Enneagramm integral

Psychologie / Therapie

Enneagramm integral

Vom Schubladendenken zu wahrer Erkenntnis und Entwicklung – Das Enneagramm aus integraler Perspektive

Veit Lindau

Das Enneagramm ist ein macht­volles Werkzeug der Erkenntnis. Doch jede starke Medizin kann sich in den falschen Händen in Gift ver­wandeln.

Der Mainstream-Umgang mit dem Enneagramm ist ein gutes Beispiel für eine klassische Prä-Trans-Verwechs­lung. Ursprünglich ein radikaler Weg der Selbsterkenntnis, führt es, wenn von ei­nem unreifen Ego gelesen oder gehört, nicht zu einer Lösung aus der Egozentrik, sondern lediglich zu verstärktem Schub­ladendenken: „Ah, du bist also eine Eins! Deswegen bist du immer so…“ Anstatt unsere Identifikation mit dem Ego zu erschüttern, werden die Informationen vom Ego benutzt, um die Rollenbilder noch mehr zu verfestigen. Eine integrale Perspektive hingegen würdigt nicht nur die Stärken des Systems im Hinblick auf typologische Einordnungen, sondern er­öffnet tiefgreifende Erkenntnisse für die mit den Entwicklungsebenen innerhalb der Typen verbundenen Dimensionen des Wachstums.

Das Enneagramm ist ein altes spiritu­elles und gleichzeitig psychologisch sehr präzises Modell der Selbsterkenntnis. Je­des menschliche Ego fühlt sich im Kern getrennt von Allem, endlos bedürftig und vom Leben bedroht. Das Enneagramm ist eine präzise Landkarte neun verschie­dener Ego-Strategien, um diese drei Pro­bleme zu bewältigen. Ein Kind wird mit der unbewussten Unschuld eines nicht „programmierten“ Bewusstseins geboren. Aus dem Impuls, möglichst effektiv zu überleben, baut sich vor allem in der ers­ten Lebenshälfte unser persönliches Ich auf, ein komplexes Muster aus Überzeu­gungen, Verhaltens- und Empfindungs­muster – das Ego. Diese egozentrische Phase ist gesund und wichtig!

Charakterfixierungen als Ego-Strategie

Allerdings verlieren wir durch die Iden­tifikation mit dem Ego den Kontakt mit unserer Essenz. Grenzenloses Bewusst­sein träumt, ein kleines Ich zu sein – an­greifbar, bedürftig und getrennt. Als logi­sche Konsequenz beginnt es, sich selbst und seine Umgebung zu manipulieren, um Sicherheit herzustellen, Anerken­nung zu bekommen und die Trennung zu überwinden. Jede der neun Charak­terfixierungen ist eine spezifische Taktik des Egos, um zu bekommen, was es will. Ich verwende und lehre das Enneagramm nicht mehr mit der Zielsetzung, unbe­dingt die genaue Fixierung eines Men­schen herauszufinden. Für mich ist das Enneagramm eine sehr genaue Beschrei­bung der drei Grundbewegungen des Egos (Aversion, Anhaftung, Rückzug). Daraus differenzieren sich neun Grund­strategien, um das innere Loch, welches jedes Ego fühlt, zu füllen: Der Held, der Boss, die Liebende, der Erfolgreiche, die Dramaqueen, …

Die Acht setzt zum Beispiel aggressive Stärke ein, um ihre Umgebung zu domi­nieren. Die Zwei manipuliert durch eine auf dich maßgeschneiderte „Liebe“. Die Sechs versucht, Kontrolle durch mentale Konzepte und Regeln herzustellen.

Integrale Perspektiven der Enneagramm-Typen

Es gibt Enneagrammschulen, die sich hauptsächlich auf die vollständige Lö­sung von der Charakterfixierung konzen­trieren. Für mich ist dieser Ansatz nicht mehr haltbar, da ich Erwachen als einen ewigen Prozess der Bewusstseinserwei­terung erlebe. In anderen Schulen (z.B. Don Riso) wird davon ausgegangen, dass es sehr wohl Entwicklungsstufen der Fi­xierung gibt. Je nachdem, wie stark wir noch mit unserem Typus identifiziert sind, desto verkrampfter und destrukti­ver drückt er sich aus.

Aus meinen praktischen Erfahrungen heraus, kann ich folgende Phänomene bestätigen:

Reift Bewusstsein in eine neue Ent­wicklungsebene[1] hinein, wandelt sich die Art, wie sich die Fixierung ausdrückt, doch der ihr eigene Geschmack reist mit.

Bestimmte Fixierungen haben mit bestimmten Bewusstseinsebenen mehr Schwierigkeiten und toben sich in ande­ren dafür ausgesprochen gern aus.

Es findet ein grundlegender Shift beim Übergang von Grün zu Gelb statt. Davor ist die Haltung zur eigenen Fixie­rung oder der eines anderen Menschen immer mit Ablehnung (mir fremd) oder Identifizierung (mir vertraut) verbunden. In Grün kulminiert dies mit dem heiligen und dennoch vergeblichen Wunsch, das „unspirituelle“ Ego ganz loswerden zu wollen. In Gelb findet eine grundlegende Entspannung statt. Wir kultivieren auf der einen Seite die Fähigkeit, uns mitder Essenz unseres Wesens (Kausalkörper) zu verbinden. Auf der anderen Seite hört der Kampf gegen das Ego auf. Es wird als eine unserer Daseinsebenen akzeptiert. Wir nehmen es mit Achtsamkeit und Humor. Wir akzeptieren, dass Schatten­arbeit bis zum Ende unseres Lebens zu einer gesunden Praxis dazu gehört.

Die grundsätzliche Verschiedenheit der Fixierungen kann von hier aus regel­recht genossen werden. Wenn wir uns die Fixierung als ein Tier vorstellen, dann hören wir in Gelb auf, das Tier puschen, erziehen, bekämpfen oder sogar töten zu wollen. Wir beginnen es zu sehen, wie es ist: Ein konditioniertes Muster, in sich leer und dennoch wunderschön. Diese liebevolle Annahme führt zu einer fun­damentalen Gelöstheit in uns selbst. Ich beobachte bei vielen Menschen in diesem Stadium, dass die richtige Mischung aus spiritueller Schulung, integraler Perspek­tive und einem Schuss Selbstironie dazu führt, dass die Fixierung des jeweiligen Menschen ihre natürliche Schönheit im­mer mehr zu erkennen gibt. Ihre Eigen­art dient nicht mehr nur einem Ego, son­dern Allem.

Typen und Entwicklungsebenen in der Praxis

Wie können wir uns dies in der Praxis vorstellen? Ich möchte dies, klischeehaft überspitzt, an zwei möglichen Entwick­lungswegen erläutern. Stellen wir uns die Zwei (die Liebende) und die Acht (den Krieger) auf ihrem Weg durch die Spirale der Evolution vor.

Fast alle Enneagrammlehrer der tra­ditionellen Schule gehen davon aus, dass wir bereits mit unserer Fixierung geboren werden. Ein „Achter-Kleinkind“ wird auf dieselben Lebensumstände völlig anders reagieren als ein „Zweier-Kleinkind“. Die Acht wird in der egozentrischen Phase sehr wahrscheinlich den Weg des Kampfes und der Rebellion wählen. Un­ser Zweier-Engel (meist weiblich) wird versuchen, seine Umgebung durch ein süßes Auftreten zu kontrollieren. Sie liest Papa und Mama ihre Wünsche von den Augen ab und erfüllt sie. Ohne Zweifel wirkt die eine Strategie „netter“ auf die meisten Menschen. Beide sind jedoch klar egozentrisch motiviert.

Spiraldynamisch: Die Acht wird sich im Kriegerbewusstsein sauwohl fühlen. Das rote Mem kommt ihr als Begrün­dung für ihre Vorstellung von Gerechtig­keit sehr entgegen. Bei weiterer vertikaler Entwicklung (Egozentrik – Ethnozen­trik – Weltzentrik …) bleibt der indivi­duelle „Geschmack“ des Kriegers erhal­ten, doch die verteidigten Werte und die Umsetzung der Werte ändern sich gravierend. Aus einem selbstgerechten Krieger (rotes Mem) wird ein Krieger der absoluten Wahrheit (blau), dann ein Ver­fechter grüner Werte. Achter reifen sel­ten freiwillig in Grün hinein. Vieles, was sie auszeichnet, ihr Kriegertum, ihr Ta­tendrang, ihre Lust, Regeln zu brechen, kommen in Grün nicht besonders gut an. Der Shift ins Grün beginnt oft damit, dass die Acht realisiert, wie viel Leid sie durch ihren Kampf anderen Menschen und sich selbst zugefügt hat. Sie beginnt, auf eine fast rührende, grüne Weise, alles wieder gut machen zu wollen. Das Reifen in Gelb hinein bedeutet für die Acht die Auflösung eines starken, internen Kon­flikts. Sie realisiert, dass bewusstes Lie­ben nicht gleichbedeutend mit Nett-Sein ist. Sie gibt sich nun die Erlaubnis, ihr Kriegertum und ihre Führungsqualitäten auf eine achtsame, selbstironische Weise in den Dienst der Spirale zu stellen.

Unser Zweier-Engel wird sich naturge­mäß in Grün sehr zuhause fühlen. End­lich werden all seine Werte von Liebe und Füreinander-Dasein bestätigt. Endlich kommt das Herz zur Geltung! Während sich Achter eher in individuell orientier­ten Bewusstseinsebenen (rot, orange) sicher fühlen, blüht die Zwei in Bezie­hung auf. Eine grüne Zwei wird grüne Werte sehr wahrscheinlich lange als das Nonplusultra der Entwicklung verteidi­gen, denn es ist ihr optimales Milieu. Die große Herausforderung der Zwei besteht darin, zwischen manipulierender und frei gegebener Liebe zu unterscheiden – auch ein klassisches grünes Thema. Die uner­löste Zwei möchte unter allen Umstän­den die vonallen gemochte Gute sein. Reift die Zwei in Gelb hinein, erwirbt sie die Fähigkeit, ihren roten, blauen und orangenen Schatten zu sehen und zu in­tegrieren. Sie erkennt, wie viel Macht in manipulierender Liebe wirkt. Sie enttarnt ihren Stolz darauf, die Beste und Liebs­te zu sein. Sie nimmt Kontakt mit dem orangenen Ehrgeiz auf, der sich oft unter ihrer Liebe versteckt hat. Nun, da sich ihr Schatten entspannen darf, kann sich ihre Fähigkeit, aktiv zu lieben, voll in den Dienst der Spirale stellen.

Beide, die Acht und die Zwei, können im Laufe ihrer vertikalen Entwicklung im­mer genauer zwischen Essenz und Fixie­rung unterscheiden. Jede der neun Fixie­rungen ist, wenn sie nicht erkannt wird, ein ödes, leidverursachendes Gefängnis. (Auch wenn manche Fixierungen sich für toller halten, als andere.) Jede der neun Fixierungen entfaltet ihre natürliche Lie­benswürdigkeit, je tiefer wir in DAS erwa­chen, was wir wirklich sind.

Ein integral orientierter Einsatz des Enneagramms als Werkzeug zur Befrei­ung verbindet das Wissen über horizon­tale Typen und vertikale Ebenen. Es wird so zu einem wertvollen und wirksamen Werkzeug der Schattenarbeit und Be­wusstseinserweiterung. Kompetent ver­wendet, enttarnt es die neun Träume, in denen wir vergessen, wer und was wir wirklich sind. So schenkt uns das Enne­agramm nicht nur das Wissen um neun Ego-Strategien, sondern auch neun hei­lige Wege des immer tieferen Erwachens in unsere wahre Identität.

Alles kann Medizin und alles kann Gift sein.

[1] Da es verschiedene Modelle der Bewusstseinsentwicklung gibt, beziehe ich mich hier auf eines der weitverbreitetsten, nämlich Spiral Dynamics nach Don Beck. Alle Farben, die ich anspreche, gehen auf dieses Modell zurück.

Veit Lindau arbeitet als Coach, Trainer und Autor. Mitbegründer des Life Trust – einem Integralen Netzwerk. Er unterrichtet das Enneagramm als ei­nen ernsthaften Weg zur Selbsterkenntnis. Es ist we­sentlicher Bestandteil der 18-monatigen Ausbildung „Integrales Life Management“. Der Enneagramm- Ansatz von Veit Lindau wurde geprägt durch den Sufi- und Advaita-Lehrer Eli Jaxon-Bear, die Integrale Spiritualität Ken Wilbers und die buddhistische Psy­chologie. www.veitlindau.com

Mehr Informationen zur Ausbildung „Integrales Life Management“:www.lifetrust.info

(aus: IP 20, 11/ 2011)

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