Terry Patten
Theistische Mystik ruft eine Beziehung zu Gott hervor. Wie jede Beziehung, entfaltet sich auch diese ultimative Beziehung als ein Drama. MystikerInnen habe auf unzählige Weisen die Geschichte dieser ultimativen Beziehung erzählt. Sie sie alle beschreiben, wie die Leidenschaft des menschlichen Herzens erweckt und befreit wird durch ein Ringen auf Leben und Tod, mit dem Ziel der Vereinigung mit dem oder der GELIEBTEN.
Viele dieser Erzählungen lesen sich wie folgt:
- Unwissenheit. Der Mensch beginnt seine Reise in Unbewusstheit, im Unglücklich-sein, in der Krise und unwissend.
- Unruhe. Der Mensch beginnt unzufrieden zu sein, und sich seines Leidens, seiner Verdammnis oder Entfremdung bewusst zu werden.
- Einsicht. Es beginnt metanioa, Reue, Erkennen – die Bewusstheit des Leidens und der Selbst-Kontraktion sowie der Wille und die Bereitschaft, Gewohnheiten zu überwinden und sich einer Praxis zu unterziehen, die das Selbst transzendiert. Manchmal führen diese Einsichten zu einer„Bekehrung“ zu einer Religion und ihrem Gründer (ihren Gründern).
- Hingabe. Das Herz öffnet sich und wird bereit für eine Liebesbeziehung mit dem GEIST und allen Dingen; dies ist der Beginn eines Lebens in Hingabe und Dienst. Gnade wird erfahren, (als die Kraft und Macht göttlicher Segnungen). Dies wird manchmal auch als Rettung oder Heil [salvation] bezeichnet. Durch Hingabe und Demut wird Willensstärke entwickelt, Unangenehmes kann toleriert werden, und eine Schülerschaft entsteht, welche die Anhaftungen an das getrennte Selbst überwindet.
- Transformation. Eine Tortur und ein Leidensweg schließt sich an, der sich über Jahre und Jahrzehnte erstrecken kann. Dieser Weg beginnt mit einer Reinigung innerhalb des normalen, am äußerlich grobstofflichen orientierten Leben. Dann begegnet man den unterschiedlichen subtilen Erfahrungen, mit Erlebnissen von Erleuchtung und Reinigung, und das Erleben erweitert sich zu einer stillen und leeren „dunklen Nacht“, zu einem Bereich jenseits von Licht und Seligkeit.
- Einsicht. Hier findet ein entscheidender Übergang statt, in dem man vom Traum des Lebens erwacht. Dies ist die spirituelle Verwirklichung, die manchmal auch mit „Erleuchtung“ bezeichnet wird.
- Vereinigung. Hier beginnt das höhere spirituelle Leben, und das umfasst das Verehren, Umarmen, Erwachen zum Dienst und zur Feier mit dem oder der göttlichen Geliebten, die nun in allen Menschen und Dingen gesehen werden.
Im höheren spirituellen Leben kann die Stufe 7 sich vertiefen, indem die darin enthaltenen Stufen 2-6 immer wieder durchlaufen werden.
Es gibt viele sich einander ähnelnde Beschreibungen dieser dramatischen Romanze. Eine der maßgeblichsten Beschreibungen darüber sind die mystisch christlichen, universalistischen und theosophischen Passagen, wie sie von Evelyn Underhill beschrieben wurden[1]. Ihr Modell beginnt mit der Stufe des Erwachens zum GEIST (das entspricht den Stufen 1-4 oben). Daraus entwickelt sich die Stufe 5 (oben), die sie Reinigung nennt, speziell den Körper, die Leidenschaften und Gewohnheiten betreffend. Daran schließt sich ihre Stufe der Erleuchtung an, mit verschiedenen „Stationen“ oder „inneren Wohnungen“[2] zunehmend subtilerer Erfahrungen. Dann wird bei ihr eine kausale „dunkle Nacht“ beschrieben, in welcher alle subtilen Erfahrungen von Licht und Gnade verschwinden. Danach führt der weitere Weg zu einer nichtdualen Vereinigung mit Gott.
Eine andere, sehr bekannte Struktur dieser Geschichte spirituellen Wachstums ist die einer „Heldenreise“, in der viele Dramen durchlebt werden, einschließlich eines Kampfes mit der Unterwelt, einer Nemesis[3] und einer Rückkehr zum Licht des Wissens und der (Wieder-) Erlangung der eigenen wahren Herkunft.
Bei diesen universellen Dramen geht es um Leidenschaft, Streben, Kampf, Rückschläge und eine ekstatische Vereinigung. Dieser Weg ist fordernd, dramatisch, leidenschaftlich und persönlich. Er inspiriert das Herz und mobilisiert die machtvollsten menschlichen Motivationen. Dies ist der Weg der Verwirklichten und Heiligen aller großen monotheistischen Religionen. Zu ihm gehört eine spezielle Kraft, Tiefe und Fülle. Durch ihn werden die nobelsten, zärtlichsten und leidenschaftlichsten Reflexe der menschlichen Natur herausgefordert. Auf diesem Weg werden die universellen Bereiche grobstofflicher, subtiler, kausaler und nichtdualer Zustände mit all ihren Möglichkeiten durchquert.
Eine integrale Spiritualität transzendiert alle Gesichtspunkte und schließt sie mit ein. Das paradoxe Verständnis im Herzen wahrer Nichtdualität hat allen Platz für das gesamte Spektrum dualistischer Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten (einschließlich der dramatischen mystischen Romanze mit dem oder der göttlichen Geliebten) erscheinen dann als einstrahlender Ausdruck von Dem oder Der jenseits aller Dramen und Veränderungen.
Es gibt Einsicht, Reue und Praxis. Wir können uns ins Göttliche verlieben, mit Ihm oder Ihr in Gemeinschaft sein, und diese noch vertiefen in einer mystischen Vereinigung. Wir können dabei die dunklen Nächte der Trennung erleiden als eine Prüfung, die uns immer weiter führt und uns vorbereitet für eine noch tiefergehende Verwirklichung. Wir können unsere archetypischen Geschichten (er)leben, ohne uns dabei durch eine unbewusste Identifikation an sie zu binden. Je integraler die eigene Perspektive dabei ist, desto mehr Zugang haben wir zur Fülle eines mystischen Lebens und Erwachens.
[1] A. d. Ü.: in ihrem 1911 erschienenen Buch Mystik.
[2] A. d. Ü.: in Anlehnung an das Buch Die innere Burg von Teresa von Avila.
[3] A. d. Ü.: Nemesis (griech.: Νέμεσις) ist in der griechischen Mythologie die Göttin des „gerechten Zorns“ sowie diejenige, die „herzlos Liebende“ bestraft. Sie wurde dadurch auch zur Rachegottheit. (Aus: Wikipedia).
(Quelle: Integral Life Practice, p. 225 Ken Wilber, Terry Patten, Adam Leonard und Marco Morelli)
(aus: Online Journal 19)