Schuldenkrise und soziale Transformation

Gesellschaft

Schuldenkrise und soziale Transformation

Fritz Bläuel und Michael Habecker (2011)

Im Excerpt A des geplanten zweiten Bandes der Kosmos Trilogie (Band 1 ist Eros Kosmos Logos) weist Ken Wilber im Part III The nature of revolutionary social transformation auf die Bedeutung des unteren rechten Quadranten für alle anderen Quadranten hin, und auf die wichtigen Einsichten von Karl Marx diesbezüglich. Wilber schreibt:

Man bekommt schnell ein Gespür für die bedeutenden Ideen die Karl Marx verfolgte, wenn man sich die aktuelleren Arbeiten dazu ansieht, wie z. B. die von Gerhard Lenski über die Beziehung zwischen techno-ökonomischen Produktionsmöglichkeiten und kulturellen Praktiken. Mit einer erschreckenden Uniformität finden wir, dass gleiche techno-ökonomische Modi die gleichen Wahrscheinlichkeiten für bestimmte kulturelle Praktiken hervorrufen. In einfachen Worten, die techno-ökonomische Basis einer Gesellschaft gibt in erheblichem Maß vor was sich dort ereignet, was Marx zu der berühmten (sinngemäßen) Aussage führte „Es ist nicht das Bewusstsein welches die Wirklichkeit des Menschen bestimmt, sondern die materiell-ökonomischen Wirklichkeiten in denen der Mensch lebt, bestimmen das Bewusstsein … Wir müssen nicht Marx’ Tendenz, den unteren rechten Quadranten zu verabsolutieren folgen, und können doch den enormen Einfluss des UR Quadranten auf Bewusstsein und Kultur würdigen.

Die Haushaltskrise vieler Staaten der Welt ist ein Krankheitssymptom das sich im UR Quadranten zeigt, dessen Auswirkungen aber alle Quadranten und Entwicklungsebenen massiv erfassen. Es wurde über Jahrzehnte versäumt Ausgaben und Einnahmen (ohne Schulden) in ein Gleichgewicht zu bringen, was – negativ besetzt – mit dem „Stopfen von Haushaltslöchern“ als eine minderwertige Politik angesehen wurde, mit Konsequenzen für die Weltbevölkerung die noch nicht abzusehen sind. Dabei wird deutlich dass die enormen Fortschritte einer globalen Transformation, die nach dem zweiten Weltkrieg in Teilen der Welt erreicht wurden, auf finanzpolitisch wackeligen Füßen stehen – und mit ihnen unser kulturelles und soziales Zusammenleben. Wir stehen vor einem transformatorischen Schritt, und es kann in beide Richtungen gehen, aufwärts zu einer nachhaltigen globalen Finanzwirtschaft, oder (erst einmal) abwärts zu Zusammenbruch und Krise. Die integrale Landkarte leistet in dieser Situation eine unverzichtbare Hilfestellung. Die folgenden drei Beiträge beleuchten die Situation von unterschiedlichen Standpunkten aus. Der erste Beitrag ist von allgemeiner Natur, der zweite widmet sich der Situation in Griechenland, und der dritte Beitrag beleuchtet die der Krise zugrundeliegende Problematik und gibt einen Lösungsausblick.

Nachhaltiges Haushalten (Michael Habecker)

Eines der Dinge, die ein Sprung vom first tier zum second tier, den Entwicklungsmodelle wie das von Clare Graves oder Abraham Maslow nahe legen, beinhalten könnte, ist der Schritt von einer auf Raubbau („wie nehmen uns was wir brauchen“) angelegten Wirtschafts- und Umgangsweise hin zu einem auf Nachhaltigkeit basierenden Miteinander. Bei Letzterem verbraucht man nicht mehr als man hat, und dies lässt sich nicht nur auf unsere ökologischen Lebensräume anwenden, wo eine nachhaltige Holzwirtschaft bedeutet, nicht mehr Holz zu schlagen als nachwächst, sondern z. B. auch auf unsere Finanzwirtschaft, wo Nachhaltigkeit bedeutet nicht mehr auszugeben als man hat oder einnimmt, und zwar ohne Schulden zu machen. Schulden bedeuten in einer nachhaltigen Wirtschaftsweise eine gut begründete Finanzierungsausnahme und keineswegs die allgemeine Regel. Doch wir haben uns in einem unglaublichen Ausmaß in den zurückliegenden Jahrzehnten in einem Leben „auf Pump“ eingerichtet, individuell und kollektiv, sowohl was die Haushalte von Individuen wie auch die von Organisationen und die des Staates betrifft. Es gehört auf den ersten Blick zu den großen Rätseln unserer Zeit, wie aufgeklärte und postmoderne Menschen, Organisationen und Staaten so naiv sein konnten zu glauben, dass das permanente Schuldenmachen ohne Konsequenzen bleiben würde. Auf den zweiten Blick jedoch, und unter Berücksichtigung der Spirale der Entwicklung, nach welchem Modell auch immer, wird dabei klar, dass wir offenbar längst nicht so weit entwickelt und vernünftig-modern sind wie es scheint, sondern uns nach wie vor gerne in einem magisch/mythischen Wunschdenken aufhalten, wie „morgen kommt der Weihnachtsmann und bezahlt alle Schulden“, oder uns ganz offen einer Egozentrik verschrieben haben wie „nach mir die Sinnflut“ oder „lebe jetzt (und zahle irgendwann später), koste es was es wolle“. Länder wie Griechenland sind dabei lediglich die Spitze eines Eisberges, in dem sich die meisten Staaten dieser Welt wiedererkennen können.

Am Beispiel der aktuellen Not Griechenlands sehen wir, was wir seit Jahrzehnten schon wissen aber nicht sehen wollten: wer in einer rechtsstaatlichen Ordnung auf Dauer über seine Verhältnisse lebt geht irgendwann pleite, egal ob als ein Individuum oder kollektiv, und egal wie viele Rettungsschirme dabei aufgespannt werden. Dies gilt für die aktuellen Problemstaaten wie Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und aktuell auch Italien, doch es gilt natürlich auch für die meisten anderen europäischen Staaten und auch die Supermacht USA, die trotz ihrer Stärke und Größe bisher nicht in der Lage ist ihre Haushalte zu konsolidieren, sondern sich in immer neuen Verhandlungsrunden darauf zu verständigen sucht die Schuldenobergrenze zu erhöhen, was etwa ebenso erfolgreich ist wie die Bekämpfung der Alkoholkrankheit durch die Erhöhung der Promilleobergrenze.

Auf der funktional-systemischen Seite, dem unteren rechten Quadranten, ist sowohl Ursache wie auch Lösung einer Haushaltskrise von einer schlichten Einfachheit: wer mit dem Geld auskommt was er hat erlebt keine Schuldenkrise. Anders ausgedrückt, wer mindestens so viel einnimmt (ohne Schulden) wie er ausgibt, braucht sich kein Geld zu leihen und dafür Zinsen zu bezahlen, und das gleiche gilt für denjenigen der nicht mehr ausgibt als er hat. Warum ist es so schwierig sich daran zu halten? Die Gründe liegen, wie nicht anders zu erwarten, auf der Bewusstseinsseite, den linksseitigen Quadranten, wo Wünsche, Ängste, Intentionen und Motive zu Hause sind. Es ist sehr viel leichter und für die meisten Menschen auch angenehmer Geld auszugeben als es zu erwirtschaften, und es ist sehr viel einfacher nur an sich und das Heute zu denken als auch noch die Perspektiven anderer mit einzubeziehen, und die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Zukunft zu berücksichtigen. Dies bedeutet nicht, dass es nicht auch strukturelle Gründe für die Schuldenkrise gibt, wie die Organisation des Bankenwesen und der Kapitalmärkte, doch eine Systemveränderung alleine wird nicht zu einer Lösung führen, wenn nicht auch das Thema Bewusstheit (oder Unbewusstheit) mit berücksichtigt wird.

Niemand weiß wie sich diese Krise weiterentwickeln wird, und ob es zu einer Konsolidierung der angeschlagenen Haushalte kommt, mit den entsprechend harten Maßnahmen und den daraus folgenden unabsehbaren Folgeentwicklungen, oder ob es zu Staatsbankrotten kommt, mit ebenso unabsehbaren Folgewirkungen. Wir habenes dabei mit der Gruppendynamik von ganzen Nationen zu tun. Dennoch lassen sich auf eine einfache Weise die (individuellen und kollektiven) Bewusstseinsfaktoren benennen, die eine Lösung fördern beziehungsweise behindern, und dies sind im Hinblick auf eine Lösung Faktoren wie
a) Solidarität, Einsicht, Vernunft, Gerechtigkeit, Verantwortung, Integrität, Anständigkeit, konstruktiver Umgang mit schwierigen Emotionen (wie Ärger, Angst, Wut, Neid), Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und Kompetenz.

Bewusstseinsfaktoren die zu einer Verschlimmerung der Situation führen sind ebenso leicht auszumachen:
b) Egoismus, Betrug, Korruption, Lüge, Schuldzuweisungen in Form von Projektionen, Vertuschung, Ungerechtigkeit und Inkompetenz.

Es fällt auf, dass ein Tugendkatalog wie unter a) aufgeführt nicht Neues ist, sondern schon in vielen traditionellen Bewusstseinsstrukturen und „goldenen Regeln“ empfohlen (oder befohlen) wird, und dass dazu kein integrales Bewusstseins notwendig ist. Die Rettungsmöglichkeiten aus der Krise (neben strukturellen und systemischen Korrekturen) sind daher nicht neu sondern uralt, und können, befreit von ihrem dogmatischen Geschmack, auf eine neue Weise wiederbelebt und gelebt werden, durch Menschen die sie verkörpern, angefangen „ganz oben“, in der Politik und (Finanz)Wirtschaft, aber dann auch ganz persönlich und konkret angewandt auf jeden einzelnen selbst, mit Fragestellungen wie: wie weit bin ich selbst solidarisch, ehrlich, vernünftig, gerecht, verantwortlich und kompetent in meinen Gedanken, Worten und Taten?

Die Haushaltskrisen der letzten Jahrzehnte, die jetzt unübersehbar unseren gemeinschaftlichen Zusammenhalt gefährden, und die strukturelle und vor allem kulturelle Aufbauarbeit im Nachkriegseuropa und der ganzen Welt ins Wanken bringen können, sind eine Herausforderung zu innerem und äußerem Wachstum. Dabei geht es nicht nur um den gewaltigen Sprung zum second tier, zu einer Wirtschafts- und Umgangsweise vom Raubbau zur Nachhaltigkeit in allen unseren Lebensbereichen, innerlich und äußerlich, sondern es geht auch um eine Wiederentdeckung und buchstäbliche Wiederbelebung von „alten“ Tugenden, die auch auf den oberen Entwicklungsstufen nichts von ihrer Aktualität verloren haben, sondern unverzichtbare Säulen einer zivilisierten und aufgeklärten globalen Kultur und Gemeinschaft sind.

Versuch einer Meta-Analyse der Schuldenkrise Griechenlands mittels der integralen Landkarte nach Ken Wilber (Fritz Bläuel)

Ich wähle den Begriff „Meta“ für diese Analyse deshalb, weil sie die Flut von Analysen und Berichten, denen wir in letzter Zeit ausgeliefert waren, in ihrer Gesamtheit in Betracht zieht und nicht so sehr versucht, einen bestimmten Aspekt des Problems oder eine bestimmte Lösung zum Fokus zu machen. Es geht mir mehr darum, die integralen Werkzeuge dazu zu benützen, den Wust dieses, man könnte fast sagen „Informations-Tsunamis“, etwas aufzuräumen und einen Überblick über die Situation zu schaffen, so weit das geht.

Dieser Informations-Tsunami besteht in einer Flut von Meldungen und Analysen aus so vielen Ecken und Perspektiven, deren hohes Tempo und schiere Masse etwas Bedrohliches haben kann, und zumindest recht verwirrend ist. Viele der Meldungen, die als Teilwahrheiten notwendig und in sich richtig sind, verstellen in der Vermittlung durch die Medien, denen es oft auch um Sensationslust geht, eine ganzheitliche Perspektive für den Betrachter/Hörer, und nehmen ihm oder ihr die Möglichkeit zu erkennen was eigentlich los ist und wie es mit uns allen weiter gehen könnte. Es folgt Abgrund auf Abgrund, und wenn eine positive Meldung auftaucht, wird sie Tags darauf durch das Statement eines „Spezialisten“ als falsche Hoffnung entlarvt.

So hören wir zum Beispiel: 

  • Dass die Krise mit Griechenland ein gutes Ende nehmen wird, wenn man die Laufzeiten der Kredite ein bisschen streckt und die Banken wenigstens teilweise mitmachen.
  • Dass rein mathematisch null Chance besteht, dass Griechenland seine Kredite je bedienen können wird und dass der Schuldenberg mehr steigen wird als sinken. 
  • Dass die Ratingagenturen zusätzlich dafür sorgen, dass sich das auch bei bestem Willen aller Beteiligten nicht ausgeht.
  • Dass Ratingagenturen zum Glück rechtzeitig gewarnt hätten, da sonst alles noch viel schlimmer gekommen wäre.
  • Dass eine Umschuldung einen für die EU und vielleicht die ganze Welt gefährlichen Dominoeffekt haben könnte, der keinesfalls riskiert werden darf.
  • Dass eine Umschuldung der einzige wirklich ehrliche nächste Schritt wäre.
  • Dass die „Empörten“ am Athener Syntagma-Platz ihren Politikern und der EU „Mörder-Diebe-Lügner“ zurufen und damit auch nicht aufhören werden, egal, was die Politiker tun oder beschließen.
  • Dass der Hang zu Vetternwirtschaft, Steuerhinterziehung und Bestechung so tief in der griechischen Volksseele sitzt, dass nicht damit zu rechnen ist dass sich das jemals ändert.
  • Dass einige hunderttausend zu meist unkündbare Staatsbeamte, die es zu viel gibt, so und auch anders nicht finanziert werden können. 
  • Dass selbst wenn diese in die Privatwirtschaft entlassen werden könnten, das soziale Gefüge durch das plötzliche Ungleichgewicht am Arbeitsmarkt zusammenbrechen würde.
  • Dass in Griechenland der Ruf nach „echten Patrioten“ laut wird, die endlich diesen ganzen Sumpf der hausgemachten griechischen Misere aufräumen sollen und im selben Aufwaschen auch den „Ausverkauf Griechenlands an fremde Mächte“ stoppen sollen.
  • Dass als Gegenstück dazu in nördlicheren Ländern Stimmen laut werden, die z. B. sagen „Unser Geld für unsere Leut‘ “ (Strache in Österreich, FPÖ, deren Umfragewerte sich den 30% nähern).
  • Dass ein versetzter griechischer Lokführer (die griechische Bahn ist das unrentabelste aller Staatsunternehmen) nun in einem Kellergeschoß unter einem Krematorium in Athen bei unerträglicher Hitze als Teil einer Reinigungskolonne schier verzweifelt.
  • Dass griechische Lokführer bis jetzt einen monatlichen Zuschuss von €420,- für „Händewaschen“ erhalten haben.
  • Dass in keinem anderen Land Europas die Polizei ein derart schlechtes Image hat und derart verachtet wird.
  • Dass die Kriminalität in Griechenland in rasantem Anstieg begriffen ist.
  • Dass, wenn man die Polizei wegen eines Überfalls anruft, diese möglicherweise nicht kommen kann, da sie aus Geldmangel keinen Sprit im Einsatzauto hat.
  • Dass z. B. Privat-Ärzte mit Nettoeinkommen von mehr als €100.000,- im Monat gegenüber dem Finanzamt € 7.000,- Jahreseinkommen angeben.
  • Dass Ärzte in Krankenhäusern so schlecht bezahlt werden, dass sie ohne gewisse „Nebeneinkünfte“ (das inzwischen berühmte „fakelaki“) mit ihren Familien tatsächlich nicht über die Runden kämen.
  • Dass es ein Irrglaube ist, dass sich Staaten durch Sparen gesundschrumpfen können, weil dabei notgedrungen die Wirtschaft kaputtgeschrumpft wird.
  • Dass Griechenland den Gürtel enger schnallen und noch mehr sparen muss. Das bedeutet aus griechischer Sicht: Der rechtzeitigen Auszahlung der nächsten Tranche des bereits genehmigten Kredits ist alles unterzuordnen, auch wenn die Maßnahmen, die dafür gefordert werden, noch so hart und für viele Betroffene unfair sind.
  • Dass Kleingewerbetreibende sagen, dass sie weiter Steuern „sparen“ werden, da sie sonst nicht über die Runden kommen, schon gar nicht jetzt in der Krise.
  • Dass der Staat 3.000 Beamte, die er anderswo einspart, zu Steuerprüfern umschulen wird, damit genau dieses „Steuersparen“ nicht mehr möglichist.
  • Dass Tausende Athener, die an den Tagen der Krawalle am Syntagma-Platz waren, noch Tage danach wegen des Tränengases der Polizei mit Husten zu kämpfen hatten, und dass ein guter Teil von ihnen ernsthaft der Meinung ist, jetzt in einer Diktatur zu leben.
  • Dass viele Politiker und auch Banker in der EU die Schaffung einer EU-Ratingagentur unterstützen, um sich gegen die amerikanische Vorherrschaft in dieser Domäne zu wehren.
  • Dass amerikanische Analysten die EU und den Euro mehr oder weniger als Fehlgeburten und daher von Natur aus schwach darstellen. So können sie die Krise und ihre Aussichtslosigkeit als völlig natürlichen Prozess, den sie längst vorausgesehen hätten, erklären.

und so weiter und so fort…
Was ist zu tun mit diesem Schlamassel?

Als eine Art von Selbstverteidigung sehen ich vor allem zwei Möglichkeiten, die praktiziert werden: sich in die eigene Entwicklungsebene zurückzuziehen (oder in die nächste darunter) und dadurch genau zu wissen, wie dumm und schuld die jeweils „anderen“ sind. Diese Position gibt einem einegewisse Sicherheit bezüglich einer Situation über die man eh keine Kontrolle hat. Die zweite Möglichkeit besteht darin keine Nachrichten mehr zu lesen. Dies ist besonders auf der egozentrischen Bewusstseinsstufe und im New-Age verbreitet, und verspricht vorübergehenden Seelenfrieden, oft noch gepaart mit einer (Schaden)Freude am Untergang. Wir wollen hier aber, nachdem uns diese zwei Möglichkeiten wohl verschlossen sind, wie schon eingangs gesagt, einen dritten Weg beschreiten. Dieser Weg besteht darin, sich der Gesamtsituation zu stellen, so wie sie sich durch all die Perspektiven und Prismen, die wir zu sehen und zu hören kriegen, präsentiert. Wenn wir obige Meldungen oder Sichtweisen auf der integralen Landkarte verorten, stechen besonders drei Aspekte heraus:

Die Sichtweisen, die (1.) auf Entwicklungswellen beruhen, die welche (2.) eher Quadranten zuzuordnen sind und die (3.) kultur-evolutionäre Sicht.

1. Entwicklungsstufen

Das Aufeinandertreffen der Entwicklungsstufen des Bewusstseins, ist das wohl offensichtlichste an dieser Konfliktsituation. Ich möchte hierfür vorrangig die Spiral-Dynamics Farbbezeichnungen verwenden, da diese auch durch die Verbreitung von Büchern wie dem Buch Gott 9.0 gerade populär sind. Spiral-Dynamics ist eines der Modelle, die in den zurückliegenden Jahrzehnten entwickelt wurden, um Bewusstseinsstufen bzw. Weltsichten oder Wertesysteme und ihre Entwicklung im Laufe des Lebens (die ontogenetischen Forschungen) oder der Entwicklung der Menschheit (phylogenetische Forschungen), darzustellen (vgl. Abb.1). Ken Wilbers Verdienst ist es, dass er diese in der Postmoderne sehr stiefmütterlich behandelten Systeme zusammentrug, sie miteinander verglich und wunderschön darstellen konnte, dass sie sich nicht nur weitgehend decken und so universell und kulturübergreifend gültig sind, sondern auch, dass sich die phylogenetischen und die ontogenetischen Stufen ähneln, wir also im Laufe unserer persönlichen Entwicklung im Schnellgang die Stufen durchlaufen, die die Menschheit im Laufe von Jahrtausenden zurückgelegt und entwickelt hat.

Die an diesem Spiel Hauptbeteiligten sind: 

  • Die rote Entwicklungsstufe: egozentrisch/präkonventionell, auf persönlicher Macht beruhend, das Ich ist am wichtigsten.
  • Die blaue Entwicklungsstufe: ethnozentrisch/traditionalistisch, mit Gesetz und Ordnung
  • Die orange Entwicklungsstufe: weltzentrisch/modern, mit Fairness und Gewinnorientiertheit.
  • Die grüne Entwicklungsstufe: weltzentrisch/postmodern – Liebe und Ablehnung von Hierarchien.


Abb.1: Übersicht über die Entwicklungsebenen (Aus: Ganzheitlich Handeln, Ken Wilber, Arbor 2001, S. 34)

Die ganze Farbpalette ist in Griechenland im Gegensatz zu Mitteleuropa um einige Prozent Richtung Rot verschoben (Abb.2). Grob geschätzt (mir ist keine Untersuchung mit konkreten Zahlen zu Griechenland bekannt) sind das einige Prozent weniger Grün und Orange, dafür einige Prozent mehr Blau und Rot als in Mitteleuropa.

Abb. 2: Verteilung der Entwicklungsebenen in Populationen (Beispiele, aus: Ganzheitlich Handeln, Ken Wilber, Arbor 2001, S. 135)

Fangen wir bei Grün an, der postkonventionellen Weltsicht der Pluralisten. Sie deckt sich weitgehend mit den Begriffen 68er und der politisch Grünen.

Dies ist wohl die kleinste Gruppe und sie ist, wie gesagt, in Griechenland besonders schwach vertreten. So hat auch die politische Partei der Grünen bei den letzten Nationalratswahlen 2009 nur 2,5% der Stimmen erreicht und ist nicht im Parlament vertreten. Die grüne Bewusstseinsstufe ist bei den friedlichen „Empörten“ am Syntagma-Platz zu finden und meint in Anbetracht der vielen Polizei und deren Tränengaseinsätze (mit denen Spezialeinheiten der Polizei gegen die mit Schlagstöcken und Molotowcocktails angreifenden „Autonomen“ vorgeht) sich jetzt sicher zu sein, dass sie in einer Diktatur lebt. Daher muss sie kämpfen.

Ihre Anhänger sind voller Hoffnung, dass das die Revolution ist die Griechenland verändern wird, und sie haben eine Vision von einem Neuanfangs Griechenlands wo alle gleich sind, wo Gerechtigkeit herrscht und wo nicht mehr die Reichen und die Mächtigen die anderen unterdrücken. Sie meinen auch, dass die Autonomen von der Regierung (den „Diktatoren“) bezahlt sind, um der Polizei ein Alibi zu geben, das Volk (sie, die „Empörten“) anzugreifen und unterdrücken zu können.

Die Grünen sind natürlich die sensibelste Gruppe in dem Konflikt und ich denke, dass für sie momentan ein enormer Lernprozess abläuft. Sie erzielen meinem Gefühl nach durch die Hartnäckigkeit mit der sie auf dem Syntagma-Platz ausharren eine gewisse Wirkung auf die Politiker, bei denen es offensichtlich viele gibt, denen es wirklich leid tut, dass ihre Polizei gegen die intelligentesten und fortschrittlichsten Menschen des Landes vorgehen muss. Immerhin stellen ja die herrschenden Sozialdemokraten die Regierung mit dem größten Anteil an grünem Fühlen und Denken, den es je in einer griechischen Regierung gegeben hat. Hier steht also eine orange-grüne Regierung, die gegenüber den europäischen Partnern voll die orange Seite herauskehrt, gegen eine Menschenmenge mit einem großen Anteil von Orange und Grün. 

In dieser Menschenmenge gibt es natürlich auch viele blaue (Traditionalisten/ Nationalisten) und auch rote (sich nur an ihrer persönlichen Agenda orientieren) Anteile, und zwar auf beiden Seiten. Wir finden blau und rot sowohl bei der Polizei als auch bei den aggressiveren Teilen der Demonstranten, die einerseits einen Hardcore-Nationalismus zur Schau stellen, der schon peinlich ist, und wo andererseits die Autonomen pure rote egozentrische Gewalt auf die Straße bringen. Sowohl Blau als auch Rot genieren sich dabei nicht, zwischen ihren Attacken das Ausland immer wieder daran zu erinnern, dass Griechenland das Geburtsland der Demokratie ist, und dass es dort schon eine hochentwickelte Kultur gab als andere noch „auf den Bäumen saßen“.

Wie schon angedeutet steht der Regierung eine weitgehend orange Troika gegenüber, aber daraus entsteht kein Konflikt im engeren Sinne – Orange verhandelt mit Orange. Orange steht ja für Ratio, vernunftbetontes Umgehen mit Zahlen und Fakten, aber auch eine Fokussierung auf den Erfolg des eigenen Teams. Da zählenProzentsätze, Strategie und Taktik. Natürlich hat man da ein bisschen einen blauen „Unterbauch“, also ein gewisses Maß an Loyalität gegenüber der eigenen Partei, Nation oder Bank. Man will ja die nächste Wahl nicht unbedingt verlieren, aber auch in diesem Punkt versteht man sich.

Die Konflikte sind vielmehr innerhalb der Länder und zwischen den Ebenen oder Wellen des Bewusstseins zu finden, als zwischen den Ländern. So hadert in Griechenland eine orange-grüne Regierungspartei mit einer stark blauen konservativen, nationalistischen und populistischen Oppositionspartei (deren eher orange-orientierte Mitglieder anfangen auszutreten) und kleinen linken und rechten Oppositionsparteien, die auch eher dem blauen Lager, oft schon mit ein paar Rottönen, angehören. 

Dazu passt sehr gut, dass diese sehr „patriotisch gesinnten“ Oppositionsparteien, wie sie selbst betonen, neben den Sparmaßnahmen die Privatisierungen von Staatsbetrieben oder den Verkauf von Küsten oder Inseln (Originalzitat: „Würden Sie ihre Kinder verkaufen?“) und vor allem die ohnehin bescheidenen Kürzungen beim Verteidigungsbudget kritisieren. All das sei „Verrat am Vaterland“.

Zu diesem Oppositionsszenarium kommen dann die Gewerkschaften, die wütend um ihre Rechte aber auch Privilegien kämpfen, die teilweise im Gegenzug für die eigene Wählerstimme über die Jahre erkauft wurden. Als ein Beispiel sei die Gewerkschaft des staatlichen Stromproduzenten ΔΕΗ genannt, die mit dem Abdrehen des Stroms immer rücksichtsloser wird. So kam es gerade während dieser Text geschrieben wurde zu zwei Fällen, wo es wegen Stromabschaltungen fast Tote gegeben hätte. Im einen Fall konnte eine Geburt in einem Krankenhaus nur mittels der LEDs von Handys und Schlüsselbund der Familienmitglieder zu Ende gebracht werden – der Generator des Krankenhauses ging nicht an -, und im anderen Falle war ein Beatmungsgerät in einer Intensivstation zum Stillstand gekommen, da das UPS irgendwann aufgab. Durch Mund zu Mund Beatmung konnte der Kranke gerettet werden. Es gibt also einerseits eine starke blaue Identifikation mit dem „wir sind wir“ der meist sozialistisch oder kommunistisch orientierten Gewerkschaften, aber auch eine gewisse Portion roter Rücksichtslosigkeit. Die ständigen Stromunterbrechungen waren für einen Monat angesetzt.

Ein Einschub zum Thema „Rot und Griechenland“

Es mag verwundern, dass ich blau und rot fast gemeinsam abgehandelt habe. Für mich besteht darin eine Besonderheit Griechenlands. Das Blau ist ein sehr unreifes Blau welches stark von roten Strömungen durchzogen ist, während das noch weit verbreitete Rot ein sehr altes und reifes Rot ist, das in gewisser Weise den Charme Griechenlands ausmacht. Das meine ich ernst und recht positiv. Gesundes Rot heißt ja auch Freude an sinnlichen Erfahrungen haben und diese spontan zu zeigen, egal ob laut oder nicht. Es hat mit dem Eros zu tun den man hier spürt, und auch mit der Bereitschaft einem anderen spontan zu helfen anstatt zu warten bis eine Institution das tut. Bei einem Autounfall beispielsweise bleiben sofort alle stehen und schauen ob sie helfen können, einer nimmt den oder die Verletzte(n) mit und rast mit ihm/ihr ins Krankenhaus. Da werden die Scheinwerfer aufgedreht, die Warnblinkanlage angemacht, fest gehupt und alle anderen Verkehrsteilnehmer verhalten sich als käme die Rettung daher. Keiner fragt nach ob das ernst oder nur eine Spinnerei aus Lust und Laune war. Willkür hat hier einen festen Platz im Leben der Menschen, und ein Handschlag zählt mehr als ein Vertrag. Spontanes Tanzen und Singen sind nicht von Griechenland wegzudenken. Alexis Zorbas war nicht umsonst ein Rollenmodell so mancher 68er. Die Retroromantik in puncto Schönheit und Wildheit der Prämoderne hatte und hat immer noch eine unglaubliche Anziehungskraft, und in Griechenland konnte und kann man sie immer noch schmecken.

Man könnte diese griechische Spezialität auch „kultiviertes Rot“ nennen. Es klingt wie ein Widerspruch, aber am Beispiel Autofahren heißt das, dass die Griechen einen fließenden Autoverkehr mit sehr freundlichem Klima bzw. Stil zustande bringen, obwohl man sich nur sehr andeutungsweise an die Verkehrsregeln hält. Wenn einer gegen die Einbahn fährt tobt niemand los, sondern man geht davon aus dass der einen Grund hat gegen die Einbahn zu fahren, wie z. B. auf kürzerem Weg ans Ziel zu gelangen. Das eigene Ego wird dabei nicht zurückgesteckt sondern ist so groß, dass da für die Großzügigkeit gegenüber anderen Platz ist.

Irgendwie drängt sich mir die Vermutung auf, dass vieles, was in der griechischen Kultur (und anderen mediterranen Kulturen) so prämodern anmutet, in dieser Kultur eine Art Kultivierung durchgemacht hat, die jedoch nicht zur nächsthöheren Stufe geführt hat, und trotzdem eine hohe Reife hat, als eine Art Perfektionierung von Translation. Hierher gehört auch der Hang der Griechen zu Drama und Tragödie. Es werden Konfliktsituationen oft maßlos übertrieben, so als ob man sich durch diese Heftigkeit in der Mitteilung Aufmerksamkeit eines (Macht-)Gottes erzwingen könnte, der dann eine Lösung findet. Wenn das nicht stattfindet wird einfach irgendwann nachgelassen, und wenn der Dampf abgelassen ist geht das Leben weiter. Zu diesen Szenen braucht es hier keine Krise, das kann jederzeit wie aus dem Nichts beginnen. Speziell wenn jemand auch nur ein bisschen zu Schaden kommt kann das schnell wieder aufhören, da es in gewisser Weise nicht ernst gemeint war, was man sich jedoch nicht vorstellen kann während die heftige Szene noch läuft.

Ein gutes Bespiel, wie sehr auch diese scheinbar sehr roten Auftritte am Syntagma-Platz, diese Kuriosität widerspiegeln ist folgende Begebenheit: während den Kämpfen zwischen Polizisten und Demonstranten ist einem Polizisten eine Tränengasgranate in der Hand explodiert und hat ihm einen Finger abgerissen. Sofort wurden alle Kampfhandlungen eingestellt und alle in größerem Umkreis machten sich auf die Suche nach dem Finger. Der Finger wurde gefunden, in ein feuchtes Tuch gewickelt, mit dem Polizisten ins Krankenhaus geschickt und dort erfolgreich angenäht. Das heißt, es wurde der Spielcharakter des Ganzen kurz sichtbar, und die Beteiligten kehrten ihre anderen Ebenen heraus: der Blaue fühlte sich dem Landsmann (griechisch: Sym-Patriotis, also „Mit-Patriot“) verpflichtet, der Orange der Vernunft und der Grüne dem Mitgefühl. 

Leider schützt die Übung im Umgang mit Rot auch die Griechen nicht vor der Gesetzmäßigkeit, dass es auf der Spirale einen Schritt zurück geht wenn Gefahr in Verzug ist, und das gewohnte Bezugs- und Versorgungssystem wackelt. Dann gibt es neben dem, was ich als ein altes, kultiviertes Rot bezeichnet habe, plötzlich ein „unreifes“ und gefährliches Rot. Dieses wirkt sich ganz besonders schlecht auf die ethische Entwicklungslinie aus. So ist die Kriminalität in Griechenland sprunghaft im Ansteigen begriffen. Ein weiteres Beispiel ist, dass die ohnehin schon geschwächten Fischbestände in der Ägäis laut Zeitungsmeldung seit dem letzten Jahr um 50% zurückgegangen sind. Verbotene Schleppnetze in Küstennähe und das Fischen mit Dynamit, was schon der ursprüngliche Grund der schwachen Bestände war, und das man schon unter Kontrolle zu haben glaubte, nehmen jetzt wieder krass zu. Dazu kommt noch das Harpunieren bei Nacht mit Lampe und Sauerstoffflaschen. Alle drei Methoden sind strengstens verboten, aber es fehlen die Kläger, die Richter, und offensichtlich das Gewissen (das eine Domäne des gesunden Blaus wäre).

Dass immer mehr Rot in die anderen Bewusstseinsstufen „hineinbrodelt“, je mehr sich die Krise verschärft, wird auch durch die Daten des Meinungsforschungsinstituts Kappa Research gezeigt, deren am 11.7.2011 veröffentlichte Umfrage aussagt, dass 49,6% der Griechen handgreifliche Attacken gegen Parlamentarier nicht verurteilen.

2. Die 4 Quadranten oder Perspektiven

Abb 2: Die 4 Quadranten bzw. Perspektiven (aus: Integrale Vision, Ken Wilber, Kösel 2007, S. 98)

Ein großer Teil der Streitereien stammen nicht nur aus der Inkompatibilität und „Verfeindung“ der Bewusstseinsstufen, sondern auch daher, dass die Vertreter der jeweiligen Meinung sich aus einem bestimmten Quadranten heraus orientieren und den anderen gegenüber sehr ignorant sind. Dies führt zu einer Inkompatibilität der Beschreibungen der Wirklichkeit bzw. der Krisensituation.

Links Oben, die Sicht des Einzelnen von innen

Dazu gehören das Gefühl der Unsicherheit und oft auch Angst, dass durch die Vorfälle und Meldungen bewirkt wird, sowie das Absinken des moralischen Niveaus einzelner und der Sorge um Besitz und Sicherheit der Übrigen.

Weiterhin gehören hierher Meldungen mit Beschreibungen des Unglücks einzelner Betroffener, wie die des ehemaligen Lokführers oder Verletzter oder Tränengasgeschädigter am Syntagma-Platz. Speziell das Magazin Der Spiegel hat sich dieser Art von Berichten sehr angenommen. Hier wird nicht analysiert sondern es wird nur beleuchtet was sich da unmittelbar auf diese Person auswirktund wie von dieser Person das Leid oder die Ungerechtigkeit erlebt und beschrieben wird. Heilung und Besserung wird hier in mehr Menschlichkeit und Verstehen der anderen im Sinne von Eingehen auf den Einzelnen gesucht.

An diesem Punkt sei auch daran erinnert, dass Griechenland zu Recht in dem Ruf stand, gerade im LO Quadrantenbereich gegenüber den anderen europäischen Ländern zu punkten: bis vor Kurzem haben die Griechen ihre individuelle Lebensqualität als sehr hoch eingestuft, sie hatten die niedrigste Selbstmordrate und höchste Lebenserwartung Europas. Der Grieche fühlte sich reich, ohne dass das sehr viel mit seinem tatsächlichen Besitz zu gehabt hätte. Auch fühlten die meisten sich eher als Philosophen und (Lebens-)Künstler, denn als Arbeiter, Manager oder Hausfrauen. Dieses typisch griechische Lebensgefühl wird wohl der Hauptverlierer der Krise sein.

Rechts oben (Verhalten des Einzelnen von außen betrachtet)

Dazu gehören als Spiegelung im Außen, den Einzelnen betreffend, mit Zahlen und Angaben wie das Ansteigen der privaten Konkurse, der Selbstmordrate (40% mehr in den letzten 12 Monaten, aber mit 6,5% insgesamt ist dies immer noch deutlich geringer als in Deutschland oder Österreich), und der Kriminalität. Auch die Aktionen der Einzelpersonen, die z. B. all ihr Geld von der Bank abzuheben (für den Fall dass diese bald zusammenbricht), oder einen Garten anzulegen, um etwas zum Essen zu haben, wenn alles zusammenbricht, gehört zum äußerlichen persönlichen Bereich. Verhalten dieser Art ist natürlich die Entsprechung zu den Ängsten und Unsicherheiten im Linken Oberen Quadranten, und beides hat einen massiven Einfluss auf die unteren beiden Quadranten, die kulturelle und soziale Dimension.

Links Unten (Kollektives von innen gefühlt und gelebt)

Hierzu gehören die Eigenheiten der Entwicklungsstufen, wie ich sie schon oben beim Thema rot-blau angedeutet habe. Hierher gehören auch die Subkulturen, die sich daraus entwickelt haben: die Clans, die das Land letztlich sehr beeinflussen und auch weitgehend noch beherrschen – kaum mehr als ein Dutzend Familien haben den größten Teil der Macht und des Reichtums in ihren Händen. Ein richtiger Clan besitzt neben den Betrieben, mit denen er das meiste Geld macht (oft Reedereien), auch eine der großen Fußballmannschaften, eine Tageszeitung und/oder eine Fernseh- und Rundfunkanstalt, und manchmal auch noch den größeren Teil einer Bank. Man ist also rundherum gut abgesichert und bemerkbar. Die Menschen fühlen sich damit einerseits nicht ganz wohl, da sie ja wissen, dass die angeblich 600 Milliarden Euro, welche die Griechen angeblich auf schweizerischen Konten liegen haben, wohl zu einem guten Teil diesen paar Familien gehören, andererseits spürt man so etwas wie Ehrfurcht vor den Clans, wie es früher Feudalherren gegenüber üblich war. Man hat meistens auch eine Vorliebe für die politische Partei des bevorzugten Clans, was bei einem der drei politischen Clans (Karamanlis, Mitsotakis, Papandreou) nahe liegt, aber auch bei den anderen eine Rolle spielt. Man sieht dann schon eher deren Fernsehkanal und vor allem ist man bei der entsprechenden Fußballmannschaft ein so treuer Fan, dass es oft zu Ausschreitungen kommt. 

Dann gibt es auch noch Zünfte, die sogenannten „geschlossenen Berufe“, die natürlich auch auf der Abschussliste der Troika stehen, was schon die ganzen letzten Jahre für Streiks und Straßensperren gesorgt hat. Dazu gehören vor allem die Taxis und die Speditionen, aber auch die Zivilingenieure, Rechtsanwälte, Apotheken und etliche andere.

Um den Blick von Griechenland weg nun wieder auf die Gesamtsituation zu richten: es gibt diverse Klüngel oder „Subkulturen“ natürlich auch in den Geberländern. Die „Finanzwelt“ scheint so ein Club mit mehreren Abteilungen zu sein. Dazu gehören auch mächtige „International Players“ wie die Ratingagenturen, die von Amerika aus ihren eigenen Kulturkrieg gegen die Eurozone führen, wie manche Autoren behaupten, und andere bedeutende Wir-Räume mit wichtigen Entscheidungsträgern. Dazu gehört der Wir-Raum der Engländer, die unter anderem den Finanzplatz London stützen und deshalb z. B. jeden Vorstoß der anderen Nationen in Richtung einer europa- oder gar weltweiten Finanztransaktionssteuer torpedieren. Die Finnen wiederum, durch den Blickwinkel ihrer neuen rechtspopulistischen Regierung, finden, dass das Ganze sie überhaupt nicht mehr so viel anginge. Weiterhin sind zu nennen die Gruppe der Banker, die sich – in kräftigem Orange mit so machen roten Flecken – dadurch profilieren, dass sie als Dompteure der ach so sensiblen (manche sagen „manisch-depressiven“) Märkte die Schlüsselrolle schlechthin zu spielen vorgeben, dann die Politiker, die in dieser Krise besonders deutlich zeigen, ob sie sich ihrer Karriere, ihrer Partei, ihrer Nation, der EU oder womöglich allen Menschen verpflichtet fühlen. Und hierher gehören auch die Modelle der verschiedenen Richtungen von wirtschaftspolitischen Schulen, die in zwei große Gruppen zerfallen, die sich ebenfalls wieder an jeweils entgegengesetzten Seiten des Quadrantenmodells orientieren: 

a) solche, die die rechtsseitigen Quadranten für entscheidend halten und eher auf staatliches Eingreifen vertrauen und an gesetzlichen Regelungen und Steuererhöhungen schrauben.

b) diejenigen, welche ihre Hoffnungen mehr auf die linksseitigen Quadranten setzen, und für die eine freie Wirtschaft bzw. Anreize für Unternehmer wichtig sind, und die Systeme bevorzugen, die für Deregulierung der Märkte, weniger gesetzliche Eingriffe und meistens auch weniger Steuern eintreten. 

Rechts Unten (Kollektives von außen betrachtet)

Hier tobt sich die Mehrheit der Analysten der Situation aus, und hier finden wir die vielen miteinander interagierenden Systeme wie IWF, EU, Europäische Zentralbank, der private Bankensektor, diverse politische Systeme (Länder, Staaten, Zonen innerhalb der EU wie die Euro-Zone) und wie man sieht auch das Rechtssystem: So prüft das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Klage, nach der die Hilfen an Griechenland verfassungswidrig gewesen wäre. Zum rechten unteren Quadranten gehören natürlich auch die Dynamiken der Finanzsysteme an sich, der politischen und sozialen Systeme aller Beteiligter, sowie deren wirtschaftlicher Systeme und das Inneinandergreifen all dieser. 

Dadurch entstehen Regel- und Rückkoppelungskreisewie das Modell, das man in Griechenland gerade versucht, das heiß diskutiert wird, und zu dem die beiden großen Parteien in Griechenland völlig konträre Positionen beziehen. Unterschiedliche systemische Abläufe und „Teufelskreise“ haben Konjunktur, zum Beispiel: Sparen senkt die Staatsausgaben und Steuern erhöhen die Staatseinnahmen, womit die Schulden bedient werden können. Doch beides führt auch zu einem Rückgang des Inlandkonsums und damit der Wirtschaftlichkeit der Unternehmen, worunter die Wirtschaft leidet, was zu weniger Steuereinnahmen führt, was wiederum eine weitere Runterstufung durch eine Ratingagentur auslöst, worauf sich die Kreditzinsen erhöhen … Also lieber doch nicht Sparen, und schon gar nicht die Steuern erhöhen?

Die Berichterstattung reibt sich die Hände und ist ganz in ihrem Element. Sie springt von einem System und damit einer Perspektive zur nächsten – die Ergebnisse sind jeweils sensationell oder katastrophal oder beides, womit hohe Auflagen garantiert sind – , und vergrößert die Fragmentierung noch mehr, da unlösbare Situationen – und die Sicht aus nur einer Perspektive liefert eine unlösbaren Situation – offenbar viel „geileren“ Journalismus ermöglichen als das mühsame Ausbalancieren unterschiedlicher Perspektiven. Auf der Strecke bleibt der überforderte Leser.

3. Schlussbetrachtung (Entwicklungsperspektive)

Alle erwähnten Meinungen bzw. Perspektiven enthalten Teilwahrheiten. Von keiner auf einen Quadranten oderauf eine Entwicklungsstufe beschränkten Darstellung aber sollte man sich blenden lassen, auch nicht wenn sie „die Lösung“ oder die völlige Unlösbarkeit propagiert.

Das Ganze ist wohl im Wesentlichen ein Entwicklungsthema und in seiner Gesamtheit unter Einbeziehung aller Ebenen und aller Quadranten zu sehen, bei voller Berücksichtigung der darin enthaltenen natürlichen Spannungen.

Ausblick:

Alles was einer Entwicklung hilft sollte nun Vorrang haben. Und dabei meine ich weniger die berühmten Milliarden sondern vor allem Kommunikation. Das Problem ist doch die Kluft zwischen inkompatiblen Perspektiven und Weltsichten, genauer, dem eher orange-grünen Norden und dem orange-blau-roten Süden. Die EU müsste den Südländern erklären, warum diese langfristig mit der EU besser fahren. In einem Internet-Forum zu diesem Thema hat es ein Teilnehmer auf den Punkt gebracht, indem er, allen EU-Bashern zum Trotz schrieb, „Die EU ist ein Friedensprojekt und der Euro die zugehörige Währung“. Damit hat er, denke ich, sehr gut auf den Punkt gebracht, was die EU ihren Mitgliedern und vor allem denen im Süden vermitteln sollte. Wenn die EU eine Firma wäre, mit Kunden, die so wenig Ahnung von ihren Produkten hätten wie die Südländer vom den Vorzügen der EU – jenseits des Abmelkens von Förderungsgeldern – würde sie, ja müsste sie eine Werbekampagne ohnegleichen starten.

Andererseits, wenn man bedenkt, wie viele Tote ein vergleichbarer integrativer Prozess, also die Bildung eines halbwegs harmonischen Staatenbündnisses in einem Territorium, das vergleichbare Unterschiede in den Bewusstseinstufen umfasst, noch vor 150 Jahren im amerikanischen Bürgerkrieg gefordert hat (beim Sonderbundskrieg in der Schweiz war es ähnlich und es ist kaum länger her), kann man gar nicht hoch genug schätzen, mit welch friedlichen Mitteln dieser Konflikt heute über die Bühne geht.

Zur Situation innerhalb Griechenlands

Sowohl die Empörten, die mehr als die Hälfte der Bevölkerung hinter sich haben, als auch die Politiker auf der anderen Seite zeigen, dass sie nicht zurück in die Prämoderne wollen und viel Mut und Bereitschaft an den Tag legen, die nächsten Schritte zu gehen. Eine persönliche Beobachtung hat mich in dieser Hinsicht auch positiv überrascht: wir leben hier am Land in einer schönen Küstengegend, wo jedes Jahr zu Ostern die Menschen, die in die Städte gezogen sind, zu Besuch kommen. Das hatte regelmäßig zu Unmengen von Müll am Straßenrand geführt, da man es sich gut gehen lässt und alles was man im (meist neuen) Auto nicht brauchte, aus dem Fenster warf. Heuer habe ich festgestellt dass kaum Müll am Straßenrand zu finden ist. Das heißt, die Menschen denken um, was ihren Umgang mit und ihre Verantwortung für den Raum angeht, den sie mit anderen teilen. Das ist gar nicht rot und es ist ziemlich neu.

Bis weitere Veränderungen in Richtung moderner oder postmoderner Verhaltens- und Denkweisen sich entwickeln, wird man es sich hier, nehme ich an, in der Krise so gemütlich machen wie es eben geht, und man wird dabei wohl auch reichlich auf die alten Denk- und Verhaltensmuster zurückgreifen. Dabei möchte ich die Möglichkeit einräumen, dass es sich dabei teilweise auch um höhere Stufen handeln könnte. Die Prä-Transverwechslung funktioniert ja in beide Richtungen.

Auch der Produktion von guten landwirtschaftlichen Produkten und einem naturnahen Tourismus steht dabei nichts im Wege. Die fast völlige Abwesenheit von Industrie, die mit der sehr schwach vertretenen orangen Bewusstseinswelle speziell am Lande einhergeht, wird den Standort Griechenland dabei eher auf- als abwerten. Ebenso bieten sich Anlagen zur alternativen Energiegewinnung an und es steht ihnen reichlichst Sonne zur Verfügung. 

Die scheint weiterhin auch in der Krise – ungebremst – und offensichtlich auch völlig unbeeindruckt von allen hier dargestellten Problemen, Sichtweisen dieser Probleme undVersuchen, sich darüber einen Überblick zu verschaffen.

Und wenn man genau hinsieht: Krise gab es in Griechenland schon immer und Bankrotte auch – nämlich fünf seit der Gründung des modernen Griechenlands. Mit beidem kann man offensichtlich leben und – allen Theorien zum Trotz – mit einer beachtlichen Lebensqualität.

Geben und Nehmen

Fritz Bläuel und Michael Habecker

Neben vielem anderen ist die Schuldenkrise vor allem eine Krise einer der zentralen zwischenmenschlichen Austauschbeziehungen, der Beziehung von Gebenund Nehmen. Gläubiger geben (Geld) um zu nehmen (Zinsen, als einen Preis für die Überlassung von Geld), und Schuldner nehmen (Geld), und geben dafür (Zinsen). Offenbar haben sich die Gläubiger in den letzten Jahren (oder Jahrzehnten) über-geben, d. h. sie haben auch dann noch gegeben, als eigentlich schon klar war dass eine volle Zurückzahlung mit Zinsen nicht mehr möglich sein wird, und haben dabei spekuliert (und sich ver-spekuliert). Ebenso haben sich viele Schuldner in den letzten Jahren über-nommen, in der schon erwähnten Überschätzung ihrer Leistungsfähigkeit und frei nach dem Motto „lebe jetzt und zahle später“. Eine Lösung der Schuldenkrise, und eine Heilung dieser gestörten Austauschbeziehung wird daher beide Seiten (be)treffen, Gläubiger wie Schuldner, da beide Verantwortung für die Situation tragen.

Die Gläubiger werden Verzicht üben müssen, unter welcher Bezeichnung auch immer (Enteignung, Forderungsverzicht, Tilgungsaussetzung, Rückkauf unter Wert, Schenkung …), und damit ihren (auch finanziellen) Beitrag zu einer Lösung leisten, als den Preis für spekulative Erwartungen und eine unrealistische Schuldnereinschätzung. Die Schuldner ihrerseits müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass es nicht gut tut auf Dauer über die eigenen Verhältnisse zu leben, und ihren Teil der Verantwortung übernehmen, indem sie ihre Haushalte konsolidieren, sich verantwortlich zeigen und einen Teil ihrer Schulden begleichen. Dabei geht es nicht nur um einen Transfer von Mitteln und neuen Vertragsbedingungen, sondern um eine neue Form des Miteinanders, mit V-Qualitäten wie Verständnis, Verzicht, Verantwortung, Vertrauen und – buchstäblichen – Entschuld(ig)ungen auf beiden Seiten. Diese Aufgabeist eine große Aufgabe, mit Chancen und Lernmöglichkeiten für eine soziale und kulturelle Transformation – mit neuen, bewussteren und nachhaltigeren Formen von Austauschbeziehungen zwischen Menschen, Institutionen und Nationen.

Auf einer persönlichen Ebenen können wir beides auch in uns entdecken, den Gläubiger (oder die Gläubigerin), in uns der (die) Forderungen an jemand hat (materiell, immateriell), und den Schuldner in uns, der Verbindlichkeiten eingegangen ist. Eine innere Fragestellung kann dabei sein: wie kann ich beide Teile von mir (und in mir) versöhnen und bewusster leben, für gesündere Austauschbeziehungen mit anderen Menschen?

Auch die Ebene des Teil-Seins eines größeren Kollektivs, eben der EU, bewusst zu leben, ist eine spannende Herausforderung in unserer Zeit, wo die Evolution sich zu neuen Höhen aufschwingt – wenn wir nur mitschwingen. Die EU wird, auf ihrem Weg zu so etwas wie den Vereinigten Staaten von Europa, durch die Krise mehr oder weniger gezwungen, eine neue Qualität an Gemeinsamkeit zuzulassen, die den ethnozentrischen Bewusstseinsanteilen in uns und unseren Politikern bisher gar nicht geheuer war.

Die Identifikation ausschließlich mit der eigenen Nation wird durch etwas Neues stückchenweise aber doch immer mehr ersetzt. Alte Identifikationen aufzugeben macht immer auch Angst. “Was, die in Brüssel sollen das Sagen haben? Dieses bürokratische Babylon?” – oder was immer die Vorurteile sein mögen, hinter denen wir uns so gerne verschanzen.

Hier könnte die Fragestellung lauten: wie weit bin ich mir selbst meiner eigenen Ängste und Vorurteile bewusst und was kann ich zu dem kollektiven Prozess durch dieses Bewusstsein beitragen?

So könnte der Form gewordenen Spirit auf seiner langen Reise zu seiner ureigensten Natur, die nächste Stufe von Transzendieren und Inkludieren bzw. Umarmen in den kollektiven Quadranten unseres Kontinents verwirklichen.

Das – und nur das – würde uns alle als Gemeinschaft dann in die Lage versetzen, die enormen kollektiven Probleme, von Klima zu Finanzen zu Migration zu Terror etc., tatsächlich auch kollektiv zu lösen.

Fritz Bläuel

Geschäftsführender Gesellschafter der Firma Bläuel Greek Organic Products. Geboren 1952 in Wien. Einige Jahre Medizinstudium, Teilnahme an diversen emanzipatorischen und alternativ-politischen Projekten. 1978 nach Griechenland ausgewandert. Einige Jahre buddhistischer Einsiedler. Schüler von Trungpa Rinpoche, Autorisierung als Meditationslehrer. Heirat mit Burgi Kerck 1983 – 2 Kinder und Aufbau der Bio-Exportfirma. Pionier des ökologischen Landbaus in Griechenland. In den 90er Jahren Aufbau von Shambhala Griechenland. Danach Therapie- und Coaching-Ausbildung. Alles fand schließlich seinen Platz im Integralen. So auch das 2004 gegründete Seminarzentrum. http://www.blauel.gr/

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