Integrale Schatten, Einzigartigkeit und Liebe

Religion / Spiritualiät

Integrale Schatten, Einzigartigkeit und Liebe

Ken Wilber im Interview

In welchem Verhältnis stehen individuelle spirituelle Entwicklung und kollektive Transformation? Ist der nächste Buddha eine Sangha oder zeugt diese Vorstellung lediglich von einer Überbetonung des UL-Quadranten? Im Gespräch mit Monika Frühwirth und Dennis Wittrock, geführt auf der Jahrestagung des Integralen Forums in Berlin im Juni 2010, wirft der integrale Philosoph Ken Wilber einen Blick auf die Wir-Dimension spiritueller Entfaltung, geht der Frage nach, ob es Schatten des Integralen gibt, und spricht über die Bedeutung von Einzigartigkeit und Einssein.

Frage: Manche sagen, dass der nächste Buddha eine Sangha, eine Gemeinschaft sein wird. Wie siehst du das?

Ken Wilber: Ich möchte hier niemandem zu nahe treten, aber diese Aussage ist typisch für die grüne, postmoderne und pluralistische Entwicklungsstufe. Kein Lehrer soll weiter oder höher entwickelt sein als man selbst. Dies ist ein Egalitarismus, in dem es für einen Buddha keinen Platz gibt. Es kann nur eine Sangha geben, in der jede und jeder gleich ist, und auf unterschiedlichen Wegen geht man dann Hand in Hand voran.

Doch es gibt auch wichtige Teilwahrheiten in der Vorstellung, eine Sangha könnte der nächste Buddha sein. Was dabei betont wird, ist die Bedeutung des unteren linken Quadranten – die wirkliche Bedeutung von Intersubjektivität und der Entwicklung eines „Wir“. Allzu oft ist spirituelle Entwicklung etwas isoliert Stattfindendes, in einer Höhle oder dem Wohnzimmer, wo man für sich meditiert und praktiziert und dabei das grundlegende Wunder eines Wir außer acht lässt. Wahre spirituelle Praxis hat jedoch immer auch eine Wir-Dimension. Sie umfasst mindestens die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, doch im besten Fall sind es mehrere Schüler, die eine Gruppe bilden und sich entschieden haben zusammenzukommen, um gemeinsam zu meditieren und an ihrer Transformation zu arbeiten. Sie arbeiten dadurch an allen vier Quadranten, und ihre Transformation beschleunigt sich. Verbringt man beispielsweise fünf Tage lang sitzend in Meditation zusammen mit vierzig Menschen, dann entwickelt sich dabei ein kraftvolles morphisches Feld der Resonanz. Dies unterstützt und verstärkt das Bewusstsein jeder und jedes Einzelnen auf eine Weise, die man für sich alleine nicht erreichen kann.

Vor diesem Hintergrund stimmt für mich die Aussage, dass der nächste Buddha eine Sangha sein wird. Doch gleichzeitig weise ich darauf hin, dass man keine Angst davor haben sollte, einen Lehrer für eine Weile als weiter entwickelt zu betrachten, als man selbst es ist. Das ist in Ordnung! Dann kann man sich dorthin entwickeln, wo der Lehrer schon ist. Man sollte nicht davon ausgehen, dass diese Gleichwertigkeit einfach so gegeben ist.

Frage: Wenn wir über Perspektiven auf das Integrale sprechen – was wäre der mögliche Schatten des Integralen? Und: Gibt es eine Meta-Perspektive auf integrale Denker und die integrale Theorie?

Ken Wilber: Man gelangt zu einer Meta-Theorie, wenn man die integrale Theorie auf die integrale Theorie anwendet. Wendet man den AQAL-Rahmen auf sich selbst an, dann gelangt man zu einer höheren Stufe. Man schaut sich das Ganze durch die integrale Betrachtungslinse an, die Vorgänge und Abläufe, und erreicht eine neue Ebene von Meta-Theorie. Dies kann man immer wieder machen, ohne Ende, und erhält so unterschiedliche Meta-Theorien. Das finde ich sehr gut. Ich selbst habe bei der Einnahme einer Perspektive einer fünften oder sechsten Person erst einmal angehalten, weil das das Maximum ist, was Menschen noch verstehen können[1].

Ich habe Anwendungen gesehen, wo Menschen den AQALRahmen genommen, ihn auf AQAL angewendet haben und zu einer dreidimensionalen Version gelangt sind. Ich finde das gut. Das gibt es und man kann es machen. Meta-Theorie angewendet auf AQAL ist machbar, und eine der einfachsten Weisen, dies zu tun ist, ist AQAL auf AQAL anzuwenden.

Was die Schattenanteile des Integralen dabei betrifft: Manche Menschen haben Schwierigkeiten sich vorzustellen, was ein integraler Schatten sein könnte. Das Integrale scheint seiner eigenen Definition gemäß vollständig zu sein – keine Fehler, keine Fragmentierungen, alles ist perfekt. Doch man kann natürlich jegliche Eigenschaft einer jeden Entwicklungsebene nehmen und von sich abspalten. Man kann Machtaspekte der roten Entwicklungsstufe nehmen, diese abspalten und so rote Subpersönlichkeiten erzeugen. Man kann Kontroll- und Autoritätsaspekte der Bernstein-Entwicklungsstufe nehmen, diese abspalten und so Subpersönlichkeiten in Bernstein erzeugen. Man kann sowohl positive wie negative Aspekte von Orange und Grün abspalten. Man kann orange, weltzentrische Liebe abspalten und orange Subpersönlichkeiten erzeugen. Man kann etwas auf der grünen Stufe abspalten, typischerweise Ärger. Grün wird sehr ärgerlich, wenn es Ungerechtigkeiten in der Welt sieht. Dies kann zur Unterdrückung diese Ärgers führen, mit grünen Subpersönlichkeiten, und da Grün Orange hasst, kann die Abspaltung davon auch zu einem grünen Schatten führen.

Auf der integralen Entwicklungsstufe kann man jede Komponente und Charakteristik, einen Antrieb oder eine Motivation, abspalten. Dies kann etwas Positives oder etwas Negatives sein. Oft werden positive Elemente abgespalten, weil wir in der gegenwärtigen Kultur noch keine Rollenvorbilder und Modelle haben, wie wir so etwas wie eine dramatische Zunahme von Liebe und Mitgefühl leben können. Wir erkennen das dann nicht richtig und meinen, es gehört nicht zu uns. Die Abspaltung führt zu einer türkisen Subpersönlichkeit, die sehr viel Liebe und Mitgefühl trägt. Das gleiche gilt für Ärger, Eifersucht oder eine andere Charakteristik der integralen Ebene. Der Unterschied einer integralen Subpersönlichkeit zu den Subpersönlichkeiten vorheriger Ebenen ist, dass diese komplexer ist.

Frage: Wenn wir über Komplexität sprechen, dann möchte ich auch über eines meiner Lieblingsthemen sprechen – die Liebe. Du sagtest, dass je mehr Perspektiven ich einnehmen kann, desto mehr kann ich lieben. Liebe ist so eine Fähigkeit des Erwacht-Seins – von SELBST zu SELBST. Kannst du uns dazu meditativ in einer Übung anleiten [pointing out instruction]?

Ken Wilber: Ja.

  • Sitze entspannt auf deinem Stuhl, die Füße auf den Boden gestellt und die Hände im Schoß.
  • Entspanne Körper und Geist.
  • Erlaube deinem Geist, sich frei und leicht zu bewegen, und bemerke deine gegenwärtige Bewusstheit.
  • Bemerke, wie in deiner Bewusstheit Objekte erscheinen. Du bist nicht diese Objekte.
  • Es sind Menschen im Raum, die du wahrnehmen kannst, doch du bist nicht diese Menschen.
  • Es gibt Empfindungen, Gefühle deines Körpers, die in deinem Bewusstsein auftauchen, doch du bist nicht diese Empfindungen und Gefühle.
  • Gedanken gehen dir durch den Kopf, und du bist nicht diese Gedanken.

Was du bist, ist reines Gewahrsein, reines eigenschaftsloses Gewahrsein, in dem all diese Dinge erscheinen. Alle Objekte um dich herum erscheinen in dir. Alle Ereignisse und Wahrnehmungen erscheinen in dir. Alles, was erscheint, erscheint in deinem Bewusstsein, und du bist eins mit allem, was erscheint. Du schaust nicht auf die Menschen um dich herum. Du bist diese Menschen. Diese Menschen erscheinen in deinem Bewusstsein. Sie sind ein Teil dessen, was du bist. Deine Bewusstheit ist eine nahtlose, ungebrochene Einheit. Diese Einheit ist, wenn du deine Bewusstheit darauf richtest, dein Einssein mit allem, was um dich herum erscheint. Vielleicht bemerkst du dabei ein warmes Kribbeln, und dies ist Liebe.

Die Wahrnehmung von Einssein ist eines, weil es Liebe ist. Dein Bewusstsein, dein Sein, ist Liebe, und diese Liebe ist eines mit allem, was erscheint. Alles, was für sich und getrennt erscheint, ist in Wahrheit ein Eines und Einziges, das in deinem Herzen auftaucht und im Herzen von allem. Das gesamte manifeste Universum, bis zu den entferntesten Galaxien, erscheint in deinem Herzen und in deinem Geist, weil die Gesamtsumme aller Bewusstheit im Universum Eins ist. Du bist dieses Eine. Du bist in deiner Einzigartigkeit dieses Eine. Ein GEIST, ein Geist und ein Herz ist das, was du jetzt als das Wesentliche fühlst und erlebst, und es ist alles, was du je fühlen und erleben kannst. Dieses außerordentliche, unbeschreibliche Einssein wird auch Liebe genannt. Dies ist dein wahres Selbst, und es ist Liebe.

[1] A. d. Ü.: Mit erster, zweiter, … fünfter, sechster Perspektive einer Person sind Ebenenvon Entwicklung zunehmender Komplexität und Tiefe bezeichnet. Eine Perspektive einer ersten Person ist egozentrisch, die einer zweiten Person soziozentrisch/traditionell, die einer dritten Person wissenschaftlich/objektiv, die einer vierten Person pluralistisch/multikulturell, usw.

(aus: IP 17 – 11/2010)

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