damit nehmen die Neigung zu Gewalt und zum Verletzen anderer und zu „Problemlösungen“ ab, die darin bestehen, andere zu töten. Selbst Carol Gilligian, die sagte, dass Männer und Frauen sich mit einer unterschiedlichen Stimme entwickeln, wo Männer Gerechtigkeit, Rechte und Autonomie betonen, und Frauen Beziehungen, Fürsorge und Verantwortung hervorheben – Frauen betonen Kommunion, und Männer Agenz, selbst Carol Gilligan hat also ebenfalls gesagt, dass sowohl Männer wie Frauen sich durch dieselbe Hierarchie des Wachstums entwickeln. Was wir als vier Hauptstufen mit egozentrisch, ethnozentrisch, weltzentrisch und kosmozentrisch bezeichnet haben, nannte sie selbstbezogen [selfish], Fürsorge [care], universelle Fürsorge [universal care] und integriert [integrated]. Selbstbezogen ist die egozentrische Perspektive einer ersten Person. Fürsorge ist die Perspektive einer zweiten Person, ich kümmere mich um dich, meine Familie, meinen Stamm, meine Nation. Bei der universellen Fürsorge beziehe ich alle Menschen mit ein, unabhängig von Rasse, Hautfarbe Geschlecht oder Herkunft. Die integrierte Entwicklungsstufe ist diejenige Stufe, bei der die femininen und maskulinen Stimmen in einem Menschen integriert werden. Die Frau hat dann sowohl die weiblichen Aspekte der Moral, als auch die maskuline Betonung von Autonomie und Rechten und Gerechtigkeit. In all diesen Entwicklungsstufen, ob es sich dabei um die von Kohlberg oder jüngeren Modellen handelt, erweitern sich die Perspektiven, durch welche man die Welt sieht und fühlt. Wenn wir uns die vier Quadranten auf einem Blatt Papier aufzeichnen, mit dem oberen linken Quadranten als dem „Ich“, dem Innerlichen des Individuums, und dem oberen rechte Quadranten als dem „Es“, dem Äußerlichen des Individuums, dann ist der untere linke Quadrant das „Wir“, das Innerliche der Beziehungen, die einen Teil des eigenen in-der-Welt-Seins ausmachen. Und wenn sich das Wir von der Perspektive einer ersten Person zu der einer zweiten Person und weiter zu der einer dritten und vierten Person entwickelt, dann ist das ein Teil von dem, was man als sein Selbst fühlt. Daher nimmt mit zunehmender Entwicklung das Verlangen andere zu verletzen ab, weil immer mehr Menschen zu einem Teil des Wir werden, dem man selbst angehört. Man nimmt ihre Perspektive ein, und das ist der Grund, warum mit zunehmender Entwicklung die Gewalt  abnimmt. Die Schwierigkeit ist dabei jedoch, dass es so viele Menschen auf den unterschiedlichen Entwicklungsstufen gibt, so dass auch in Kulturen mit einem rechtlich verankerten Bewusstseinsschwerpunkt bei, sagen wir, universeller Fürsorge, (was für die meisten westlichen Kulturen zutrifft, deren Gesetze aus dieser Entwicklungsebene stammen), jeder Mensch mit dem kleinen Einmalseins beginnen muss, also auf der untersten Entwicklungsstufe. Man wird also auch in diesen Kulturen Menschen finden, die prä-konventionell und selbstbezogen sind und machtorientiert und narzisstisch handeln. Gleichzeitig gibt es in diesen Kulturen Artefakte, die es diesen Menschen ermöglichen einen enormen Schaden anzurichten. Mit Pfeil und Bogen kann man nicht sehr großen Schaden anrichten. Man kann jedoch einen gewaltigen Schaden mit Saringas oder einer Atombombe verursachen. Das ist eines der Probleme, dem sich die Moderne gegenüber sieht. Jeder beginnt mit dem kleinen Einmalseins, und es gibt drei oder vier Haupttransformationen, die Menschen durchlaufen müssen, bevor sie in der Lage sind eine universelle, weltzentrische Perspektive einzunehmen, bei der sie andere so behandeln wie sie sich selbst behandeln.

Frage: Heißt das, dass der Führer eines Landes der entwickelten Länder der Welt mehr Möglichkeiten hat andere zu verletzen, wenn er moralisch weniger weit entwickelt ist?

KW: Ja, wenn ich dich richtig verstanden habe. Die Mehrheit der politischer Führer in den entwickelten Ländern hat eine moralische Entwicklung, die postkonventionell, weltzentrisch bzw. universell ist …

Frage: Ich meine einen Führer eines der entwickelten Länder, der soziale Rahmenbedingungen einer weltzentrischen Perspektive hat, dessen innerliche ethische Entwicklung jedoch nicht weltzentrisch ist; kann dieser Führer mehr Schaden anrichten als einer der moralisch ebenso wenig weit entwickelt ist, jedoch nicht über entsprechend weit entwickelte soziale Rahmenbedingungen verfügt?

KW: Absolut. Das ist zum Teil, und das sage ich mit aller Vorsicht, ein Problem mit Präsident George Bush. Er führt ein Land, mit im Wesentlichen weltzentrischen rechtlichen Standards, die den modernen und postmodernen Entwicklungsstufen entsprechen. Diese übrig gebliebene „Weltmacht“ hat ein gewaltiges Waffenarsenal, einschließlich Nuklearwaffen, und viele Möglichkeiten Schaden zu verursachen. Diese Waffen wurden geschaffen von einer Kognition der modernen Entwicklungsebene, und diese Entwicklungsstufe der Moderne würde diese Waffen nicht einsetzen, außer zur Selbstverteidigung, und dann auf eine sehr ethische Weise, das heißt so gut wie gar nicht – doch bei jemand mit einem Bewusstseinsschwerpunkt auf der traditionellen Entwicklungsebene, und das trifft für die Werte von George Bush zu, er hat traditionell fundamentalistische Überzeugungen, ist das anders. Menschen wie er glauben, dass ihre Sichtweise der Wirklichkeit, dass ihr Gott und ihr ethisches ethnozentrischesSystem, Teil der politischen Struktur dieses Landes [USA] sein sollte. Und sie arbeiten daran die Gesetze so zu verändern, dass ihre ethnozentrische Moral in die weltzentrische Struktur eingebaut wird. Das ist ein innenpolitisches Problem. Außenpolitisch wirkt diese traditionelle, mythisch konformistische Entwicklungsebene auf eine sehr einseitige Weise. Sie ist nicht darum bemüht Konsens herzustellen, z. B. mit den europäischen Mächten. Sie sagt: „So machen wir es, basta.“

Frage: Das erzeugt Gegenreaktionen.

KW: Extreme Gegenreaktionen. Unsere europäischen Verbündeten sind durch George Bush alarmiert. Der einzige ,der ihm ein Stück weit zur Seite gestanden ist, war Tony Blair, das war eine heroische Position, und ich bewunderte Blairs Bemühen, George Bush mit den Europäern im Dialog zu halten. Das war etwas Gutes. Dafür bekam er natürlich eine Menge Kritik, weil es so aussah, als würde er lediglich George Bush unterstützen. Doch das ist das Problem, dieses einseitige: „Wir machen es richtig, und ihr könnt dem zustimmen oder auch nicht.“ Das ist ein katastrophaler Weg, speziell in einer Welt, deren internationaler Austauschmodus sich auf der pluralistischen Entwicklungsebene befindet. Zwei Ebenen darunter befindet sich der traditionelle Austauschmodus, und das ist katastrophal, und das bereitet hinsichtlich George Bush Sorgen. Sogar sein Vater, der auch Republikaner war, erreichte einen Konsens mit allen europäischen Mächten vor dem Engagement in Kuwait. Doch George Bush Junior tut nicht einmal das, und das zeigt eine wirklich traditionell ausgerichtete Wertestruktur. Das ist extrem problematisch. 

(Quelle: Integral Naked, An Interview with Myriades Teil 4)

(aus: Online Journal 14)

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