Integral Research

Wissenschaft

Integral Research

Michael Habecker

Integrale Forschung (oder Integral Research) ist von Anbeginn an ein wesentliches Anliegen von Ken Wilber und anderen, die sich mit dem integralen Ansatz beschäftigen. Ohne eine Rückbindung an das, was Ken Wilber mit „weiter Wissenschaft“ [broad science] bezeichnet, als eine Wissenschaft die nicht auf eine naturwissenschaftliche Perspektive reduziert ist, sondern alle Erkenntnisweisen der Menschheit umfasst, bleibt die integrale Theorie und Praxis „bloße Metaphysik“, und ist damit auch uninteressant für weite Teile des nicht nur akademischen Mainstreams.

Was könnten Untersuchungsbereiche einer integralen Forschung sein?

Das für Wilber Interessierte Naheliegendste und auch Bekannteste ist die Anwendung der integralen Theorie in Form von AQAL (alle Quadraten, alle Entwicklungsebenen, alle Entwicklungslinien, alle Zustände und alle Typen) auf ein Interessen- oder Fachgebiet. Dies führte und führt zu einer Fülle von Veröffentlichungen unterschiedlichster Bereiche wie integrale Medizin, integrale Ökologie, integrale Politik, integrale Spiritualität und vielem mehr. Menschen, die Experten oder interessierte Laien eines oder mehrerer Fachgebiete sind, bedienen sich des integralen Ansatzes und wenden ihn auf ihr Gebiet an, um zu sehen, was dabei herauskommt.

Eine weitere Möglichkeit zu integraler Forschung besteht darin, den integralen Ansatz Wilbers „auf Herz und Nieren“ bezüglich seiner Aussagen zu prüfen, sowohl was die Grundannahmen („Orientierungsverallgemeinerungen“) betrifft, als auch hinsichtlich der Schlussfolgerungen, die Wilber und andere aus diesen Grundannahmen ziehen. Diese Diskussion wird praktisch parallel zu den Veröffentlichungen Wilbers geführt, mit einem Spektrum von sehr sachlich bis sehr polemisch. Die von Frank Visser eingerichtete Webpage www.integralworld.net vereinigt eine große Anzahl von Wilber-Kritikern. Darüber hinaus findet jährlich eine Integral Theory Conference (ITC) statt, bei der über 500 Teilnehmer aus der ganzen Welt kritische und auch weiterführende Beiträge zur integralen Theorie und Praxis präsentieren und diskutieren (siehe hierzu den Bericht der Konferenz 2010 von Dennis Wittrock auf www.integralesleben.org).

Ebenso untersuchungswert ist der Anspruch der integralen Theorie, eine „Theorie von allem“ zu sein. Hierbei lassen sich Fragen stellen wie:

  • Stimmt der Anspruch (oder gibt es etwas, was in dieser Theorie keinen Platz hat)?
  • Ist die Landkarte (AQAL) optimal, oder gibt es bessere Möglichkeiten einer Definition von Strukturelementen zur Wirklichkeitsbeschreibung?
  • Wie kann sichergestellt werden, dass die Landkarte sich mit dem Wissensfortschritt weiter entwickelt?

Interessant sind auch vergleichende Untersuchungen der von Wilber entwickelten AQAL Theorie und anderen Theorien mit integralem Anspruch. Wilber selbst betont immer wieder, dass die von ihm entwickelte integrale Landkarte nicht integrale Landkarte ist, sondern lediglich diejenige, die er für am umfassendsten hält, was ihren Erklärungsrahmen angeht. Doch vielleicht gibt es andere Landkarten, die Wirklichkeit besser erklären und beschreiben. Um das herauszufinden helfen vergleichende Studien nach dem Motto: Wer ist am integralsten und welche Landkarte ist am umfassendsten?

Ein besonderes Untersuchungsobjekt ist der von Wilber entwickelte Methodenpluralismus, als eine Metatheorie mit dem Anspruch alle Seins- und Erkenntnisweisen der Menschheit in einen umfassenden Erklärungsrahmen zu stellen, mit der Möglichkeit der Ableitung von Aussagen wie:

  • Worin liegt die Größe (der Untersuchungsbereich) einer Erkenntnisperspektive und Methode?
  • Wo sind die Grenzen  einer Erkenntnisperspektive und Methode (was kann diese nicht erklären und beschreiben)?
  • Wie hängen alle Methoden miteinander zusammen?

Weitgehend unbemerkt von einer auch integral interessierten Öffentlichkeit ist bereits einiges zum Thema Integral Research veröffentlicht worden, und zwar in dem von suny press[1] verlegten Journal of Integral Theory and Practice (JITP)[2]. Insgesamt drei Ausgaben dieses noch jungen Journals (5. Jahrgang) widmen sich vollständig dem Thema Integral Research, und zwar die Ausgaben Vol. 3, No. 1 (2008); Vol. 3, No. 2 (2008) und Vol. 5 No. 2 (2010).

Auch unter der Adresse www.integralresearchcenter.org/source finden sich eine Reihe von akademisch orientierten Veröffentlichungen zur integralen Theorie und Praxis, von denen drei  im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Der Beitrag A Multi-Method Approach to Investigating Phenomena, veröffentlicht 2006 im dem akademischen Journal Constructivism in the Human Sciences,war der erste Beitrag zu integraler Forschung. Der Autor Sean Esbjörn-Hargens, der auch Herausgeber des JITP und Co-Autor des Buches Integral Ecology ist, widmet sich intensiv diesem Thema. Ein Beitrag, den Esbjörn-Hargens zusammen mit Ken Wilber unter dem Titel Toward a Comprehensive Integration of Science and Religion: A Post-Metaphysical Approach geschrieben hat wurde im Oxford Handbook of Religion and Science 2006 veröffentlicht. Dieser Beitrag ist ein Beispiel, wie der Integrale Methodologische Pluralismus (IMP) die Forschung zu einer Integration von Wissenschaft und Religion unterstützen kann. Eine sehr gute Einführung zur Integralen Theorie stammt ebenfalls von Esbjörn-Hargens. Sie wurde unter dem Titel An Overview of Integral Theory: An All-Inclusive Framework for the 21st Century veröffentlicht. Eine deutschsprachige Übersetzung findet sich auf der Webseite: www.integralesforum.org.

Im deutschsprachigen Raum ist das Institut für Integrale Studien (IFIS) http://www.ifis-freiburg.de/ um die Förderungen integraler Studien mit Veranstaltungen und Publikationen bemüht. Eine Auflistung von Links zu Akteuren integraler Forschung findet sich auf der IFIS-Webseite unter http://www.ifis-freiburg.de/node/151.

Ebenfalls im deutschsprachigen Raum aktiv ist das Deutsche Kollegium für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie (DKTP), mit Kongressen, Symposien und Weiterbildungen. Aus der Homepage des DKTP: „Wir fördern die interdisziplinäre Zusammenarbeit von WissenschaftlerInnen und ForscherInnen und treten für die Belange der Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie in Lehre, Forschung und Weiterbildung an Hochschulen und vergleichbaren wissenschaftlichen Einrichtungen ein.“ (Mehr auf der Webseite: http://www.dktp.org)

[1] http://www.sunypress.edu/p-5108-journal-of-integral-theory-and-practice-quarterly.aspx

[2] Früher erschien das JITP unter dem Titel AQAL Journal.

(aus: Online Journal 30, Oktober 2011)

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