Mystik, Eine Studie über die Natur und Entwicklung des religiösen Bewusstseins im Menschen

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Mystik, Eine Studie über die Natur und Entwicklung des religiösen Bewusstseins im Menschen

Michael Habecker

In einer Zeit globalisierten Wissens kann der Eindruck entstehen, es sei „alles da“, und doch ist es nicht so einfach. Die Kunst besteht heute zum einen darin, die ungeheure, und ständig anwachsende Informationsfülle qualitativ und quantitativ zu sichten, zu ordnen und zugänglich zu machen. Gleichzeitig taucht nicht nur ständig neues Wissen auf, sondern, weniger spektakulär, es verschwindet auch massenhaft wertvolle Information, z. B. in der Form, dass Bücher nicht mehr aufgelegt werden.

Das mag in vielen Fällen kein Verlust sein, doch im Fall des hier besprochenen, 1911 erstmals erschienenen Buches Mystik von Evelyn Unterhill[1] ist dies ein großer Verlust. Das Buch ist eines der ganz großen Werke zum Thema, und ist derzeit (Ende 2010) nur antiquarisch (für 80,- € aufwärts) erhältlich. Doch es gibt Hoffnung: Auf eine Anfrage beim Turm Verlag, der das Buch zuletzt verlegt hat, erhielt ich folgende Nachricht:

„Vielen Dank für Ihre Mail zu dem Buch ‚Mystik’ von Evelyn Underhill. Es freut mich, dass Sie dieses mit Freude lesen und als Bereicherung empfinden. Derzeit ist keine Neuauflage dieses Titels geplant, allerdings könnte es eine solche in den nächsten Jahren durchaus geben.“

Hinweisgeber auf dieses Buch war einmal mehr Ken Wilber, der die Arbeit von Evelyn Underhill immer wieder beispielhaft anführt, wenn es um die Beschreibung des Zustandswegs des Erwachens geht, des klassischen mystischen Weges[2].

Dieses Buch soll in der folgenden Besprechung vorgestellt werden. Hier die Inhaltsangabe:

INHALTSVERZEICHNIS

Geleitwort
Vorrede

Erster Teil. Das Wesen der Mystik
1. Kap. Der Ausgangspunkt
2. Kap. Mystik und Vitalismus
3. Kap. Mystik und Psychologie
4. Kap. Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Mystik
5. Kap. Mystik und Theologie
6. Kap. Mystik und Symbolik
7. Kap. Mystik und Magie

Zweiter Teil. Der mystische Weg

1. Kap. Einleitung
2. Kap. Das Erwachen des Selbst
3. Kap. Die Reinigung des Selbst
4. Kap. Die Erleuchtung des Selbst
5. Kap. Stimmen und Visionen
6. Kap. Innenkehr I. Teil. Sammlung und Ruhe
7. Kap. Innenkehr II. Teil. Kontemplation
8. Kap. Ekstase und Verzückung
9. Kap. Die dunkle Nacht der Seele
10. Kap. Das Leben der Einigung
Schluss
Anhang

Geleitwort

Im Geleitwort wird die Autorin gewürdigt als jemand, die

„eine erstaunliche Kenntnis der mystischen Literatur aller Völker, Religionen und Zeiten wie der gesamten historischen, psychologischen und philosophischen Erforschung der Mystik [hat]. Aber, was noch weit wichtiger ist, sie besitzt eine persönliche, erfahrungsmäßige Kenntnis des mystischen Gottesumfangens, wie sie unter unseren europäischen Zeitgenossen so selten ist.“ (IX)  

Es ist diese einzigartige Kombination von unmittelbarer Einsicht und wissenschaftlicher Gründlichkeit, die das Buch so wertvoll macht. Underhill schreibt überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, über die christliche Mystik, doch ihre Schlussfolgerungen lassen sich auch auf andere mystische und kontemplative Traditionen übertragen.

In der Vorrede stellt sie in einer Aussage, die auch gut zur New Age Spiritualität unserer Zeit passt, gleich zu Anfang klar:

„Man kann jene Mystiker eigentlich nur in ihren Werken studieren, Werken, die von denen, die heutzutage viel über Mystik reden, meistenteils ungelesen bleiben.“ (XI)

Einer nur akademischen und nicht vorurteilsfreien Psychologie und Philosophie schreibt sie ins Stammbuch:

„Der Philosoph und der Psychologe handeln töricht, wenn sie aus Vorurteil gegen die orthodoxe Theologie das Licht nicht sehen wollen, das von hier aus auf die Ideen der Mystik fällt. Der Theologe handelt noch törichter, wenn er sich weigert, die Feststellungen der Psychologie zu hören.“ (XII)

Diese Aussage ist heute so aktuell wie vor knapp einhundert Jahren. Ebenso konsequent grenzt Underhill Mystik von Magie ab und wird sich später ein ganzes Kapitel mit dieser wichtigen Differenzierung beschäftigen.

„… man hat es [das Wort Mystik] als Deckmantel benutzt für jede Art Okkultismus, verwässerten Transzendentalismus, schalen Symbolismus, religiöser und ästhetischer Gefühlsschwärmerei und schlechter Metaphysik … Es ist sehr zu hoffen, dass es früher oder später seine alte Bedeutung als die Wissenschaft oder Kunst des geistlichen Lebens zurückerhält.“ (XIV)

Das Buch Underhills gliedert sich in zwei Teile, einen ersten Teil Vom Wesen der Mystik und einen zweiten Teil Der mystische Weg.  

TEIL 1 Kapitel 1 Das Wesen der Mystik

„Alle Menschen verlieben sich zu irgendeiner Zeit ihres Lebens in die verschleierte Gottheit, die sie ‚Wahrheit’ nennen“, schreibt Underhill, und bemüht sich in einer ausführlichen Erörterung mit Argumenten, die auch heute noch Gültigkeit haben, darum, der Mystik und ihren Erkenntnissen Geltung zu verschaffen.

„Mystiker sind die Pioniere der Geisteswelt, und wir haben kein Recht, ihren Entdeckungen die Gültigkeit abzusprechen, nur weil es uns an Gelegenheit oder an dem nötigen Mut fehlt, selbst solche Forschungen anzustellen … wir müssen mit der eingewurzelten Denkgewohnheit, die sichtbare Welt als gegeben zu nehmen, mit der trägen Voraussetzung, dass die Naturwissenschaft ‚wirklich’ ist und die Metaphysik nicht, entschlossen brechen.“ (4)

Schon zu ihrer Zeit kämpfte Underhill um die gleichberechtigte Anerkennung innerlicher, geisteswissenschaftlicher, phänomenologischer Erfahrungen und „Daten“ gegenüber denen der äußerlichen Welt.

„Wir dürfen nicht von vornherein von der unwirklichen Welt dieser Träumer reden, bevor wir – wenn wir dies können – eine wirkliche Welt entdeckt haben, mit der wir jene vergleichen.“ (5)

Von der Erfahrung eines seiner selbst bewussten Subjektes ausgehend, beginnt „die Ungewissheit … für die meisten von uns erst, wenn wir fragen, was außer uns i s t.“ Dabei nehmen wir, dies war die große Einsicht Kants, die „Dinge an sich“ nicht wahr, sondern interpretieren immer schon das Wahrgenommene durch Bedingungen, die in uns gegeben sind. Underhill benutzt dafür ein technischen Bild ihrer Zeit:

„Es ist augenscheinlich, dass die besondere Bauart des telegrafischen Apparats einen modifizierenden Einfluss auf die Nachricht haben muss … Wir sind mit unseren Aufnahmeapparaten eingeschlossen, wir können nicht aufstehen und fortgehen, um zu sehen, wohin jene Drähte führen.“ (7)

Jeder lebt, und dies ist eine der wesentlichen (post)modernen Erkenntnisse, innerhalb der Wahrnehmungsgrenzen seiner eigenen Welt.

„So leben Künstler und Arzt, Christ, Rationalist, Pessimist und Optimist wirklich und tatsächlich in verschiedenen und sich einander ausschließenden Welten, nicht nur Gedankenwelten, sondern auch Wahrnehmungswelten. Jeder, um mit Professor [William] James zu sprechen, halbiert das Weltall an einer anderen Stelle.“ (13)

Dies bedeutet jedoch nicht, dass mystische, bzw. metaphysische Erfahrungen wie Underhill diese nennt, deshalb beliebig, bloß subjektiv oder ohne Aussage wären. Man muss dazu, wie Ken Wilber es sagen würde, die entsprechenden Praktiken durchführen, um zu den Erkenntnissen zu gelangen und diese Erfahrungen mit anderen abgleichen, welche sich einer vergleichbaren Praxis unterzogen haben. Der Idealismus als eine große Geistesströmung, der ja von seiner Ansatzweise her die Innerlichkeit in den Mittelpunkt stellt, jedoch vor allem darüber philosophierte, scheitert laut Underhill am „Intellektualismus seiner Methode“:

„Das heißt, dass der Idealismus, obgleich in seinen Voraussetzungen richtig, und oft kühn und ehrlich in ihrer Anwendung, doch infolge des ausschließlichen Intellektualismus seiner Methode, seines verhängnisvollen Vertrauens auf die Eichhörnchen-Arbeit seines geschäftigen Gehirns statt auf das durchdringende Schauen des sehnsüchtigen Herzens unfruchtbar bleibt.“ (17)

Die intellektuellen Hindernisse oder Widerstände, denen sich eine echte mystische Praxis gegenübersieht, fasst Underhill in drei Punkten zusammen:

„Das verstandesmäßige Suchen nach Wahrheit führt uns also in eine von drei Sackgassen: 1. zu der Annahme einer symbolischen Erscheinungswelt als der wirklichen Welt; 2. zu der Ausbildung einer gleichfalls notwendigerweise symbolischen Theorie, die, so schön sie an sich ist, uns doch nicht dazu helfen kann, das Absolute, das sie beschränkt, auch zu erreichen; 3. zu einem hoffnungslosen, aber streng logischen Skeptizismus.“ (20)

Alle drei Punkte haben an Aktualität nichts verloren. Im ersten Fall wird irgendeine Form mit der Absolutheit gleichgesetzt, wie das gegenwärtig bei der Diskussion von Quantenphysik und Mystik geschieht, wo Parallelen oder Gleichsetzungen gemacht werden zwischen qualifizierbaren Eigenschaften der quantenphysikalischen Wirklichkeiten und der nicht-qualifizierbaren Absolutheit. Im zweiten Fall ersetzt eine intellektuell-philosophische Spekulation die unmittelbare Erfahrung, und im dritten Fall endet man in postmoderner Ironie und Dekonstruktion – in einer Welt, wo es keine Wahrheit und kein „Wahres, Schönes und Gutes“ gibt, und man nichts und niemandem trauen kann, auch nicht den eigenen Erfahrungen. 

Underhill weist auf den bedeutenden Unterschied einer rein spekulativen Philosophie und einer erfahrungsorientierten Mystik hin, und unterstreicht den wissenschaftlichen Charakter der Mystik als einer phänomenologischen, und auf Praxis und Experiment gegründeten Erfahrungswissenschaft: 

„In der Mystik verlässt jene Liebe zur Wahrheit, die wir als den Anfang aller Philosophie erkannten, die rein intellektuelle Sphäre und nimmt die Gefühlsgewissheit einer persönlichen Leidenschaft an. Wo der Philosoph vermutet und argumentiert, lebt und schaut der Mystiker, und infolgedessen spricht er die schwer zugängliche Sprache der unmittelbaren Erfahrung, nicht die sorgfältig dialektische Sprache der Schule. Daher kommt es, dass, während das Absolute der Philosophen eine Konstruktion bleibt, unpersönlich und unerreichbar, das Absolute der Mystiker Liebe weckend, erreichbar und lebendig ist. ‚Oh, schmeckt und sehet!’ rufen sie in Tönen verblüffender Gewissheit und Freude. Unser Wissen ist Erfahrungswissen. Wir können nur unsere Methode euch mitteilen, doch nicht ihr Resultat. Wir kommen nicht als Denker zu euch, sondern als Täter … Prüft uns, soviel ihr wollt: unsere Methode, unsere Glaubwürdigkeit, unsere Resultate. Wir können nicht versprechen, dass ihr sehen werdet, was wir gesehen haben, denn hier muss jeder es auf eigene Rechnung und Gefahr versuchen; aber ihr dürft unsere Erfahrungen nicht als unmöglich oder ungültig abstempeln…“ (32)

Kapitel 2 Mystik und Vitalismus

Der Vitalismus war zu der Zeit von Underhill eine Universallehre und Geistesströmung, welche den „Gedanke[n] eines freien, spontanen und schöpferischen Lebens als des wahren Wesens aller Wirklichkeit“ darstellte.

„Die Vitalisten, ob nun das Gebiet ihrer Forschung die Biologie, die Psychologie oder die Ethik ist, sehen den ganzen Kosmos, die physische und die geistige Welt als von Initiative und Spontaneität erfüllt, vor allen Dingen als f r e i.“ (35) 

Nicht Determiniertheit, sondern Freiheit und, wie wir heute vielleicht sagen würden, schöpferische Emergenz bildet den Kern der vitalistischen Auffassung, einer Freiheit, die alle Seinsbereiche durchzieht, ein „umgekehrter Materialismus“. Zentralgedanke dabei ist nicht das Sein, sondern das Werden. Was die Anerkennung von Kreativität und Lebendigkeit aller Lebensformen angeht, stimmen Vitalismus und Mystik überein. Doch der Mystik geht es, so Underhill um mehr als nur die manifeste Seite des Seins. Mystik geht es auch um Transzendenz.

„Viele mystische Dichter und pantheistische Mystiker gelangen nie über diesen Grad der Hellsichtigkeit hinaus. Andererseits erreicht das volle mystische Bewusstsein das, was ich für seine wirklich charakteristische Eigenschaft halte. Es entwickeltdie Gabe, das absolute, reine Sein, dass schlechtweg Transzendente zu erfassen, oder, wie der Mystiker sagen würde, es kann zur passiven Vereinigung mit Gott gelangen. Diese allseitige Ausdehnung des Bewusstseins, mit seinem doppelten Vermögen, durch unmittelbare Vereinigung sowohl den zeitlichen wie den ewigen, den immanenten wie den transzendenten Aspekt der Wirklichkeit zu erkennen – das lebendige, strömende, wechselnde Leben des Alls und das wandellose, unbedingte Leben des Einen – ist das besondere Kennzeichen, das ultimo sigillo des großen Mystikers und darf beim Studium seines Lebens und Werkes nie außer acht gelassen werden.“ (49)  

Die Vereinigung des Immanenten und des Transzendenten, die „Einigkeit in der Mannigfaltigkeit“, dies ist eine nicht-duale Mystik, bei der, als eine lebendige Erfahrung, wie es im Herz-Sutra heißt, „Form nicht verschieden ist von Leere, und Leere nicht verschieden ist von Form.“ „Wir müssen“, zitiert Underhill Platon aus dem Timaios, zuerst „zwischen den beiden großen Formen des Seins einen Unterschied machen und fragen: Was ist das, was immer ist und kein Werden hat, und was ist das, was stets im Werden ist und nie i s t?“, und fügt dann hinzu:

„Der große Fehler des Vitalismus, als System betrachtet, ist der, dass er nur die eine Hälfte zu beantworten unternimmt, die Hälfte, die der absolute Idealismus überhaupt zu beantworten verschmäht.“ (53)

Auf der einen Seite ein absoluter Idealismus, der sich nur um den Absolutheitsaspekt des Seins kümmert und als wesentlich erachtet, und auf der anderen Seite ein Vitalismus, der nur das relative, bedingte und sich entwickelnde Sein untersucht und feiert – und eine nicht-duale Mystik, die beides zusammenbringt, und weder das Absolute verabsolutiert und im Relativen lediglich „Schattenspiele“ sieht, sondern beides als wesentliche Bestandteile des Da-Seins erkennt. Daraus leitet sich für Underhill auch unmittelbar eine zweifache Lebenspraxis ab:

„Der zwiefache Charakter des geistigen Bewusstseins führt eine zwiefache Verpflichtung mit sich. Zunächst ist da die Vereinigung mit dem Leben, mit der Welt des Werdens und parallel mit ihr die Erleuchtung, kraft derer der Mystiker ‚eine wirklichere Welt schaut’. Zweitens ist da die Vereinigung mit dem Sein, mit dem Einen: und die höchste und letzte Erleuchtung reiner Liebe, die wir ‚die Erkenntnis Gottes’ nennen..“ (55)

„Immer wieder und wieder – als Sein und Werden, als Ewigkeit und Zeit, als Transzendenz und Immanenz, als Wirklichkeit und Erscheinung, als das Eine und das Viele – werden diese beiden herrschenden Vorstellungsweisen und Tendenzen, diese beiden inneren Gewissheiten des menschlichen Selbst, die Kette und Einschlag im Gewebe seines Weltalls bilden, aufs Neue erscheinen. Auf der einen Seite ist seine unausrottbare intuitive Gewissheit eines fernen unwandelbaren Etwas, das ihn ruft; auf der anderen ist seine ebenso klare Gewissheit eines vertrauten, wunderbaren Etwas, das ihm nahe ist und nach dem er sich sehnt … Weder die extreme Transzendenz des unbedingten Idealismus noch die extreme Immanenz des Vitalismus geben die ganze Wahrheit. Beide sind nach Ansicht der Mystiker [für sich allein] unvollständig.“ (56)

Kapitel 3 Mystik und Psychologie

Mystik und Psychologie beschäftigen sich beide mit der menschlichen Innerlichkeit und dem, was das menschliche Bewusstsein konkret an Inhalten, Dynamiken und Strukturen zu bieten hat. Die Psychologie hilft dabei, den „geistigen Apparat“ zu verstehen, mit dem wir Menschen ausgestattet sind um die Welt zu verstehen.

„Wir kommen nun zur Betrachtung des geistigen Apparats, der dem Selbst zur Verfügung steht, zu der Frage, auf welche Weise er ihm helfen kann, dem Kerker der Sinnenwelt zu entfliehen …“ (58)

Wissen und Weisheit, Big Mind und BigHeart werden von Underhill wie folgt charakterisiert:

„In dieser Zelle [der Sinnenwelt] mit ihm [dem Menschen] eingeschlossen sind zwei Kräfte, das Verlangen, mehr zu wissen, und das Verlangen, mehr zu lieben, unablässig am Werk.“ (58)

Dem Gefühl gibt Underhill bei der Suche des Menschen nach Wirklichkeit eine noch höhere Bedeutung als dem Intellekt:

„Daher geht unser Suchen nach Wirklichkeit nie von der intellektuellen Seite unseres Bewusstseins aus, wenn es auch in hohem Maße von ihr unterstützt werden mag … Niemand denkt lange an etwas, was ihm gleichgültig ist, d. h. nicht irgendeine Seite seines Gefühlslebens berührt … Das Gefühl ist das Fühlhorn, das wir der Welt der Dinge entgegenstrecken … Das, was unsere religiösen und ethischen Lehrer „bloßes Gefühl“ zu nennen pflegten, wird jetzt als Urstoff des Bewusstseins anerkannt.“ (62)

Psychologische Betrachtung ist, im Unterschied zu mystischer Betrachtung, überwiegend eine Betrachtung der Innerlichkeit von außen (bei Wilbers Methodenpluralismus die Zone 2), wohingegen mystische Anschauung eine Betrachtung der Innerlichkeit von innen her ist (Zone 1). Letzteres ist die Voraussetzung für Ersteres, denn nur wenn genügend „Daten“ und Erfahrungen vorliegen, können durch psychologische Analytik daraus neue Erkenntnisse über Psychodynamiken und Strukturen des Bewusstseins erkannt werden. Kurz gesagt: ohne Inhalte keine Mustererkennung. Unterhill:

„Nun können wir bei diesen und anderen seltenen seelischen Zuständen natürlich nur versuchen, von außen zu beschreiben, was nur von innen her zutreffend beschrieben werden kann; was soviel sagt, dass in Wahrheit nur Mystiker über Mystik schreiben können.“ (65)

Die auch für die Interpretation mystischer Erfahrungen wichtige Entdeckung des Unbewussten und Unterbewussten durch die Psychologie würdigt Underhill ebenso, wie sie vor Übertreibungen warnt:

„Sie [die moderne Psychologie] hat dies vage und schattenhafte Gebiet, das in Wirklichkeit mehr ein bequemer Name als ein „Gebiet“ ist, so eingehend behandelt und definiert, dass es bisweilen scheint, als wisse sie mehr über das Unterbewusste als über das bewusste Leben des Menschen. Dort findet sie alles nebeneinander, sowohl die Quellen seiner niedrigsten Triebe wie die seiner unerklärlichsten Kräfte, seiner geistigen Intuitionen: den „Affen und Tiger“ wie „die Seele“ … Die Folge davon ist, dass die Populärpsychologie mehr und mehr dazu neigt, das „Unterbewusste“ zu personifizieren und zu verherrlichen … So liegen bei dem normalen Menschen die besten und die schlimmsten, die wildesten und die geistigsten Seiten eines Wesens „unter der Schwelle des Bewusstseins“ eingeschlossen. Die Anhänger des „Unterbewussten“ vergessen oft dies zu erwähnen … Daraus folgt also, dass wir, solange wir es bequem und auch notwendig finden, uns bei der Erforschung des Weges der Mystik der Symbole und Schemata der Psychologie zu bedienen, dabei nicht vergessen dürfen, wie weit und unbestimmt die Bedeutung dieser Symbole ist, und dass wir das „Unterbewusste“ nicht einfach gleichsetzen mit dem transzendentalen Sinn des Menschen. Hier haben, glaube ich, die alten Mystiker einen wissenschaftlicheren Geist, eine feinere Fähigkeit der Analyse bewiesen als die neueren Psychologen“ (69) 

Dieser Hinweis an die Psychologie von Underhill vor fast 100 Jahren, sich nicht nur mit den niederen Anteilen des Menschen zu beschäftigen, passt auch in die heutige Zeit. Ein paar Seiten weiter wird Underhill noch deutlicher:

„Sie [die rationalistischen Schriftsteller] … haben sich nicht gescheut, Paulus als einen Epileptiker und die hl. Teresa als Schutzpatronin der Hysterischen zu bezeichnen und haben die meisten ihrer Geistesverwandten in verschiedenen Abteilen ihres pathologischen Museums untergebracht.“ (78)

Aller Pathologisierung authentischer Mystik zum Trotz wurden MystikerInnen oft alt.

„Trotz solcher Rebellion und der Qualen, die eine mystische Lebensweise ihnen auferlegt hat, sind die Mystiker merkwürdigerweise ein langlebiges Geschlecht: eine unbequeme Tatsache für die Kritiker der physiologischen Schule. Um nur ein paar Beispiele unter den hervorragenden Ekstatikern anzuführen: die hl. Hildegard wurde einundachtzig, Mechthild von Magdeburg siebenundachtzig, Ruysbroeck achtundachtzig, Seuse siebenundachtzig, die hl. Katharina von Genua und der hl. Petrus von Alcántara dreiundsechzig, Madame Guyon neunundsechzig Jahre alt. Es scheint, als ob das erhöhte Leben, das der Lohn mystischer Hingabe ist, sie fähig machte, über ihre körperlichen Schwächen zu triumphieren und zu leben und ihre Arbeit zu tun unter Bedingungen, die gewöhnliche Menschen zu allem unfähig gemacht hätten.“ (83)

Kapitel 4 Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Mystik

Underhill beginnt diesen Abschnitt mir der Unterscheidung von einem „Weg der Magie“ und einem „Weg der Mystik“, und nimmt damit den Wilber’schen Gedanken einer prä/trans Verwechselung vorweg.

„Kein tief religiöser Mensch ist ohne einen Anflug von Mystik, und kein Mystiker kann anders als religiös sein, im psychologischen, wenn nicht im theologischen Sinne des Wortes. Auf der anderen Seite der Skala geht, wie wir später sehen werden, die Religion ebenso zweifellos in Magie über.“ (93)

Die Selbstbezogenheit der Magie sieht Underhill als einen „selbstsüchtigen Transzendentalismus“. Sie schreibt:

„Das Ziel ist immer dasselbe: die absichtliche Steigerung der Willenskraft über ihre gewöhnlichen Grenzen hinaus, um für das eigne Ich oder eine ganze Gruppe etwas zu erlangen, was es oder sie vorher nicht besaß. Es ist eine individualistische und erwerbssüchtige Wissenschaft …“ (94)

Im Unterschied zur Mystik:

„Der Mystiker ist ‚in Liebe zum Absoluten entbrannt’, nicht in müßiger und sentimentaler Schwärmerei …“ (95)

Davon (Magie und Mystik) unterscheidet Underhill dann noch die Tätigkeit derjenigen, die Landkarten innerer Wirklichkeiten erstellen. Dies entspricht der Unterscheidung zwischen der Phänomenologie (bei Wilbers IMP Zone 1) und dem Strukturalismus (bei Wilbers IMP Zone 2) der Mystik.

„Die dritte Haltung der übersinnlichen Welt gegenüber, die der Transzendental­philosophie, kommt bei unserer gegenwärtigen Untersuchung kaum in Betracht, da sie rein akademisch ist, während sowohl Magie wie Mystik praktisch und in ihren Methoden streng empirisch sind. Eine solche Philosophie wird oft fälschlich Mystik genannt, weil sie versucht, Karten von den Ländern anzufertigen, die die Mystik erforscht. Ihre Arbeiten sind nützlich, wie Schemata nützlich sind, solange sie sich nicht für etwas Endgültiges und Letztes ausgeben und eingedenk bleiben, dass das einzig Endgültige die persönliche Erfahrung der mit leidenschaftlicher Liebe die Wahrheit suchende Seele ist.“ (95)

Doch es sind gerade die Landkarten des Bewusstseins, die uns die Bewusstseinsstrukturen, aus denen heraus Menschen sich orientieren, denken, fühlen und handeln, in ihrer Entwicklung enthüllen. (Zu deren  Bedeutung siehe den Text „Zone 2“ in der Anlage 2 zu dieser Buchbesprechung). Dessen ist sich auch Underhill bewusst, wenn sie schreibt:

„Daher müssen wir uns alle Pilger auf dem Weg genau ansehen, müssen suchen herauszufinden, was das Motiv ihrer Reisen ist, welche Orientierungskarten sie benützen, was für Gepäck sie mitnehmen, welches Ziel sie erreichen.“ (96)

Das mystische Erleben ist zuerst einmal innerlich, und bleibt oft auch dort, was den Mystiker vom Künstler unterscheidet.

„Der Mystiker kann sagen – ja er m u s s  sagen – wie der hl. Bernard: ‚Mein Geheimnis ist für mich allein.’ Wenn er es auch noch so viel versuchte: seine vor ehrfürchtiger Scheu stammelnden Berichte kann nur der verstehen, der schon auf dem Wege ist. Doch mit dem Künstler ist es anders. Ihm ist die Pflicht auferlegt, etwas von dem, was er schaut, zum Ausdruck zu bringen.“ (100)

Underhill beschreibt dann Beispiele für Gemeinsamkeiten und auch Unterschiedlichkeiten von Mystik und Kunst.

„Doch unter all den Künsten ist es allein die Musik, die mit der großen mystischen Literatur die Macht teilt, uns das Leben des Alls spüren zu lassen, die uns – wir wissen nicht wie – Botschaft bringt von seinen jauchzenden Leidenschaften und von seinem unvergleichlichen Frieden. Beethoven hörte die Stimme der Wirklichkeit selbst, und wenig ging verloren, als er sie für unsere Ohren übertrug.“ (102)

Doch ein Aspekt der Mystik geht über alles hinaus, was sich durch Kunst ausdrücken lässt.

„Die größten Mystiker jedoch … unterscheiden deutlich zwischen der unaussprechlichen Wirklichkeit, die sie wahrnehmen, und dem Bilde, unter dem sie sie beschreiben.“ (105)

Underhill kennzeichnet dann eine „wahre Mystik“ in vier bemerkenswerten Thesen:

  1. „Wahre Mystik ist tätig und praktisch, nicht passiv theoretisch. Sie ist ein organischer Lebensprozess, ein Etwas, was das ganze Selbst tut, nicht etwas, worüber sein Verstand eine Ansicht hat.
  2. Ihre Ziele sind durchaus transzendent und geistlich. Sie ist in keiner Weise mit Erforschungen, Neuordnungen oder Verbesserungen in der sichtbaren Welt bemüht. Der Mystiker schiebt diese Welt, selbst in ihren übernormalsten Erscheinungen, beiseite. Obwohl er nicht, wie seine Feinde behaupten, seine Pflicht gegen die Vielen vernachlässigt, so ist sein Herz doch immer auf das wandellose Eine gerichtet.
  3. Dies Eine ist für den Mystiker nicht nur die Wirklichkeit von allem, was  d a  ist, sondern auch ein lebendiger und persönlicher Gegenstand der Liebe; nie ein Gegenstand der Forschung. Es zieht sein ganzes Wesen heimwärts, doch immer unter der Führung des Herzens.
  4. Lebendige Vereinigung mit diesem Einen – dies ist der Ausdruck für das höchste Erlebnis, das er sucht … Er wird erreicht durch einen bestimmten mühsamen psychologischen Prozess, den sogenannten mystischen Weg, der die vollständige Erneuerung des Charakters und die Freimachung einer neuen oder vielmehr bisher latenten Form des Bewusstseins mit sich bringt …“ (107) 

Bemerkenswert ist, dass, obwohl der Mystiker, wie ihn Underhill beschreibt, keineswegs weltabgewandt ist, sondern im Gegenteil „seine Pflicht gegen die Vielen“ tut, sich dann bei ihm oder ihr doch eine Bevorzugung des Einen gegenüber den Vielen herausstellt, wenn ein Mystiker an der „sichtbaren Welt“ und deren „Neuordnungen und Verbesserungen“ nicht interessiert ist. Wie sollen eine Mystikerin und ein Mystiker, auch wenn beide auf das Eine gerichtet sind, ihre Pflicht tun, wenn sie – salopp gesagt – keine Ahnung von der Welt haben, und sich für diese nicht interessieren, ja diese sogar „beiseite schieben“? An diesem Punkt setzt eine berechtigte Kritik dieses Mystikverständnisses an. Um „mit leeren Händen auf dem Marktplatz“ wirken zu können, um ein Bild aus dem Zen zu verwenden, braucht es die Kenntnis dieses Marktplatzes, und um das Leiden in der sichtbaren Welt zu lindern, braucht es auch die Absicht für und die Fähigkeit zu Verbesserungen. Dieses noch bestehende Ungleichgewicht zwischen Gott und Welt in einer Mystikvorstellung, wie sie Underhill beschreibt, wird erst in einer nicht-dualen Mystik voll aufgehoben, bei der „Form nichts anderes ist als Leere und Leere nichts anderes ist als Form.“ Dort geht es nicht nur um das Ruhen im Einen und die Pflichterfüllung für die Vielen, sondern es geht darum die Welt der Vielen so gut wie irgend möglich zu verstehen, um dann darin effektiv und sinn-voll tätig sein zu können. Dies wird auch im Punkt 4 angesprochen, wo Underhill vom Durchlaufen eines „psychologischen Prozesses“ auf dem mystischen Weg spricht. Durch die Kenntnis und Praxis von Psychologie und Psychodynamik kann dieser Prozess erheblich gefördert werden, was jedoch die Kenntnis und Anwendung dieser Disziplinen voraussetzt.

Underhill geht dann die Punkte einzeln durch.

Mystik ist Praxis (Punkt 1):

„Daher müssen sie, die wir als Mystiker gelten lassen sollen, … sich der inneren Mühsal des mystische Weges unterworfen [haben], nicht nur über die mystischen Erfahrungen anderer Überlegungen angestellt haben … Die Aufforderung des mystischen Lebens an uns lautet: Kommt und seht!“ (109)

Mystik als „ausschließlich geistige Tätigkeit“ (Punkt 2)

„Der Mystiker wendet sich nie in dieser Weise [die Kräfte des Selbst zur Vermehrung von Macht, Heilkraft, Glück oder Wissen zu benützen] auf sich selbst zurück oder versucht die Vorteile zweier Welten zu vereinen. Am Ziel seiner Entwicklung erkennt er Gott durch die Vereinigung mit ihm, und diese unmittelbare Anschauung des Absoluten tötet alle niederen Begiereden. Er besitzt Gott und bedarf weiter nichts.“ (112)

Erneut wird die Absolutheit des Göttlichen vor der Bedingtheit der Welt hervorgehoben, so als wenn es sich um zwei unterschiedliche Bereiche handeln würde. Bei der Anwendung der Kräfte des Selbst wird der Missbrauch betont, dem es in der Tat zu begegnen gilt, aber dass die Kräfte des Selbst auch ungeheuer viel Gutes in der Welt bewirken können, findet keine Erwähnung.

Liebe als „Weg und Ziel der Mystik“ (Punkt 3)

Der Liebe als der „Wissenschaft des Herzens“ wendet sich Underhill ausführlich – und belegt durch viele Zitate von MystikerInnen – zu.

„Es ist die eifrige, nach außen wirkende Tätigkeit, deren Triebkraft selbstlose Liebe ist, nicht die aufsaugende, an sich reißende Tätigkeit, die nur nach neuen Erkenntnissen strebt, welche ihr sowohl in der geistigen wie in der physischen Welt nützen sollen.“ (113)  

Mystik und „psychologische Erfahrungen“ (Punkt 4)

Dies ist einer der faszinierendsten Aspekte mystischer Entwicklung, die – salopp gesagt –  Verbindung von Buddha, Freud und Piaget, von – in den Begriffen von Wilber – mystischem Zustandsentwicklungsweg, psychologischem Strukturentwicklungsweg und Psychodynamik.

Wilber nennt das die 3 S des Bewusstseins: states, structures und shadow.

Bei Underhill heißt es:

„Die Mystiker betonen aufs Nachdrücklichste, dass alles geistliche Verlangen umsonst ist, wenn es nicht eine Bewegung des ganzen Selbst auf das Wirkliche hin zur Folge hat … Wenn dieser Trieb zu sittlicher Vollkommenheit ihm [dem Mystiker] nicht eingeboren ist, diese mühevolle Arbeit des innern Lebens nicht begonnen hat, ist er kein Mystiker, obgleich er sehr wohl ein Visionär, ein Prophet oder ein ‚mystischer’ Dichter sein kann.“ (120)

Kapitel 5 Mystik und Theologie

Die unmittelbar Anschauung von Geistesinhalten ist das eine, deren Betrachtung von außen in einer Art mystischem Strukturalismus, mit der Entwicklung von Theorien und inneren Landkarten, ist etwas anderes. Ersteres ist die Innenseite, Letzteres die Außenseite mystischer Erfahrung.

„Im letzten Kapitel versuchten wir, den Unterschied festzustellen zwischen dem Mystiker, der das höchste Erlebnis kostet, und dem mystischen Philosophen, der die so erhaltenen Tatsachen denkend verarbeitet. Wir müssen nun jedochden Umstand in Betracht ziehen, dass der wahre Mystiker auch sehr oft ein mystischer Philosoph ist, wiewohl es sehr viele mystische Philosophen gibt, die keine Mystiker sind und es nie sein können.“ (127)

Die Mystiker, so stellt Underhill fest, waren meist „getreue Söhne“ (oder Töchter) ihrer Religion.

„So erklärte die hl. Teresa ihre ekstatische Wahrnehmung der Gottheit in streng katholischen Ausdrucksformen.“ (127)

Dennoch gehört die mystische Erfahrung keiner Religion, weshalb sie für die Religionen eine Herausforderung darstellte und darstellt. Die Religionen – jedenfalls in ihren traditionellen Strukturen – waren und sind diesen Erfahrungen nicht gewachsen.

„Die Versuche jedoch, die mystische Wahrheit, die unmittelbare Wahrnehmung des göttlichen Wesens, auf die Glaubensformel einer bestimmten Religion zu beschränken, sind so nutzlos wie der Versuch, ein kostbares Metall nur in einer bestimmten Prägung, die es zu gangbarer Münze macht, als solches anzuerkennen. Der Prägestöcke, die die Mystiker benutzt haben, sind viele.“ (128)

Underhill erläutert dann die Emanationstheorie, die besagt, dass Gott oder das Göttliche vollkommen transzendent ist, und Menschen daher immer nur einen Abglanz oder Widerschein erfahren können. Demgegenüber sagt die Immanenztheorie, dass das Göttliche oder Gott nicht weit entfernt, sonder ganz nahe ist, so nahe, dass ein Öffnen der Augen der Seele für die Wirklichkeit genügt, in die sie eingetaucht ist (William James), bzw. dass „Gott niemandem fern ist, sondern allen nahe, ohne dass sie es wissen“ (Plotin). Ein moderner Mystiker, Sri Nisargadatta, beschreibt diesen Sachverhalt der Immanenz des Göttlichen wie folgt: „Gott ist uns so nahe, dass kein Raum für einen Weg und keine Zeit für eine Suche bleibt.“

„Nach der Immanenztheorie würden wir die Schöpfung, das Weltall, könnten wir es so sehen, wie es ist, als die Selbstentwicklung, die Selbstentfaltung dieser ihm innewohnende Gottheit wahrnehmen. Die Welt ist nicht von dem Absoluten projiziert, sondern sie schließt Es ein. ‚Ich begriff’, sagt die hl. Teresa, ‚wie unser Herr in allen Dingen ist und wie er in der Seele ist, und mir kam das Bild eines Schwammes, der mit Wasser gefüllt ist.’“ (133) 

Underhill führt nun Beispiele von Mystik an, die sowohl für die Emanation wie auch für die Immanenz des Göttlichen sprechen. Der Weg zu Gott, wie z. B. in Dantes göttlicher Komödie, ist ein Weg der Emanation, während die unmittelbare Erfahrung Gottes das Wesen der Immanenz enthüllt. 

„Eine gute Landkarte also, eine gute Philosophie der Mystik wird beiden Arten, die Erfahrung zu erklären, Raum geben.“ (137)

In der Dreieinigkeitslehre des Christentums sieht Underhill die ideale Verbindung und „Versöhnung des Unendlichen und des Persönlichen.“

„Solch ein drittes Glied, solch ein Trittbrett war unbedingt nötig, wenn die Mystik je zu dieser aktiven Vereinigung, zu dieser Fülle des Lebens, die ihr Ziel ist, gelangen und sich von blindem, selbstischen Entzücken zu fruchtbarer, selbstvergessener Liebe entwickeln sollte.“ (139)

Diese Dreieinigkeit setzt Underhill, ähnlich wie Wilber das für die „Großen Drei“ tut, in Beziehung zum „Guten, Wahren und Schönen“, und „der Ethik, Wissenschaft und der Kunst“.

Das Wesen der Nichtdualität, bei der sich entwickelnde Form und unbewegte Absolutheit als zwei Seiten einer Münze darstellen, beschreibt Underhill so:

„… der bei den modernen Philosophen so beliebte Evolutionsprozess der Welt – wird hier ein für allemal in eine wahre Beziehung gesetzt zu dem rein transzendenten und unbewegten Sein, dem absoluten Einen des Xenophanes und der Platoniker.“ (154)

Zum Schluss des Kapitels dann noch der Hinweis, dass Landkarten und Diskussionen die eigene Erfahrung niemals ersetzen können:

„Ferner können alle solche Karten, und wir, die wir Erörterungen darüber anstellen, nur kalten Blutes und mit angemaßter Exaktheit Sachen feststellen, die die wahren Erforscher der Ewigkeit nur wahrnehmen konnten in der Inbrunst einer solchen Leidenschaft, in der Verzücktheit einer solchen Vereinigung, wie wir armen erdgebundenen Sklaven unserer verzettelten Gefühle sie kaum ertragen könnten. ‚Wenn du wissen willst, wie diese Dinge geschehen’, sagt der hl. Bonaventure, – und diese Worte sollten sich alle Theologen merken – ‚frage die Gnade, nicht die Lehre; das sehnsüchtige Verlangen, nicht den Verstand; die Inbrunst des Gebets, nicht die Lehrern der Schule …’“ (164)

Kapitel 6 Mystik und Symbolik

Die Verbindung von mystischen Erfahrungen einerseits und deren Interpretation durch eine kulturelle oder religiöse Weltsicht beschreibt Underhill wie folgt:

„Bei der Betrachtung der Theologie haben wir gesehen, wie der christliche Mystiker als Landkarte für seine Reisen und Abenteuer die Glaubensformel und das Bild der geistigen Welt übernimmt, das für Christen im Allgemeinen gilt. Wir haben gesehen, dass er darin eine Tiefeund einen Reichtum findet, von dem der landläufige, gut kirchliche Gläubige selten etwas ahnt, und dass dies nicht nur von dem christlichen Mystiker gilt, sondern ebenso von dem Heiden, dem Mohammedaner und dem Buddhisten in bezug auf ihre Glaubensformen.“ (165)

Diesen Gedanken der Interpretationen und Vermittlung von Wahrnehmungsinhalten (Immanuel Kants a prioris des Wahrnehmens) durch menschliche Bedingtheiten (physiologisch, psychologisch, kulturell und systemisch) führt sie dann noch weiter aus, und bringt die Symbolik von Wahrnehmung ins Spiel:

„Infolge der räumlichen Anschauung, die mit dem menschlichen Denken und dem menschlichen Ausdruck untrennbar verbunden ist, ist eine unmittelbare Schilderung religiösen Erlebens für den Menschen nicht möglich. Sie muss immer symbolisch, indirekt, andeutend sein, immer die Wahrheit ahnen lassen, doch sie nie aussprechen …“ (166)

Underhill kommt dann auf drei große Klassen von Symbolen zu sprechen, und beschreibt diese anhand konkreter Beispiele:

„Die drei großen Klassen von Symbolen, welche ich hier betrachten will, gründen sich auf die drei tiefen Sehnsüchte des Selbst, auf die drei großen Auswirkungen der Unruhe im Menschen, die nur die mystische Wahrheit ganz stillen kann. Die erste dieser Sehnsüchte macht ihn zu einem Pilger und Wanderer … Die zweite ist das Verlangen des Herzens nach dem Herzen … Die dritte ist das Verlangen nach innerer Reinheit und Vollkommenheit …“ (167)

Kapitel 7 Mystik und Magie

Was ist Mystik, und was ist Magie? Was unterscheidet die Erfahrungen und Einstellungen des einen vom anderen? Underhill spricht von „Gefahren der Adoleszenz“, die sich „auf der höheren Bewusstseinsebene steigern“.

„Der Mensch wird, wenn plötzlich neues Leben in ihn einströmt und er neue Kräfte und Triebe in sich spürt, von jeder glänzenden und phantastischen Idee, bei jeder Lockung die sich ihm bietet, geblendet und gefangengenommen.“ (196)

Mystische Einsichten und Erfahrungen, so könnte man in Anlehnung an den integralen Ansatz sagen, treffen auf Menschen mit mehr oder weniger weit entwickelten Persönlichkeitsstrukturen, und in diesem Aufeinandertreffen sind alle Arten von Kombinationen möglich. Darauf weist Underhill bereits hin, und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie von einem „Hervorbrechen von Okkultismus, Illuminismus und anderen Entartungserscheinungen des religiösen Lebens“ spricht. Sie erwähnt in diesem Zusammenhang die „anmaßende Metaphysik der Gnostiker“, die „Pseudomystik der Brüder vom freien Geist“, die „okkulte Propaganda des Paracelsus“, die „Rosenkreuzer“ und die „christlichen Kabbalisten“. Auch Rudolf Steiner erwähnt sie in diesem Zusammenhang[1]. Den Unterschied zwischen Magie und Mystik charakterisiert sie wie folgt:

„Es [Magie] ist eine Art des Transzendentalismus, die abnorme Dinge tut, aber zu keinem Ziel führt, und wir sind in Gefahr, irgendwie der Magie zum Opfer zu fallen, sobald das ‚Ich will wissen’ das ‚Ich will sein’ von seinem ersten Platz in unserm Bewusstsein verdrängt“ (199)

„Sobald die transzendentalen Fähigkeiten frei werden, nehmen sie [Mystiker und Okkultist] diese Welt wahr, jedoch im Falle des Mystikers suchen sie so schnell wie möglich durch sie hindurchzukommen. Der Okkultist dagegen will im Astralen verweilen und hier sein Wahrnehmung ausdehnen. Es ist das Medium, worin er arbeitet.“ (206)  

Das, was wir heute als New Age Subjektivismus erleben, im Sinne von „mein Bewusstsein erschafft die Welt“, gab es auch schon zu Zeiten Underhills: „Die Prediger der ‚Philosophie der Freude’ und anderer verwässerter Formen geistiger Disziplin sind die wahren Priester transzendentaler Magie in der heutigen Zeit,“ und zitiert aus einem Buch einer dieser „Priester“:

„Stelle dir vor, dass die ganze Welt und alle Sternenscharen tatbereit und mit strahlenden Augen deines Winkes gegenwärtig sind. Stelle dir vor, du brauchst nur eben auf den Knopf zu drücken, und sie springen sogleich hinzu, um das Übrige zu tun. In dem Augenblick, wo du sagst: ‚Ich kann und ich will’, werden alle Kräfte des Universums in Bewegung gesetzt.“ (206)

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die „Lehre von der Analogie oder unmittelbaren Entsprechung von Schein und Wirklichkeit, vom Mikrokosmos des Menschen und dem Makrokosmos des Weltalls, der sichtbaren und der unsichtbaren Welt“, die auch heute sehr auflagenstarke Vertreter hat, wie beispielsweise Rüdiger Dahlke. Analogien können einen Geschmack von Erfahrungen geben, die noch nicht erkannt, aber in ihrer analogen Entsprechung erahnt werden können, sie können aber auch Ausdruck einer magischen und prä-rationalen Verschmelzung sein, bei der Ähnliches gleichgesetzt, und Unterschiede übergangen werden.

„Das Prinzip der Entsprechung ist zweifellos ein gesundes und fruchtbares, solange es in vernünftigen Grenzen angewandt wird.“ (212)

Die „Hauptlehren der Magie“ fasst Underhill in drei Punkten zusammen:

  1. „Es existiert ein übersinnliches und wirkliches ‚kosmisches Medium’, das die sinnliche Erscheinungswelt durchdringt, beeinflusst und trägt und das sowohl den Kategorien der Philosophie wie der Physik untersteht.
  2. Es besteht eine genaue Analogie und ein bestimmtes Verhältnis zwischen der wirklichen und der unsichtbaren Welt und den täuschenden Erscheinungen, die wir die Sinnenwelt nennen.
  3. Diese Analogie kann erkannt und dies Verhältnis bestimmt werden von dem disziplinierten Willen des Menschen, der auf diese Weise Herr über sich selbst und über sein Schicksal wird.“ (212)

Okkultismus hat viel mit Psychologie zu tun:

„Die alten Okkultisten verdanken viel von ihrer Macht und auch viel von ihrem üblen Ruf der Tatsache, dass sie der Psychologie ihrer Zeit voraus waren.“ (213)

Underhill untersucht das Werk des Magiers Eliphas Lévis, von dem sie sagt, dass er „dicht an der Grenze der Mystik“ stand.

„Der hauptsächlichste dieser Mängel ist die besondere Geistesverfassung, der kalte geistige Hochmut, der durchaus individualistische Standpunkt, den die okkulte Forschung durch ihr bewusstes Streben nach ausschließlicher Macht und Erkenntnis und die dadurch gegebene Vernachlässigung der Liebe herbeizuführen pflegt.“ (216)

In der Sprache der Entwicklungspsychologie bedeutet dies die brisante Mischung aus höheren Zustandserfahrungen mit weniger weit entwickelten, egozentrischen Bewusstseinsstrukturen einer egoistischen Machtausübung, deren Kreis der Liebe sich auf die eigene Person oder einen Kreis von Auserwählten beschränkt.

Die institutionalisierte Religiosität bedient sich bewusst magischer Rituale:

„Wer zum Beispiel den römisch-katholischen Taufritus mit seinen Zauber- und Beschwörungsformeln, seiner echt hermetischen Anwendung von Salz, Salböl und feierlichen Kerzen mit Verständnis beobachtet hat, muss erkannt haben, dass eine solche Zeremonie dem Verfahren der weißen Magie viel näher steht als den einfachen Waschungen, wie sie St. Johannes der Täufer verrichtete.“ (217)

Aufgabe der Kirche ist es, nach Underhill, sich „an den ganzen Menschen zu wenden“. Eine Kirche, die sich jedoch auf äußerliche Rituale beschränkt, „muss dafür bezahlen“, weil Rituale eine Methode darstellen, „die nicht wirklich nach den letzten Dingen strebt.“

„So wird es trotz aller gegenteiligen Bemühungen immer eine innere und eine äußere Kirche geben: die innere Kirche der Mystiker, die wissen ; und die äußere Kirche, die zwar wohltätig wirkt, allein – schroff ausgedrückt – auf der magischen Ebene, die nur darum weiß.“ (219)

[1] Steiners Buch Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? bezeichnet sie als „außerordentlich merkwürdiges und interessantes kleines Buch.“

TEIL 2 Der mystische Weg – Kapitel 1 Einleitung

Nach einer allgemeinen Einführung im ersten Teil geht es Underhill im zweiten Teil um eine Beschreibung des mystischen Weges, so wie er sich ihr aus den Zeugnissen der Mystikerinnen und Mystiker darstellt. Praktisch alle mystischen und kontemplativen Traditionen haben eine Wegbeschreibung, eine Beschreibung von Einweihung, Erleuchtung, Gralssuche, das Finden des Ochsen oder etwas Ähnliches. Diese Beschreibungen als Landkarten und Wegweiser helfen Suchenden sich zu orientieren, und sind gleichzeitig Spuren derjenigen, die ihnen und uns vorangegangen sind.

Kapitel 1 Einleitung

Bei derartigen Einteilungen und Strukturbeschreibungen innerlicher Erfahrungen ist Sorgfalt geboten, dessen ist sich Underhill voll bewusst.

„Wenn wir nun eine solche Klasseneinteilung auf etwas so Zartes und schwer zu Fassendes anwenden wie die Seelenzustände, die das ‚kontemplative Leben’ begleiten, so scheinen die Schwierigkeiten noch unendlich größer. Es lässt sich kein einziger Mystiker entdecken, bei dem sich alle die charakteristischen Eigenschaften des übersinnlichen Bewusstseins, die man beobachtet hat, vereinigt finden, und den man deshalb als typisch ansprechen kann … Nehmen wir jedoch eine Anzahl von solchen ausgesprochen mystisch veranlagten Menschen und machen wir von ihnen sozusagen ein ‚zusammengesetztes Portrait’ [dann wird] dies Bild uns einen Typus zeigen, der alle hervorstechenden Eigentümlichkeiten zusammen aufweist … “ (224)

Underhill wählt eine Einteilung in fünf Stufen, die dann in den folgenden Kapiteln ausführlich erläutert werden:

  1. Das Erwachen des Selbst zum Bewusstsein der göttlichen Wirklichkeit
  2. Die Reinigung des Selbst, das zum ersten Mal der göttlichen Schönheit gewahr wird
  3. Die Erleuchtung als konkrete Erfahrung
  4. Die dunkle Nacht der Seele
  5. Die Einigung, als „das wahre Ziel der mystischen Suche

Dass diese Erleuchtung nicht zu einer Abkehr von der Welt, sondern, im Gegenteil zu einer Hinwendung führt, wird Underhill nicht müde zu betonen:

„Ganz umgeschaffen für das Leben der Wirklichkeit, den Doppelzustand des Genießens und der Tätigkeit, den Ruysbroeck als die Krönung der menschlichen Entwicklung, ‚die höchste Stufe des innigen Lebens’ beschreibt, an sich darstellend, lebten alle diese [Mystiker] sozusagen nach zwei Richtungen: dem Endlichen und dem Unendlichen, Gott und dem Menschen zugekehrt. Zwar haben fast alle diese ‚großen Tatmenschen’ zuerst die Welt verlassen, als notwendige Vorbedingung, um mit jenem absoluten Leben, das ihrem Leben Kraft gab, in Berührung zu kommen, denn ein durch die Vielen abgelenkter Geist kann den Einen nicht erfassen. Daher ist die Einsamkeit der Wüste ein wesentlicher Teil der mystischen Erziehung. Aber nachdem sie diese Berührung erreicht und sich auf der übersinnlichen Ebene heimisch gemacht hatten, nachdem sie nicht nur in vorübergehenden Ekstasen, sondern durch vollständige Hingabe mit ihrem Ursprung vereint waren, fühlten sie sich getrieben, ihre Einsamkeit zu verlassen, und nahmen in gewisser Weise ihren Kontakt mit der Welt wieder auf, um das Medium zu werden, durch das das Leben anderen Menschen zuströmt.“ (231)

„Es ist eine Wandlung, wobei das Selbst sich von der unwirklichen Sinnenwelt, in die es von Natur versenkt ist, abwendet, um die absolute Wirklichkeit zunächst wahrzunehmen, dann sich mit ihr zu vereinigen und endlich, wenn es ganz von diesem übersinnlichen Leben ergriffen ist und sich ihm hingegeben hat, ein Medium zu werden, durch das die Geisteswelt unmittelbar und einzigartig auf die Sinnenwelt einwirkt.“ (232)

Kapitel 2 Das Erwachen des Selbst

„Dies Erwachen erscheint unter psychologischen Gesichtspunkten als eine gesteigerte Form der viel erörterten Erscheinung, die man als ‚Bekehrung’ bezeichnet.“ (233)

Danach folgt eine Beschreibung dessen, was die Entwicklungspsychologie als die Strukturstufe des Narzissmus oder der Egozentrik beschreibt:

„Zuerst wird der Mensch in seine eigene kleine Welt hineingeboren. Er wird beherrscht von den tief eingewurzelten Instinkten der Selbsterhaltung und Selbstausdehnung, die zweifellos ein Erbe von seinen tierischen Vorfahren sind. Sein Ich bildet den Mittelpunkt seines Universums.“ (233)

Dieses Ich kann dann durch mystische Erfahrungen von Grund auf erschüttert werden, manchmal „allmählich, sanft, fast unmerklich“, doch meist dramatisch.

„Am häufigsten jedoch, wenn wir nach den authentischen Berichten, die wir besitzen, urteilen dürfen, ist die mystische Bekehrung ein einmaliges plötzliches Erlebnis, das sich von den langen dumpfen Kämpfen, die ihm vorhergehen und folgen, scharf abhebt. Gewöhnlich gibt es sich als eine plötzliche und lebhafte Wahrnehmung eines Glanzes, und einer wunderbaren Wirklichkeit in der Welt – oder bisweilen ihres Gegenteils, der göttlichen Trauer im Herzen der Dinge … Soweit ich die Möglichkeiten menschlicher Sprache kenne, gibt es keine Worte, die eine solche Wahrnehmung ausdrücken können.“ (235)

Underhill belegt dies an Beispielen wie Paulus, Franz von Assisi, Katharina von Genua, Madame Guyon, Rulman Merswin, Seuse, Pascal, Bruder Laurentius, Walt Whitman, Richard Jefferies und Rolle. Durch die Wiedergabe von Originalberichten wird die Dramatik dieser mystischen Erlebnisse und Bekehrungen deutlich:

„Und sie ging heim, entzündet und tief verwundet von einer so großen Liebe Gottes, die ihr innerlich offenbart worden war zugleich mit ihrer eigenen Erbärmlichkeit, dass sie wie außer sich war … „ (240)

„Von jenem Augenblick an war mein Gebet von jeder Form, Besonderheit und Bildersprache entleert; nichts von meinem Gebete ging durch den denkenden Geist hindurch, sondern es war ein Gebet freudiger Willensüberzeugung, wobei die Hingabe an Gott so groß, rein und einfach war, dass sie die beiden anderen Seelenkräfte in vollkommener Passivität in sich einsammelte.“ (243)

„Da sah er und hörte, was allen Zungen unaussprechlich ist: Es war formlos und artlos und hatte doch alle Formen und Arten freudenreicher Lust in sich.“ (247)

Underhill erwähnt auch das Memorial von Blaise Pascal, das dieser immer bei sich trug, eingenäht in seinen Mantel, und das erst nach seinem Tode gefunden wurde. Es ist ein besonders eindrücklicher „Augenzeugenbericht“ einer mystischen Erfahrung, eingebettet und formuliert in Begriffen der christlichen Religion:

„Jahr der Gnade 1654
Montag, den 23. November, Tag des heiligen Klemens, Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium. Vorabend des Tages des heiligen Chrysogonos, Märtyrer und anderer. Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht
Feuer
„Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs“, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede.
Gott Jesu Christi
Deum meum et Deum vestrum. „Dein Gott wird mein Gott sein“- Ruth – Vergessen von der Welt und von allem, außer Gott. Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist er zu finden.
Größe der menschlichen Seele
„Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich.“ Freude, Freude, Freude und Tränen der Freude. Ich habe mich von ihm getrennt. Dereliquerunt me fontem aquae vivae.
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen.“ Möge ich nicht auf ewig von ihm geschieden sein.
„Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.“
Jesus Christus!
Jesus Christus!
Ich habe mich von ihm getrennt, ich habe ihn geflohen, mich losgesagt von ihm, ihn gekreuzigt. Möge ich nie von ihm geschieden sein. Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, kann man ihn bewahren.
Vollkommene und liebevolle Entsagung. Vollkommene und liebevolle Unterwerfung unter Jesus Christus und meinen geistlichen Führer. Ewige Freude für einen Tag geistiger Übung auf Erden. Non obliviscar sermones tuos. Amen.“ (249)

Erneut betont Underhill die Zweiseitigkeit bzw. Nichtdualität der Mystik:

„Wir haben gesagt, dass dieses Bewusstsein in seiner vollen Entwicklung nicht nach einer, sondern nach zwei Richtungen hin ausgedehnt erscheint. Diese Richtungen, diese beiden Grundarten, die Wirklichkeit zu begreifen, können wir als den ewigen und den zeitlichen, den transzendenten und den immanenten, den absoluten und den dynamischen Aspekt der Wahrheit bezeichnen. Sie umfassen die zweifache Erkenntnis eines Gottes, der sowohl seiend wie werdend, nahe wie fern ist.“ (257)

Auch die von Ken Wilber entwickelte Vorstellung der drei Gesichter Gottes oder des Göttlichen, als Perspektiven des Ich (Identität), des Du (Beziehung) und des Es (äußerliche Offenbarung) findet sich schon bei Underhill.

Zuerst stellt sie fest, dass es verschiedene Zugänge zum Göttlichen gibt:

„Eine Seite erwacht immer zuerst, und zwar die, wo die Botschaft den geringsten Widerstand findet.“ (257)

Die Begegnung mit dem dritten Gesicht Gottes, dem göttlichen Es, formuliert Underhill wie folgt:

„Nicht die persönliche Berührung der Liebe, die die Seele verklärt, sondern die unpersönliche Herrlichkeit eines verklärten Universums ist die beherrschende Note in diesem Erlebnis.“ (257)

Doch „Es genügt nicht, ein bloßer Zuschauerder Wirklichkeit zu sein. Das erwachte Selbst soll nicht nur das übersinnliche Leben wahrnehmen, sondern daran teilnehmen“, und dies führt zur zweiten Person des Göttlichen.

„Diese persönliche Berührung ist es, dieser individuelle Anruf einer unmittelbaren Gegenwart, nicht das große Licht und die Vision beatifica, worauf das erwachte Selbst am inbrünstigsten und heroischsten antwortet.“ (258)

Schließlich kann das Göttliche auch als eine erste Person in Form von Identität in das Leben eintreten.

„Bei vielen Bekehrungen zum mystischen Leben fehlt die Erscheinung eines äußeren Glanzes, die leuchtende Vision der übersinnlichen Geisteswelt ganz. Das Selbst erwacht mehr zu dem, was in ihm, als dem, was draußen ist, dem immanenten, nicht dem transzendenten Gott …“ (259)

Und schließlich:

„Das Erwachen des Selbst ist ein Erwachen zu einer neuen und aktiveren Daseinsebene, zu neuen und persönlicheren Beziehungen zur Wirklichkeit und daher zu neuen und wesentlicheren Aufgaben.“ (260)

Kapitel 3 Die Reinigung des Selbst

„Hier steht also das neu erwachte Selbst, das sich zum ersten Mal der Wirklichkeit bewusst geworden und von tiefer Liebe und Ehrfurcht zu dieser Wirklichkeit ergriffen worden ist. Es sieht sich jedoch nicht nur in eine neue Welt gestoßen, sondern auch an den Anfang eines neu zu beginnenden Pfades gestellt. Rastlose Tätigkeit ist jetzt seine Losung, Pilgerschaft seine Lebensaufgabe. ‚Dass eine Suche und ein Ziel da ist, ist als einziges Geheimnis verkündet.’“ (261)

In diesem Abschnitt beschreibt Underhill am Beispiel von Mystikerinnen und Mystikern den Weg der Reinigung als einen Weg der „Wandlung in der inneren Haltung des Subjektes“. Dieser Wegabschnitt wird überwiegend als sehr schwierig erfahren, körperlich, emotional und geistig, als eine extreme und dramatische Auseinandersetzung auf Leben und Tod zwischen den bisherigen Neigungen und Identifikationen und dem, was das mystische Leben erfordert oder zu erfordern scheint.

„In diesem Sine also ist die Reinigung ein unablässig dauernder Vorgang. Das jedoch, was die mystischen Schriften meinen, wenn sie von dem Weg der Reinigung sprechen, ist vielmehr die langsame und mühselige Vollendung der Bekehrung. Es ist die energische Wendung vom unwirklichen zum wirklichen Leben, ein Neuordnen und Bestellen seines Hauses, eine Einstellung des Geistes auf die Wahrheit. Die Aufgabe dabei ist zunächst, alle Selbstliebe abzutun und danach alle jene törichten Interessen, in denen das Oberflächenbewusstsein befangen ist.“ (269)

Meide die Vielen und suche das Eine ist eine von vielen Charakteristiken dieser Wegstrecke. Als einen ersten Prozess beschreibt Underhill dabei die „Loslösung, und bedient sich dabei der Begriffe des Katholizismus:

„Unter Armut versteht der Mystiker eine völlige Selbstentäußerung, den Verzicht auf sowohl immateriellen wie materiellen Reichtum, eine vollständige Loslösung von allen endlichen Dingen. Unter Keuschheit  versteht er die höchste Reinheit der Seele, die Jungfrau ist für alles außer Gott; unter Gehorsam die Verleugnung der Selbstheit, die Kasteiung des Willens, die in völlige Demut, ‚heilige Gleichgültigkeit’ gegen alle Zufälle des Lebens einmündet.“ (270) 

Dass diese Abkehr von allem Geschaffenen auch zu weit führen kann, erwähnt Underhill am Beispiel des Asketen Curé von Ars, der „nicht einmal an einer Rose riechen wollte, aus Furcht, Sünde zu tun …“  

Es ist ein schmaler Grat, der zum einen zu einer Abkehr von den Vielen führen muss, ohne dabei jedoch zu einer Ablehnung oder gar Hass zu werden. Johannes vom Kreuz wird wie folgt zitiert:

„Auf dass du Freude an allen Dingen habest, suche Freude in keinem Dinge. Auf dass du alles wissest, suche nichts zu wissen. Auf dass du alles besitzest, suche nichts zu besitzen … In dieser Entblößung findet der Geist Ruhe und Frieden, denn da er nichts begehrt, so macht ihn kein ehrgeiziges Streben müde, noch wird er durch Fehlschläge niedergedrückt, weil er im Zentrum seiner eigenen Demut steht.“ (272)

Alles Endliche vergeht, so einer der wesentlichen mystischen Einsichten, und daher ist wahrer Frieden und wahre Freude nur in der Loslösung von jeglichen Anhaftungen zu finden. Diese Entsagung ist nicht nur ein Kennzeichen christlicher Mystik, sondern findet sich in allen mystischen Traditionen:

„Abschied des Einsiedlers
Erde, du meine Mutter, und du, mein Vater, der Lufthauch,
Und du Feuer, mein Freund, du mein Verwandter, der Strom,
Und mein Bruder, der Himmel, ich sag’ euch allen mit Ehrfurcht
Freundlichen Dank. Mit euch hab’ ich hienieden gelebt
Und geh’ jetzt zur anderen Welt, euch gerne verlassend;
Lebt wohl, Bruder und Freund, Vater und Mutter, lebt wohl!“
(Spruch des Bhartrhari I, 10, 10, übersetzt von Herder) (247)

Auf diesem Verzichtsweg kommt es auf die innere Einstellung und nicht auf äußere Gesten an.

„Besitz hat für jede menschliche Seele eine andere Bedeutung, und die wahre Regel der Armut ist, dass man Dinge aufgibt, die den Geist unfrei und zwiespältig machen und ihn von seinem Wege zum Absoluten abbringen, mögen diese Dinge nun Reichtümer, Gewohnheiten, religiöse Bräuche, Freunde, Interessen, Neigungen oder Abneigungen sein, – nicht die äußere Verzichtsleistung um ihrer selbst willen.“ (279)

Dabei erwähnt Underhill immer wieder Beispiele auch „drastischen“ Verhaltens wie das einer Antoinette Bourignon:

„Durch die Leiden in einem teilnahmslosen Heim und noch mehr durch eine drohende Heirat verstärkt, gewannen die inneren Kräfte die Oberhand. Sie ergab sich, und nachdem sie sich als Einsiedler verkleidet hatte – sie war erst achtzehn Jahre alt, und hatte niemanden, der ihr hätte helfen und raten können – verließ sie etwa um vier Uhr morgens ihr Zimmer und nahm nur einen einzigen Pfennig mit sich, um sich Brot für den Tag zu kaufen, und da sie beim Hinausgehen die innere Stimme sagen hörte: ‚ W o  i s t   d e i n  G l a u b e? S e t z e s t  d u   d e i n e n  G l a u b e n  a u f  e i n e n  P f e n n i g?’ warf sie ihn fort …” (280)

Worum es bei der Loslösung geht, fasst Underhill, mit Bezugnahme frei nach Platons Gastmahl, wie folgt zusammen:

„’Die rechte Art zu gehen ist die, dass man die Schönheiten der Erde als Stufen benutzt, auf denen man zu jener anderen Schönheit emporsteigt.’ Dies ist auch die wahre Art der Heiligen Armut: der selbstlose Gebrauch, nicht die selbstsüchtige Schmähung liebenswerter natürlicher Dinge.“ (284)

Als einen zweiten zentralen Begriff, den sie psychologisch versteht, diskutiert Underhill die Kasteiung:

„Die Kasteiung habe ich als die positive Seite der Reinigung bezeichnet: als die Erneuerung der dauernden Bestandteile der Persönlichkeit im Hinblick auf die Wirklichkeit. Diese Elemente haben bisher den Interessen des alten Selbst gedient, haben in der Sinnenwelt für es gewirkt. Nun müssen sie den Bedürfnissen des neuen Selbst und der übersinnliche Welt, in der es sich bewegt, angepasst werden …- Psychologisch ausgedrückt bedeutet Kasteiung ‚neue Bahnen der Nervenentladung öffnen’. Das will sagen, das mystische Leben muss sich im Handeln ausdrücken, und dazu müssen neue Wege gefunden und neue Gewohnheiten ausgebildet werden, die dem Menschen trotz aller Begeisterung des neuen Selbst ‚gegen den Strich gehen’. Die Energie, die in jedem lebenden Wesen ständig aufquillt, muss die alte Bahn des geringsten Widerstandes verlassen und sich auf einem neuen und schwierigeren Wege auswirken. Die alten verlassenen Pfade müssen allmählich verschwinden. Wenn sie fort sind und das neue Leben triumphiert hat, ist die Kasteiung zu Ende.“ (285)

Die Auswirkungen dieses „göttliche[n] Schmelzofen[s] göttlicher Liebe“ auf das mystische Leben wird an konkreten Lebensbeispielen dargestellt.

„Jenes alte furchtbare Gesetz des innern Lebens, das so phantastisch klingt und doch so bitter wahr ist: ‚kein Fortschritt ohne Schmerz’ bewahrheitet sich hier. Es erklärt, dass in der geistigen so gut wie in der materiellen Welt Geburtswehen ertragen werden müssen, dass zweckmäßige Schulung dem Athleten immer Schmerz bereitet. (291)

Manchmal wird das Leid dabei direkt aufgesucht, ja herbeigesehnt, als eine Form von bedingungsloser Konfrontation mit der Wirklichkeit:

„Ich will den empfindlichen Leser mit einer ausführlichen Schilderung der ekelhaften Proben verschonen, wodurch die hl. Katharina von Genua und Madame Guyon sich von allem Ekel zu heilen und diese Freiheit des Geistes zu erlangen suchten. Sie suchten, wie der hl. Franziskus., die hl. Elisabeth von Ungarn und zahllose andere Wirklichkeitssucher, die Kranken und Unreinen auf und dienten ihnen mit Demut und Liebe, scheuten nichts, um sich dem Leben in seiner niedrigsten Form zuzugesellen, zwangen sich zur Berührung der ekelhaftesten Dinge und versuchten, das Oberflächenbewusstsein zu unterdrücken durch das herkömmliche asketische Mittel: allen, selbst den natürlichsten und harmlosesten Neigungen konsequent entgegenzuhandeln.“ (295) 

Als ein Beispiel für das religionsübergreifende Wesen der Mystik erwähnt Underhill den persischen Mystiker Al Ghazali, der auch den „Weg der Reinigung“ ging.

Diesen Weg der Reinigung fasst Underhill wie folgt zusammen:

„Der Kampf des Selbst, um sich von der Täuschung loszumachen und das Absolute zu erreichen, ist ein Kampf des Lebens. Daher wird und muss er immer etwas von der Freiheit und Ursprünglichkeit des Lebens haben und wird viel mehr künstlerischen als wirtschaftlichen Gesetzen folgen. Er wird bald nach der Licht-, bald nach der Schattenseite des Erlebens hinneigen, und diese Schwankungen werden bisweilen groß, bisweilen klein sein. Temperament und Umgebung, Inspiration und Bekehrung, alles wird dabei mitwirken. Es gibt in diesem Kampf drei Faktoren.

  1. Das unwandelbare Licht der ewigen Wirklichkeit, das reine Sein, ‚das ewig leuchtet und nichts trüben kann.’
  2. Das mehr oder weniger dichte Gewebe von Täuschung, das das sinnliche Selbst umstrickt, verwirrt und verlockt.
  3. Das Selbst, das, sich beständig wandelnd, bewegend, mühend, – kurz beständig w e r d e n d, – in allen Fasern lebendig, zugleich der Wirklichkeit und der Unwirklichkeit angehört.

In dem sich stets verschiebenden Verhältnis zwischen diesen drei Faktoren, der dadurch erzeugten Energie und der geleisteten Arbeit, finden wir vielleicht die Ursache der unzähligen Arten von Anspannung und Qual, die man in ihrer objektiven Form den Weg der Reinigung nennt.“ (301)

Kapitel 4 Die Erleuchtung des Selbst

„In diesem Kapitel kommen wir zum ersten Mal zu der Betrachtung des Bewusstseinszustandes, den die landläufige Vorstellung als dem Mystiker eigentümlich ansieht: eine Form geistigen Lebens, eine Art der Wahrnehmung, die von der des „normalen“ Menschen grundsätzlich verschieden ist.“ (304)

Die Wahrnehmung weitet sich, Hinweise auf eine transzendente, und gleichzeitig immanente Wirklichkeit treten mehr und mehr in Erscheinung, und wir erhalten eine mystische Phänomenologie, ausgedrückt in einer Fülle von Erfahrungsberichten.

„Die einfachste und allgemeinste Form der Erleuchtung ist die, ‚Gott in der Natur zu sehen’, ein flammendes Bewusstsein von der ‚Andersartigkeit’ natürlicher Dinge zu erlangen … Wo ein solches Bewusstsein dauern ist, wie bei vielen Dichtern (z. B. Keats, Shelley, Wordsworth, Tennyson, Browning, Whitman), da hat es zur Folge die teilweise, doch oft überwältigende Wahrnehmung des allen Lebewesen immanenten unendlichen Lebens, die manche moderne Schriftsteller des Namens ‚Natur-Mystik’ gewürdigt haben.“ (307) 

Auch die frühe Mystik des Altertums erwähnt Underhill, und macht damit deutlich, was Wilber in der Wilber-Combs Raster zum Ausdruck bringt: die Möglichkeit mystischer Erfahrungen auf allen Ebenen des Bewusstseins.

„Die Mysterien des Altertums waren allesamt Versuche – oft auf dem falschen Wege einer rein magischen Einweihung –, ‚die unsterblichen Augen des Menschen nach innen zu öffnen’, seine Wahrnehmungskräfte so zu steigern, dass sie die Botschaften einer höheren Wirklichkeitsebene vernehmen können.“ (308) 

Underhill sieht das Auftreten mystischer Erfahrungsinhalte nicht nur bei Mystikern, sondern auch bei Philosophen und Künstlern.

„Auch bei solchen, die wir nicht mit Recht zu den eigentlichen Mystikern zählen können, wie bei Platon und Heraklit, Wordsworth, Tennyson und Whitman, bemerken wir gewisse Anzeichen, dass auch sie, mehr als die meisten Dichter und Seher, mit den Erscheinungen des erleuchteten Lebens vertraut waren.“ (311)

Underhill unterscheidet Arten „dunkler Nächte“, ein Gedanke den Wilber in seinem Buch Integrale Spiritualität aufgreift und spezifiziert. Wilber unterscheidet dabei auf dem Zustandsweg der Erleuchtung, dem klassischen mystischen Weg, drei dunkle Nächte, jeweils an den Übergangsstufen der Seinsbereiche: die dunkle Nacht der Sinne am Übergang einer grobstofflichen zu einer subtilen Orientierung, die dunkle Nacht der Seele am Übergang einer subtilen zu einer kausalen Orientierung, und die dunkle Nacht des Selbst am Übergang einer kausalen zu einer nichtdualen Orientierung. Underhill:

„Hier, wo ‚das erste mystische Leben’, der bewusste Verkehr mit der Wirklichkeit erreicht ist, kommt das Selbst, das zwischen zwei Bewusstseinsformen geschwankt und sich seinen zunehmenden intuitiven Erkenntnissen des Absoluten abwechselnd widersetzt und leidenschaftlich hingegeben hat, eine Zeitlang zur Ruhe. Die widerstrebenden Elemente seines Charakters sind zum großen Teil auf dem Wege der Reinigung hinweggewaschen. Die ‚dunkle Nacht der Sinne’ ist vorüber, obwohl die furchtbare ‚Nacht des Geistes“ noch bevorsteht.“ (312)

Als ein wesentliches Merkmal dieser Wegstrecke auf dem mystischen Weg beschreibt Underhill „Das Bewusstsein des Absoluten oder ‚Gefühl der Gegenwart Gottes“. Sie unterstreicht die phänomenologische Tatsache derartiger Erfahrungen.

„Dies ‚Gefühl der Gegenwart Gottes’ ist keine bloße Metapher. Unzählige Aussagen beweisen, dass es ein ebenso deutliches Bewusstsein ist wie das, welches andere Menschen von der Farbe, der Wärme oder dem Licht haben oder zu haben glauben.“ (316)

Dennoch werden Erfahrungen dieser Art, auch schon zu Zeiten Underhills, gerne pathologisiert:

„Moderne Psychologen haben sich viel Mühe gegeben, den pathologischen Charakter dieses Bewusstseinszustandes festzustellen, ihn in dem gastlichen Bereich der ‚psychischen Halluzinationen’ unterzubringen. Die Mystiker jedoch, die so viel feiner zwischen wahrer und falscher übersinnlicher Erfahrung zu unterscheiden wissen, zweifeln nie an der Gültigkeit dieses ‚Gefühls der Gegenwart Gottes’. Selbst wenn ihre Theologie dem widerspricht, so lassen sie sich dadurch nicht stören.“ (317)

Dies erläutert und unterstreicht Underhill durch die Beispiele mystischer Persönlichkeiten. Dabei macht sie auch auf wirkliche Pathologien aufmerksam:

„Bei Menschen von schwachem oder unklarem Verstande jedoch kann dies tiefe Sichversenken in das Gefühl der göttlichen Wirklichkeit leicht in Mono-Ideismus ausarten. Dann zeigt sich die ‚dunkle Seite’ der Erleuchtung: eine Sucht nach übersinnlichen Freuden, die ‚geistige Völlerei’, die St. Johannes vom Kreuz verdammt.“ (322)

Dabei ist es oft nicht leicht, derartige Erfahrungen zu beschreiben:

„Man beachte, mit welchen Realismus der hl. Augustinus sich ausdrückt an der berühmtesten Stelle seiner ‚Bekenntnisse’, wo wir sehen, wie ein geborener Psychologe sich verzweifelt abmüht, einen höchst positiven Zustand mit Hilfe von Negationen zu beschreiben. ‚Ich stieg hinab in meine innerste, tiefste Seele, und du führtest mich. Und ich vermochte es, weil ja du mein Helfer warst. Ich trat ein und sah nun mit dem Auge meiner Seele, so schwach es war, hoch droben über diesem Auge meiner Seele und über meinem Geist das ewig unveränderliche Licht des Herrn. Es war nicht das gemeine Licht, das jedem Fleische leuchtet. Es war auch nicht vom Wesen dieses Lichtes, nur größer etwa und als leuchte es unendlich vielmal heller und fülle allen Raum mit seiner Strahlengröße. Nein, es war dieses Licht nicht, es war ein anderes, ganz anderes als alles dies. Es lag auch nicht auf meiner Seele so, wie das Öl auf dem Wasser liegt, noch wie der Himmel droben über der Erde sich wölbt.’“ (326)

Als eine moderne„Konstruktivistin“, im vollen Bewusstsein der „modelnden“ psychologischen, kulturell-linguistischen und systemischen Einflüsse auf persönliche Erfahrungen, zeigt sich Underhill in der folgenden Passage:

„Man darf nie vergessen, dass alle offenbar einseitigen Schilderungen der Erleuchtung, ja, das Erleben dieser Erleuchtung selbst, durch das Temperament bestimmt wurden. ‚Das Licht, dessen Lächeln das Weltall entzündet’, ist immer dasselbe, aber das Selbst, durch das es hindurchgeht und auf dessen Bericht wir angewiesen sind, hat schon die modelnden Einflüsse von Umgebung und Herkunft, Kirche und Staat erfahren. Selbst die Sprache, der sich das Selbst in seinem Bemühen, dem Erlebten Ausdruck zu geben, bedient, verkettet es mit zahllosen Philosophien und Glaubensformeln.“ (329)  

Als eine weitere wesentliche Eigenschaft der Erleuchtung des Selbst sieht Underhill „Die Vision der Welt im Zustande der Erleuchtung.“

„Im deutlichen Zusammenhange mit dem ‚Gefühl der Gegenwart Gottes’ oder der Fähigkeit, das Absolute wahrzunehmen, steht das andere Kennzeichen des erleuchteten Bewusstseins: die Vision ‚eines neuen Himmels und einer neuen Erde’ oder einer erhöhten Bedeutung und Wirklichkeit der Erscheinungswelt … Dieses Erleben bildet in seiner höchsten Form das Gegenstück und die Ergänzung des Erlebens der Gegenwart Gottes. Das will sagen: es hat einen sakramentalen, nicht einen asketischen Charakter. Es bringt vielmehr die Ausdehnung als die Konzentration des Bewusstseins mit sich, [und] hat zur Folge, dass man den vollkommenen Einen in den Vielen entdeckt, die von ihm entflammt sind, nicht, dass man die Vielen verlässt, um den Einen zu finden.“ (331)

Erneut wird dies von Underhill durch zahlreiche Beispiele mystischen Erlebens belegt:

„Soweit wir aus seinen eigenen hier und da zerstreuten Angaben schließen können, muss [der Mystiker Jakob] Boehme von dieser Zeit ab im fast beständigen und zunehmenden Bewusstsein der übersinnlichen Welt gelebt haben, dass auch er, wie alle andern Mystiker, Perioden von Dunkelheit kannte, ‚heftige Anstöße’ erlitt und zeitweise Kämpfe mit jenem ‚mächtigen Contrarium’, dem niederen Bewusstsein.“ (334)

Dieses „Contrarium“ erinnert an das, was Wilber mit der Selbstkontraktion bezeichnet, die immer wiederkehrende Zusammenziehung des Bewusstseins im Angesicht des Lichtes oder der Erkenntnis. Doch all dies ist noch nicht das Ende des mystischen Weges, sondern lediglich eine weitere Zwischenstufe.

„Je größer der Mystiker ist, je früher wird ihm klar, dass das himmlische Manna, das ihm gereicht wurde, noch nicht das ist, womit die Engel gespeist werden. Etwas Geringeres genügt ihm nicht, und wie seine Erleuchtung fortschreitet, wächst auch in ihm das Bewusstsein, dass er nicht für die sonnigen Ufer der geistigen Welt bestimmt ist, sondern für ‚die weite und stürmische See des Göttlichen’.“ (346) 

Kapitel 5 Stimmen und Visionen

Die Phänomenologie der Mystik, mit all ihren Inhalten persönlicher und gemeinschaftlicher Erfahrungen, ist sehr reichhaltig an Sinneseindrücken jeglicher Art. Manche davon haben einen so überwältigenden und bestimmenden Einfluss auf das Individuum, dass Underhill von „Automatismen“ spricht.

„Wir kommen nun zu jenem ewigen Kampfplatz, der Einzelerörterung jener abnormen seelischen Phänomene, die in der Geschichte der Mystiker so ständig auftreten. Ich meine Visionen, Stimmen, automatische Schrift und jene dramatischen Zwiegespräche zwischen dem Selbst und irgendeinem anderen Faktor – der Seele, der Liebe, der Vernunft oder der Stimme Gottes –, die bisweilen einer gesteigerten und unbeherrschten Einbildungskraft zu entspringen scheinen, bisweilen den Grad von Halluzinationen erreichen.“ (347)

Die Extremformen derartiger Erscheinungen haben zu der Vorstellung von einer Verbindung von Mystik und Wahn geführt.

„Alles dies geschieht im Gegensatz zu den großen Mystikern selbst, die einstimmig ihre Schüler vor der Gefahr warnen, ‚Visionen’ und ‚Stimmen’ zu viel Wichtigkeit beizulegen oder sie ungeprüft als unmittelbare Botschaften von Gott hinzunehmen.“ (349)

Die entscheidende, und ganz moderne Fragestellung bei derartigen Phänomenen und mystischen Einsichten generell, ist die, was von diesen Erfahrungen wirklich gegeben ist im Sinne einer geisteswissenschaftlich überprüfbaren Phänomenologie, und was davon auf die Psychodynamik des- oder derjenigen zurückzuführen ist, welche diese Erfahrung macht. Ken Wilbers Vorstellung einer „kosmischen Adresse“, die zu jeglicher Erfahrung gehört, als Ausdruck der Entwicklung und perspektivischen und typologischen Orientierung des oder der Wahrnehmenden, ist eine Möglichkeit hier Klarheit zu schaffen.

„Es muss also irgendeine Probe angestellt, irgendein Maßstab gefunden werden, wenn wir die Visionen und Stimmen, die Symptome wirklicher transzendenter Tätigkeit sind, von denen unterschieden sollen, die nur einer aufs höchste gesteigerten Einbildungskraft, einer intensiven Träumerei oder sogar einer seelischen Krankheit entspringen.“ (351)

Underhill zitiert Teresa von Avila:

„’Man findet Menschen’, sagt die hl. Teresa, ‚und ich habe selbst solche gekannt, deren Hirn und Phantasie so schwach sind, dass sie glauben, alles, woran sie denken, wirklich zu sehen, und dies ist eine sehr gefährliche Anlage’.“ (351)

Eine gesteigerte innerliche Wahrnehmung ist auch ein wesentliches Element künstlerischen Tätigseins:

„So sieht der Maler wirklich sein ungemaltes Bild, der Romanschreiber hört die Unterhaltung seiner Personen, der Dichter empfängt seine Rhythmen im Voraus fertig, der Musiker lauscht einer wirklichen Musik, die ‚dem Geiste tonlose Melodien flötet’. Beim Mystiker zeigt sich beständig dieselbe Art von Tätigkeit … Während jedoch die Automatismen des Künstlers seinem Werke zugute kommen, haben die Automatismen des Mystikers in ihrer höchsten Form es mit der Erneuerung der Persönlichkeit zu tun, die das Wesen des mystischen Lebens ist.“ (355)

Underhill wendet sich dann dem Phänomen der „Stimmen“ zu, und ihren Licht- und Schattenseiten. Die folgende Aussage von Johannes vom Kreuz ist heute, in der Zeit einer„Boomeritis-Spiritualität“, hochaktuell und zeigt eine hohe psychologische Kompetenz. 

„’Ich bin entsetzt’, sagt St. Johannes vom Kreuz, in seiner gewohnt nüchternen Art, ‚über das, bei heutzutage bei uns vorgeht. Ein jeder, der eben angefangen hat zu meditieren und der sich im Zustande der Sammlung dieser Worte bewusst wird, hält sie sogleich für ein Werk Gottes und behauptet: ‚Gott hat zu mir gesprochen’ oder ‚Ich habe eine Antwort von Gott erhalten’. Aber dies ist nicht wahr; so einer hat nur zu sich selbst gesprochen. Auch gibt das Verlangen nach diesen Worten, die die Menschen ermutigen, ihnen selbst solche Worte ein, und dann wähnen sie, Gott habe gesprochen’.“ (358)

(Siehe hierzu auch den Text der Anlage 3 zu dieser Buchbesprechung).

Noch ausführlicher beschäftigt sich Underhill dann mit dem Phänomen von „Visionen“.

„Wir kommen jetzt von dem Bestreben des tieferen Selbst, dem Selbst der Oberfläche die Wahrheit zusagen, zu dem Bestreben dieser selben geheimnisvollen Macht, ihm die Wahrheit zu zeigen, oder, psychologisch gesprochen, wir kommen von den auditiven zu den visuellen Automatismen.“ (363)

Auch hier sind wir im Bereich einer mystischen Phänomenologie.

„Wir vergessen leicht, während wir eifrig diese Dinge erörtern, dass es in Wahrheit denen, die nie eine Stimme oder Vision erlebt haben, ebenso unmöglich ist, verständig darüber zu reden, wie es den Daheimgebliebenen unmöglich ist, aufgrund der Berichte von Kriegskorrespondenten über die Leidenschaften des Schlachtfeldes zu diskutieren.“ (363) 

Underhill unterscheidet phänomenologisch drei Hautgruppen visueller Erfahrungen.

„Es sind 1. die intellektuelle, 2. die imaginative, 3. die körperliche Vision, die 1. dem substantiellen oder unartikulierten, 2. dem inneren und deutlichen, 3. dem äußeren Wort entsprechen.“ (367)

Mit einer Fülle von Beispielen diskutiert sie dann die Unterschiedlichkeiten. Schließlich wendet sie sich noch dem Phänomen der „Automatischen Schrift“ zu, einer Art schriftlichem Channeln.

„Wie bei Stimmen und Visionen, so gibt es auch bei dieser Art automatischer Tätigkeit Grade der Intensität, von der ‚Inspiration’, dem unwiderstehlichen Impuls zu schreiben, den alle Künstler kennen, bis zu der extremen Form, bei der die Hand des bewussten Selbst das Werkzeug einer anderen Persönlichkeit geworden zu sein scheint.“ (382)

„Die hl. Teresa [von Avila] war ungefähr derselben Meinung in bezug auf ihre großen mystischen Werke: sie verglich sie mit dem Plappern eines Papageis, der das, was sein Herr ihn gelehrt hatte, nachspricht, ohne es zu verstehen. Wir können kaum zweifeln, dass ihre Schriftstellerei – wie wir es von einer erwarten können, die so von Visionen und Stimmen heimgesucht war – zum großen Teil unwillkürlich, inspiriert und ‚automatisch’ war.“ (383)

Underhill fasst zusammen:

„Wir haben es in diesem Abschnitte mehr mit den Mitteln als mit den Zielen zu tun gehabt, mit Mitteln, nach denen der ringende Mensch griff, der sich bei seinen Versuchen, jenes Absolute, das die Summe aller seiner Wünsche ist, irgendwie zu fassen, zu begreifen, zu genießen und anzubeten, noch nicht ganz vom ‚Bilde’ freigemacht hat. Niemand wird jemals zum Verständnis dieser Phase des mystischen Bewusstseins gelangen, der entweder Verachtung für die Geister, die das Göttliche auf so einfältige und bisweilen kindische Weise vergegenständlichen, oder abergläubische Verehrung für das Bild an sich, unabhängig von der formlosen Wirklichkeit, auf die es hindeutet, mitbringt. Zwischen diesen beiden Extremen liegt unsere Hoffnung, den wahren Platz der Automatismen auf dem mystischen Weg zu finden, indem wir in ihnen Beispiele sehen, wie die Mittel, durch die wir Bewusstsein von der Erscheinungswelt erhalten, tauglich gemacht werden für die Wahrnehmung jener anderen Welt, deren Erreichung das erhabendste Ziel der Menschheit ist.“ (387)

Kapitel 6 Innenkehr. I. Teil. Sammlung und Ruhe

Nach der ausgeprägten Phänomenologie und gesteigerten Wahrnehmung der vorherigen Entwicklungsstufe im Zusammenhang mit der „Reinigung“ geschieht nun etwas, was Underhill die „Erneuerung des Bewusstseins“ nennt.

„… das Auftauchen und Wachsen eines Faktors, der im gewöhnlichen Menschen schlummert, doch beim voll entwickelten mystischen Typus bestimmt ist, lebensbeherrschend zu werden. Wir haben gesehen, wie dieser Faktor, dieser Seelenfunke, mit seiner eingeborenen Fähigkeit, das Absolute wahrzunehmen, erwacht.“(388)

Dabei stellt Underhill die Kontemplation als eine zentrale mystische Tätigkeit in den Vordergrund.

„K o n t e m p l a t i o n  ist das Medium des Mystikers. Sie ist für ihn das, was die Harmonie für den Musiker, was Form und Farbe für den Bildhauer und Maler, was der Rhythmus für den Dichter ist: das Vehikel, mittels dessen er das Gute und Schöne am besten wahrnehmen, [und] in Verbindung mit dem Wirklichen treten kann. Wie „Stimme“ oder „Vision“ das Mittel ist, wodurch sein tieferes Bewusstsein seine Entdeckungen an das Oberflächenbewusstsein weitergibt, so ist die Kontemplation das Mittel, wodurch es diese Entdeckungen macht, [und] das Übersinnliche wahrnimmt. Das Wachsen seines Genius hängt daher von seinem Fortschreiten in dieser Kunst ab, und dies beruht zum großen Teil auf Selbsterziehung.“ (398) 

Dieser Weg ist kein Spaziergang.

„Diese eigenartige Kunst der Kontemplation, die der Mystiker naturgemäß sein ganzes Leben lang zu üben sucht, und die sich mit seiner visionären Kraft und mit seiner Liebe zugleich entwickelt, fordert von dem Menschen, der sich ihr widmet, dieselbe harte, mühselige Arbeit, dieselbe langwierige Trainierung des Willens, die hinter jeder großen Leistung liegt und der Preis aller wahren Freiheit ist. Der Mangel an solcher Willenszucht, an solcher übersinnlicher Trainierung, ist es, dem wir die Schuld geben müssen an der Unmenge von vagem, unwirksamen und bisweilen schädlichem Mystizismus, die es immer gegeben hat; an dem verwässerten kosmischen Gefühl und der schlappen Geistigkeit, die sich sozusagen den wahren Suchern des Absoluten an die Rockschöße hängen und ihre Wissenschaft inMisskredit bringen.“ (390)

Underhill unterstreicht die Bedeutung der Kontemplation als eine geisteswissenschaftliche Methodik.

„Die Voraussetzung für alles fruchtbare Sehen und Hören auf jeglicher Bewusstseinsebene ist nicht die Schärfe der Sinne, sondern eine besondere Haltung der ganzen Persönlichkeit: eine selbstvergessene Aufmerksamkeit, eine tiefe Konzentration, einem Versenkung des ganzen Selbst, die eine wirkliche Gemeinschaft zwischen dem Schauenden und dem Geschauten bewirkt, mit einem Worte: K o n t e m p l a t i o n … Ich fordere die, welchen diese Behauptungen als ein Gemisch von billiger Psychologie und noch billigerer Metaphysik erscheinen, auf, alle Vorurteile aus ihrem Geiste zu verbannen und die Sache einmal praktisch zu prüfen. (391)

Konkret bedeutet dies:

„Alles, was verlangt wird, ist, dass wir eine kleine Zeitlang unsern Blick und unsere Aufmerksamkeit ungeteilt auf irgendeinen einfachen, konkreten äußeren Gegenstand richten. Dieser Gegenstand unserer Kontemplation kann irgendein ganz beliebiger sein: ein Bild, eine Statue, ein Baum, eine ferne Hügelkette, eine grüne Pflanze, fließendes Wasser, kleine Lebewesen. Wir brauchen nicht mit Kant bis zum Sternenhimmel zu gehen. ‚Ein kleines Ding, nicht größer als eine Haselnuss’, wird uns dazu genügen, wie es Lady Juliane vor langen Jahren genügte. Man bedenke, es ist ein praktisches Experiment, das wir machen wollen, keine schöngeistige pantheistische Meditation.“ (391)

„Der Preis dieser Erfahrung ist ein Stillegen dieses Oberflächengeistes, eine Sammlung all unserer zerstreuten Interessen, eine vollständige Hingabe an diese Tätigkeit, ohne nachzudenken oder uns unserer selbst bewusst zu sein.“ (392)

„Dieser ganze Vorgang, dies Sammeln und Einwärtskehren aller Kräfte, dies Hineinschauen in den Grund der Seele, ist das, was man Introversion, I n n e n k e h r nennt.“ (393)

„Die Kontemplation – wenn wir diesen Ausdruck in seinem weitesten Sinne, als die ganze mystische Kunst umfassend, nehmen – stellt eine Verbindung her zwischen der Seele und dem Absoluten …“ (395)

[Der Mystiker] Tauler sagt von diesem unbeschreiblichen Treffplatz, der für den Verstand eine Leere und für das Herz die Erfüllung aller Sehnsucht ist: ‚Da ist es so stille, so heimlich und einsam. Da ist nichts als lauter Gott. Darein kam nie Fremdes, nie Kreatur, Bild noch Weise. Diese Einöde, das ist seine stille, einsame Gottheit; dahinein führt er alle die, die für dies Einflüstern Gottes empfänglich werden sollen, nun und in der Ewigkeit’.“ (396)

Auch das Gebet wird verwandelt. 

„Das ‚innere Gebet’ hat nichts zu tun mit dem Bittgebet. Es ist unartikuliert, es hat keine Form. ‚Es ist’, wie Der Spiegel des hl. Edmund sagt, ‚nichts anderes als Sehnsucht der Seele’. Psychologisch angesehen, ist es eine stete Zucht, die der Mystiker seinem reichen, sublimbinaren Geist auferlegt, ein langsames Bereiten der Kanäle, in denen das tiefere Bewusstsein fließen soll, eine Art, diese unwillentlichen Zustände der Passivität, Verzückung und Intuition, die charakteristischen Wege, auf denen ein unbeherrschtes und ungepflegtes Gefühl für das Absolute herausbricht, in eine gewisse Ordnung zu bringen und fürs Leben wirksam zu machen.“ (398)

Um diesen weiten Themenbereich noch klarer zu beschreiben, unterscheidet Underhill die Phasen „Sammlung“, „Ruhe“ und „Kontemplation“.

„Man könnte etwa sagen, dass die Form der geistigen Aufmerksamkeit, die man als Meditation oder Sammlung bezeichnet, mit der Reinigung zusammenfällt, dass der Zustand der ‚Ruhe’ für die Erleuchtung charakteristisch ist, dass ‚Kontemplation’, jedenfalls in ihren höheren Formen, meistens der Zustand derer ist, die den Weg der Einigung erreicht odernahezu erreicht haben.“ (403)

„Die hl. Teresa vergleicht in einem berühmten Abschnitt ihrer Lebensgeschichte die Erziehung auf den vier verschiedenen Gebetsstufen mit vielerlei Arten, den Garten der Seele zu begießen, auf dass er Blüten und Früchte trage. Die erste und primitivste dieser Arten ist die Meditation, Sie gleicht der langsamsten und mühevollsten Art des Bewässerns, wo man den Eimer mit der Hand aus einem tiefen Brunnen herauszieht. Danach kommt das Gebet der Ruhe, das etwas besser und leichter ist, denn hier erhält die Seele schon etwas Hilfe dadurch, dass mit dem Stillewerden der Sinne die unterbewussten Kräfte ins Spiel treten können. Der Brunnen ist jetzt mit einem Zugrad ausgestattet – mit jenem kleinen maurischen Wasserrade, wie man es auf jedem kastilischen Landgute findet … Auf der dritten Stufe geben wir jede bewusste Geistestätigkeit auf: der Gärtner braucht sich jetzt nicht mehr anzustrengen, der Kontakt zwischen Subjekt und Objekt ist hergestellt, alles geht mühelos wie von selbst. Es ist jetzt, wie wenn ein kleiner Fluss durch unsern Garten fließt und ihn bewässert. Wir brauchen nur die Strömung zu leiten. Auf der vierten und höchsten Stufe bewässert Gott selbst unsern Garten, indem Er seinen himmlischen Regen auf ihn tropfen lässt.“ (404) 

Ein Maßstab für den Fortschritt auf dem Weg ist die Liebesfähigkeit.

„Nun ist der Maßstab für den wirklichen Fortschritt des Mystikers immer das Maß seiner Liebe: denn sein Wahrnehmen ist ein Wahrnehmen des Herzens.“ (405)

Die „Sammlung“ als eine vorbereitendeÜbung des kontemplativen Lebens sind „erste Schritte auf der Leiter“, die „sehr schwer“ und „mehr Mut“ als alle übrigen Schritte erfordern. 

„Das Wort ‚S a m m l u n g’ ist der in der mystischen Literatur herkömmliche Ausdruck für eben diese willentliche Konzentration, eben dies Sammeln und Zusammenziehen der Aufmerksamkeit auf ihre ‚verborgenste Zelle’ hin … Dies Mittel [dazu] ist in der Regel die Übung der M e d i t a t i o n, womit der Zustand der Sammlung gewöhnlich beginnt, d. h. das vorsätzliche Beobachten und Sichversenken in eine bestimmte Erscheinungsform der Wirklichkeit, – eine Erscheinungsform, die meistens aus den religiösen Glaubensvorstelllungen des Menschen gewählt wird. So pflegen indische Mystiker über ein heiliges Wort nachzudenken, während christliche sich einen Namen oder eines der Attribute Gottes, eine Stelle aus der Heiligen Schrift oder eine Begebenheit aus dem Leben Jesu vor Augen halten und diese Betrachtung und die Gedanken und Gefühle, die davon ausgehen, ihr ganzes Geistesfeld beherrschen lassen.“ (408)

Daran schließt sich die Phase der „Ruhe“ an.

„Noch wichtiger für uns, weil noch ausgesprochener mystisch, ist die nächste Hauptgebetesstufe, der eigenartige und ‚äußerst bestimmte geistige Zustand, den die Mystiker das Innere Schweigen oder ‚Gebet der Ruhe’ nennen. Dieser Zustand ist das Ergebnis eines weiteren Grades jener inneren Einkehr, die mit der Sammlung begann. Aus dem tiefen, dumpfen Brüten und Sinnen über irgendein Geheimnis, irgendein unfassbares Bindeglied zwischen ihm selbst und der Wirklichkeit, gleitet der Kontemplative – vielleicht durch eine Reihe von Stimmungen, die sein analytischer Verstand ihn ‚genau unterscheiden’ lässt – fast unmerklich zu einer Wahrnehmungsebene hinüber, für die die menschliche Sprache wenig entsprechende Bezeichnungen hat.“ (411)

„Es [das Selbst] kann keine ‚Aufzeichnungen’ mehr machen, kann sich nur dem Strom eines einfließenden Lebens und der Führung eines größeren Willens überlassen …

Wie die Sammlung tiefer wird, gleitet das Selbst in ein traumhaftes Bewusstsein des Unendlichen …

An Stelle des Ringens nach vollständiger Konzentration, das den Anfang der Sammlung bezeichnet, ist jetzt ein gänzliches Aufgeben des Wollens und Handelns, ja, selbst der freien Wahl getreten, und diese Hingabe an etwas Größeres bringt ebenso wie die Hingabe der Bekehrung eine ungeheure Entspannung mit sich. Dies ist ‚Ruhe’ in ihrer vollkommensten Form: das Kind des Unendlichen sinkt gleichsam in die Arme seines Vaters.“ (412)

Doch diese Leerheit ist nicht das Ende des Weges, sondern beinhaltet einen Neuanfang.

„Der Zustand der ‚Ruhe’ bringt also eine gänzliche Aufhebung des Oberflächenbewusstseins mit sich; allein das Bewusstsein der [tieferen] Persönlichkeit bleibt bestehen … Dem, der in diese Gebetsstufe eintritt, rückt die Außenwelt ferner und ferner, bis schließlich nichts als die Grundtatsache seiner Existenz übrig bleibt …

Er [der Mystiker] fühlt sich gleichsam in der Schwebe, ruhend, wartend, er weiß nicht worauf; er ist sich nur bewusst, dass selbst in dieser äußersten Leere alles gut ist. Bald jedoch wird er gewahr, dass Etwas diese Leere erfüllt: etwas Allgegenwärtiges, Unfassbares, wie sonnige Luft. Indem er es aufgibt, auf die Botschaften von außen zu achten, fängt er an, das wahrzunehmen, was immer drinnen gewesen ist. Sein ganzes Wesen öffnet sich diesem Einfluss; er durchdringt sein Bewusstsein …

Es gibt also zwei Aspekte des Gebetes der Ruhe: den des Verlustes, der Leere, womit dieser Zustand beginnt, und den Aspekt des Gewinns, des Neugefundenen, worin er sich vollendet.“ (413)

Auch auf die Gefahren einer falschen Ruhe weist Underhill hin.

„’Ruhe’ ist die Gefahrenzone der Innenkehr. Vonallen Formen mystischer Tätigkeit ist diese vielleicht die am meisten missbrauchte und am wenigsten verstandene. Ihre Theorie, deren man sich bemächtigte, sie aus ihrem Zusammenhang löste und ins Extrem trieb, erzeugte die törichten und gefährlichen Übertreibungen des Quietismus[1], und diese hatten ihrerseits eine allgemeine Verdammung des Prinzips der Passivität zur Folge, so dass viele oberflächliche Menschen dazu kamen, das ‚nackte Gebet’ als etwas absolut Ketzerisches anzusehen.“ (418)

Mit den Worten des Mystikers Ruysbroeck:

„’Es ist im geistlichen Leben wichtig’, sagt er, ‚dass wir allen Quietismus erkennen, verurteilen und zunichte machen. Diese Quietisten verharren im Zustande gänzlicher Passivität, und um ihre falsche Ruhe noch ungestörter zu genießen, enthalten sie sich jedes äußern und innern Handelns. Eine solche Ruhe ist Verrat an Gott …’“ (419)

Underhill fügt hinzu:

„Es lässt sich nicht bezweifeln, dass diese ‚trügerische Ruhe’ für Menschen von einer gewissen seelischen Veranlagung nur zu leicht zu erlangen ist. Sie können diese Leere, dieses innere Schweigen, durch willkürliche Autosuggestion bewusst in sich erzeugen und in ihren friedlichen Wirkungen schwelgen. Dies aus selbstischen Motiven oder in übertriebener Weise zu tun, so dass ‚tätige Liebe’ untergeht in ‚friedlichem Genuss’, ist ein mystisches Laster …“ (419)

Die echte Ruhe zeigt sich nach Underhill wie folgt:

„Der wahre Zustand der Ruhe ist, nach den großen Mystikern, zugleich aktiv und passiv; er ist reine Hingabe, aber eine Hingabe, die kein schlaffes Sichaufgeben ist, sondern vielmehr das freie und stets erneuerte Sichverschenken und Sichausströmen einer brennenden Liebe.“ (420)

[1] A. d. V.: „Quietismus (von lat. quietus – ruhig) bezeichnet eine Sonderform der christlichen Mystik, Theologie und Askese. Der Quietismus hat seine Wurzeln im katholischen  Bereich, wurde jedoch vom Lehramt als Irrlehre und falsche Form der Lebensführung verworfen. Kernaussage ist, dass der Mensch zunächst sein Ich völlig aufgeben und an Gott übergeben müsse, um danach in völliger Ruhe und Gleichmut zu leben. Sobald dieser Zustand im inneren Gebet, in der Schau Gottes erreicht ist, werden äußere asketische Praktiken eher hinderlich. Der Quietismus des Gebetes lehnt daher das mündliche Gebet, den Empfang der Sakramente, überhaupt alle äußerlichen religiösen Formen ab, der Quietismus des Lebens zudem die Bedeutung des Tugendstrebens und des Kampfes gegen die Sünde (Askese).“

Quelle: Wikipedia

Kapitel 7 Innenkehr. II. Teil. Kontemplation

Mit „Kontemplation“ bezeichnet Underhill „die fortgeschritteneren Zustände der Innenkehr“.

„Auf den Stufen der Sammlung übte das Selbst sich in geistiger Aufmerksamkeit und erhob sich zugleich auf eine neue Wahrnehmungsebene, wo es mit Hilfe des Symbols, das den Sammelpunkt seiner Kräfte bildete, einen neuen Lebenszufluss erhielt. Auf den Stufen der Ruhe gelangte es dann zu einem Zustande angespannter Stille, wo es in jener Wirklichkeit ruhte, die es noch nicht anzuschauen wagte. Nun, auf der Stufe der Kontemplation, soll es sowohl über das Stadium des Symbols wie über das Schweigen hinausgelangen und ‚sich begeistert auswirken’ auf jenen hohen Ebenen, die dem Verstande dunkel, doch dem Herzen leuchtend hell sind.“ (426)

Auch hier weist Underhill gleich zu Beginn auf mögliche Fehlentwicklungen hin, und spricht von

„ … abnormen psychophysischen Zuständen[n], wo das Selbst sich so intensiv auf seine übersinnlichen Wahrnehmungen konzentriert, dass es jedes Bewusstsein von der Außenwelt verliert und alle Botschaften der Sinne unbeachtet lässt. Das Subjekt ist dann in einem Zustande der Verzückung, dem eine körperliche Starrheit und mehr oder weniger vollständige Gefühllosigkeit eigentümlich ist. Dies sind die Zustände der Ekstase, deren physische Ähnlichkeit mit gewissen Symptomen der Hysterie die Feinde der Mystik so sicher gemacht hat.“ (427)

… und beschreibt dann, was Kontemplation ihrem Wesen nach ist.

„Sie ist eine erhabe Manifestation jeder unteilbaren Erkenntniskraft, die allen unsern künstlerischen und geistigen Befriedigungen zugrunde liegt. In ihr wird die menschliche Dreifaltigkeit von Denken, Lieben und Wollen zu einer Einheit, und Gefühl und Wahrnehmung fließen in eins zusammen, wie es bei all unseren Wahrnehmungen der Schönheit und bei unseren besten Berührungen mit dem Leben der Fall ist. Die Kontemplation ist nicht ein Akt der Vernunft, sondern der ganzen Persönlichkeit, unter dem Antrieb mystischer Liebe.“ (427)

„In diesem Durcheinander persönlicher Erfahrungen wird es nötig, einen gewissen Maßstab aufzustellen, eine Regel, wonach sich die wahre Kontemplation von anderen introversiven Zuständen unterscheiden lässt. Solch ein Maßstab ist nicht leicht zu finden. Ich glaube jedoch, dass es zwei Merkmale des wahren Zustandes gibt: a) die Totalität und b) das gänzliche Aufgehen des Selbst, und diese beiden Merkmale können wir mit Sicherheit bei unserm Versuch, ihren Charakter zu bestimmen, zugrundelegen.“ (431) 

Für diese Charakterisierung führt Underhill Beispiele aus der Mystik und der Philosophie an, und fasst zusammen:

„Diese letzte, beglückende Erkenntnis der Wirklichkeit, dies Begreifen der Wahrheit durch die Wahrheit, ist im Grunde das, was alle Menschen ersehnen. Des Heiligen Durst nach Gott, des Philosophen Trieb zum Absoluten ist nichts anderes als diese schreiende Not des Geistes, die der Verstand und das Herz auf die verschiedenste Weise ausdrücken. Die Hypothesen der Wissenschaft, die Konstruktionen der Metaphysik, die Intuitionen der Künstler, alle drängen auf dieses selbe Ziel. Und doch ist es allein im Bereich der Kontemplation zu finden, in ‚jener Stadt auf dem Berge’, die denen, welche sich außerhalb ihrer Tore befinden, so klein erscheint.“ (433)

Für die Schwierigkeit der Beschreibung dieser unbeschreibbaren Totalität oder Absolutheit findet Underhill folgende Worte:

„Man beachte zunächst, dass die Gefühle, die seine Wahrnehmungen begleiten, immer und unvermeidlich das Material sind, dem der Mystiker die suggestive Sprache entnimmt, um seine Erfahrung von übernatürlichen Dingen anzudeuten. Seine Beschreibungen werden immer mehr nach impressionistischen als nach der wissenschaftlichen Seite hinneigen. Das ‚tiefe und doch blendende Dunkel’, der ‚unermessliche Abgrund’, die ‚Wolke des Nichtwissens’, die ‚Umarmung des Geliebten’, all das stellt nicht das Transzendente selbst, sondern seine Beziehung zum Transzendenten dar; nicht ein Objekt, das es beobachtet, sondern einen überwältigenden Eindruck, den er mit der Totalität seines Wesens empfangen hat, bei seiner Berührung mit der Einen Wirklichkeit.“ (435)

In einer weiteren Unterscheidung beschreibt Underhill dann anhand vieler Beispiele „Die Kontemplation der Transzendenz“, als etwas, was „Über alle Vernunft, vor aller Vernunft und nach aller Vernunft“ ist. Demgegenüber steht „Die Kontemplation der Immanenz“, die „von jener Liebe beherrscht“ wird, „die die Furcht austreibt“. In den Beschreibungen finden wir Beispiele sowohl für die überpersönliche, als auch für die ganz persönliche Form der Begegnung mit dem Göttlichen, etwas, was Wilber in der Vorstellung der drei Gesichter Gottes zum Ausdruck gebracht hat.

Dass es sich dabei nicht um persönliche theoretische Überlegungen handelt, sondern um konkrete Erfahrungen, unterstreicht Underhill auch hier:

„Es ist bei Autoren, die über Mystik schreiben, zum Gemeinplatz geworden, dass alle späteren Kontemplativen diese Vorstellung vom ‚göttlichen Dunkel’ und vom Eingehen in dasselbe als dem höchsten Vorrecht der Seele von Dionysios entlehnt, sie sozusagen fertig und auf Treu und Glauben übernommen und ihrer Tradition einverleibt hätten. Allein wenn man dies behauptet, so vergisst man, dass die Mystiker vor allem Praktiker sind. Sie beschreiben nicht, um ein philosophisches Schema weiterzugeben, sondern um etwas zu schildern, was sie selbst erfahren haben, etwas, was sie als von überragender Bedeutung für die Menschheit empfinden.“ (450)

Von diesen Erfahrungen berichtet Underhill dann ausführlich. Dabei erwähnt sie auch die Unterscheidung dreier dunkler Nächte, wie sie Wilber auch in seinen Darstellungen aufführt.

„Es ist vielleicht angezeigt, den Leser darauf hinzuweisen, dass Johannes vom Kreuz … das Bild der ‚Dunkelheit’ für dreidurchaus verschiedene Dinge gebraucht, nämlich für eine Form der Reinigung, die er ‚die Nacht der Sinne’ nennt, für dunkle Kontemplation oder das ‚göttliche Dunkel’ des Dionysios und für die eigentliche ‚dunkle Nacht der Seele’, die er die ‚Nacht des Geistes’ nennt. Die Folge hiervon ist eine ziemliche Verwirrung in bezug auf die ‚dunkle Nacht’ bei modernen Schriftstellern, die über Mystik schreiben.“ (460)

Kapitel 8 Ekstase und Verzückung

In einem eigenen Kapitel wendet sich Underhill den Phänomenen von Ekstase und Verzückung zu, als einem Zustand, in dem der Mystiker „jedes Bewusstsein der Außenwelt verliert“.

„In der Ekstase k a n n  er sie nicht beachten. Keine ihrer Botschaften erreicht ihn, nicht einmal die aufdringlichste aller Botschaften, die sich als körperlicher Schmerz äußert.“ (465)

Dies erinnert an die Selbstverbrennung vietnamesischer buddhistischer Mönche in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts „ohne mit der Wimper zu zucken“, aus Protest gegen die herrschende, den Buddhismus unterdrückende Politik.

Underhill unterscheidet:

„Es ist ein abnormer körperlicher Zustand, der durch einen seelischen Zustand hervorgerufen wird, und dieser seelische Zustand kann gesund oder ungesund, kann von Genie oder Krankheit bewirkt sein.“ (467)

Beidem widmet sie sich dann ausführlich.

„P s y c h o l o g i s c h  betrachtet, ist jede Ekstase eine – und zwar die vollkommenste – Form des Zustandes, den man technisch als ‚vollständigen Mono-Ideismus’ bezeichnet. Das Zurückziehen des Bewusstseins von der Peripherie nach dem Zentrum, die vorsätzliche Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand, von der wir in dem Kapitel ‚Sammlung’ sprachen, wird hier willkürlich oder unwillkürlich bis zu ihrem logischen Abschluss getrieben.“ (471)

„Während daher die Ekstase nach ihrer physischen Seite ein Trancezustand ist und nach ihrer geistigen Seite eine vollkommene Vereinheitlichung des Bewusstseins, so ist sie nach ihrer m y s t i s c h e n  Seite ein gesteigerter Wahrnehmungsakt …

Die Ekstase ist also vom Standpunkt des Kontemplativen aus die Weiterentwicklung und Vollendung des Gebets der Einigung, und er ist nicht immer bemüht, die beiden Stufen zu unterschieden, was die Schwierigkeiten des Forschers sehr vermehrt.“ (476)

Eine besondere Kategorie von Ekstase ist die der „Verzückung“, der Underhill einen eigenen Abschnitt widmet. 

Sie fasst zusammen:

„So trägt dieser Zustand der Ekstase dazu bei, das Werk der Vergottung, die Erneuerung der Seele nach dem Bilde des Guten, Wahren und Schönen, d. h. Gottes zu fördern. ‚Indem sie jener geschauten Schönheit gleichförmig wird, geht sie gänzlich in jene andere Herrlichkeit über’, in das flammende Herz der Wirklichkeit, in das tiefe, doch blendende Dunkel ihrer Heimat.“ (493)

Kapitel 9 Die dunkle Nacht der Seele

In diesem Anschnitt widmet sich Underhill ausführlich der Periode der „Zurückschleuderung in das Dunkel“, als einer „Periode völliger Leere und Stagnation“.

„Der Mensch wird aus seiner mühsam eroberten vorteilhaften Stellung zurückgeschleudert. Ohnmacht, Leere, Einsamkeit sind die Attribute, unter denen diejenigen, welche durch das dunkle Läuterungsfeuer hindurchgehen, ihre Leiden beschreiben.“ (495)

„So wurde dies freudig erhobene Bewusstsein der göttlichen Vollkommenheit, das das Selbst bei seinem ‚mystischen Erwachen’ erlangte, durch ein niederdrückendes und bitteres Bewusstsein seiner eigenen ihm anhaftenden Unvollkommenheit aufgewogen … Das erneute und ekstatische Bewusstsein des Absoluten … bringt mit Notwendigkeit seine [des Selbst] eigene Verneinung mit sich, nämlich die Erkenntnis, dass das Selbst von dem Absoluten, das es wahrgenommen hat, immer noch getrennt und mit ihm unvereinbar ist … Diese ‚große Negation’ ist der Prüfstein des höheren Lebens“ (495) 

Erneut lässt sie die Mystikerinnen und Mystiker in ihren eigenen Worten von diesen Erfahrungen berichten, unter Hinzufügung erläuternder Beschreibungen, die an das erinnern, was Ken Wilber unter einer integralen Lebenspraxis versteht.  

„Die dunkle Nacht ist also in Wirklichkeit ein zutiefst menschlicher Vorgang, bei dem sich das Selbst, das sich so geistlich dünkte und so festgewurzelt auf der übersinnlichen Ebene, gezwungen wird, zurückzukehren, das Licht zu verlassen und die Eigenschaften, die es hinter sich zurückließ, wieder aufzunehmen. Nur so, durch die Umwandlung des g a n z e n  Menschen, nicht durch sorgfältige einseitige Pflege dessen, was wir gerne unsere ‚geistliche’ Seite nennen, kann die göttliche Menschheit sich entwickeln.“ (505) 

„’Er [Gott] tut gerade’, sagt [Meister] Eckehart, ‚als wenn eine Mauer zwischen Ihm und uns errichtet wäre’. Das ‚Auge, das auf die Ewigkeit blickt’, hat sich geschlossen, das alte liebe Gefühl der Vertrautheit und gegenseitigen Liebe hat einer furchtbaren Leere Platz gemacht.“ (507) 

In den Beschreibungen dieser dunklen Nacht finden wir auch vieles von dem, was die Psychologie heute als Schattenaufarbeitung bezeichnen würde.

„Diese Stagnation des Gefühls hat ihr Gegenstück in der Stagnation des Wollens und des Denkens, die einige Kontemplative in diesem negativen Zustande an sich erfuhren. Was den Willen anbetrifft, so zeigt sich eine Art moralischer Zügellosigkeit: der Mensch hat keine Herrschaft über seine Neigungen und Gedanken. Bei dem allgemeinen seelischen Aufruhr drängt sich alles Böse, das der Mensch ererbt hat, alle niederen Triebe und unwürdigen Gedanken, die bis dahin unter der Schwelle eingekerkert lagen, ins Bewusstseinsfeld. ‚Ich beschäftigte mich in meinen Gedanken mit allen Sünden’, sagt Madame Guyon, ‚wenn ich sie auch nicht beging.’ ‚Jedes Laster wurde wieder in mir geweckt’, sagt Angela von Foligno; ‚ich hätte mich lieber auf dem Roste verbrennen lassen, als solche Qualen zu erdulden.’“ (511)

Die Lösung besteht, wie bei jeder authentischen Schattenarbeit, in der Annahme, oder, wie wir heute sagen würden, der Integration dieser „Bedrängnisse“.

„So wird die hl. Katharina von Siena in der Zeit zwischen ihrer Erleuchtung und ihrer ‚geistlichen Hochzeit’ von Visionen von Teufeln gequält, die ihre Zelle anfüllten und ‚sie mit unzüchtigen Worten und Gebärden zur Wollust zu verleiten suchten’. Sie floh aus ihrer Zelle in die Kirche, um ihnen zu entgehen, allein sie verfolgten sie bis dahin, und sie wurde erst von dieser Bedrängnis befreit, als sie aufhörte, sich dagegen zu wehren.“(511)

„Die Dunkle Nacht ist also, von welcher Seite wir sie auch betrachten mögen, ein Zustand von Disharmonie, von unvollkommener Anpassung an die Umgebung. Das Selbst, noch nicht gewöhnt an die unmittelbare Berührung mit dem Absoluten, die die Quelle seiner Lebenskraft und seiner Freude werden soll, fühlt die ‚weiche und sanfte Berührung’ der ihm folgenden Liebe als unerträglichen Druck. Die ‚Selbstvernichtung’ oder Reinigung des Willens, die hier stattfindet, ist das Bestreben, jene Disharmonie zu lösen, das Etwas hinwegzuläutern, das sich immer noch in der Seele dem Göttlichen entgegensetzt und das klare Licht der Wirklichkeit zur Qual macht, statt zur Freude.“ (520)

Nach diesen eher „akademischen“ Betrachtungen zur dunklen Nacht macht Underhill ihren Lesern dann am Beispiel des Mystikers Seuse die Erfahrungen dieses „mystischen Todes“ anschaulich. 

„Er [Seuse] wurde von einer tiefen und schweren Depression gequält, so dass ihm war, als ob ein Berg auf seinem Herzen läge von Zweifeln gegen den Glauben und von Versuchungen zur Verzweifelung. Dieser jämmerliche Zustand dauerte ungefähr zehn Jahre. Sein Leiden wurde noch vermehrt und gesteigert durch äußere Prüfungen wie Krankheiten und falsche Beschuldigungen; und es wurde wiederum gelindert wie in den Jahren der Reinigung durch gelegentliche Visionen und Offenbarungen.“ (530)

„Daher erscheint uns Seuses Schilderung seines Eintrittes in das Leben der Einigung dürftig und abfallend gegen alles das, was vorherging. ‚Danach schließlich, da es Gott Zeit deuchte, da war der Dulder von Gott für all das Leiden, so er gehabt hatte, mit innerem Herzensfrieden und mit stiller Ruhe und lichtreichen Gnaden entschädigt. Er lobte Gott inniglich für das liebreiche Leiden und sprach, er würde die ganze Welt nicht dafür nehmen, dass er es alles nicht gelitten hätte’.“ (537)

Kapitel 10 Das Leben der Einigung

Das Leben der Einigung ist der „endgültige Triumph des Geistes, [die] Blüte der Mystik und [der] höchste Gipfel des Menschentums“. Es ist das Erwachen zur Nicht-Dualität und zum Sein und Werden, die Rückkehr zum Marktplatz des Lebens mit leeren Händen, wie es das höchste der zehn Ochsenbilder des Zen beschreibt. 

„Der Mensch, der endlich zum vollen Bewusstsein der Wirklichkeit gelangt ist, vollendet den Kreis des Seins und kehrt wieder zurück, um jene Ebenen der Wirklichkeit, von denen er ausging, zu befruchten.“ (539)

Erneut unterstreicht Underhill die Wissenschaftlichkeit ihrer Vorgehensweise auch hinsichtlich dieser letzten Verwirklichungsstufe. 

„Uns stehen also zwei Wege der Forschung offen: erstens die Vergleichung und Erläuterung dessen, was die Mystiker uns über ihre übersinnliche Erfahrung berichten [die phänomenologische Perspektive], zweitens das Zeugnis, das ihr Leben für das Dasein übernatürlicher Antriebe in ihnen, für ihren Kontakt mit tieferen Schichten der Lebenskraft ablegt [die Außenperspektive, das Verhalten]. An dritter Stelle haben wir dann den kritischen Apparat, den die Psychologie uns zur Verfügung stellt, doch müssen wir diesen bei solchen Riesen des Geistes mit Vorsicht und Bescheidenheit nutzen [als eine kritische Psychologie]. (540)

Erfahrungen dieser Art können perspektivisch unterschiedlich ausgedrückt werden, in Formen von Es-, Du- und Ich-Aussagen (z. B. als die drei Gesichter Gottes).

„1. Der metaphysische Mystiker, für den das Absolute unpersönlich und transzendent ist, beschreibt sein endliches Erreichen dieses Absoluten als V e r g o t t u n g oder gänzliche Umwandlung des Selbst in Gott. Der Mystiker, für den innige persönliche Gemeinschaft der Modus war, unter dem er die Wirklichkeit am besten wahrnahm, bezeichnet die Vollendung dieser Gemeinschaft, ihre vollkommene und dauernde Form, als die g e i s t l i c h e   H o c h z e i t seiner Seele mit Gott“. (541)

Eine ganz erstaunliche Vorwegnahme dessen, was Wilber durch das Wilber-Combs Raster beschreibt, als Differenzierung eines Zustandsweg und eines Strukturweges des Erwachens, als einen Weg des Aufwachens und des Aufwachsens, ist die folgende Passage. Dabei stehen am Beginn die Zustandserfahrungen im Vordergrund, die dann später zu einem allmählichen Persönlichkeitswachstum führen.

„’Der Anfang des mystischen Lebens’, sagt Delacroix, ‚brachte in das persönliche Leben des Subjekts eine Reihe von Zuständen, die durch gewisse charakteristische Merkmale unterschieden sind und die sozusagen ein besonderes psychologisches System bilden. Am Ende des Weges hat es gleichsam das gewöhnliche Selbst unterdrückt und hat durch die Entwicklung dieses Systems eine neue Persönlichkeit geschaffen mit einer neuen Art zu fühlen und zu handeln. Sein allmähliches Wachstum führt zu dieser Umwandlung der Persönlichkeit …“ (543)

Aus vorübergehenden Zustandserfahrungen werden dauerhafte Persönlichkeitsveränderungen. Der Mensch wird wacher und entwickelt sich dabei zu immer höheren Strukturstufen der Entwicklungsskala. Das Wesen der Einheit ist dabei Identität, als eine „Vergottung“ des Menschen.

„Die mystische Reise ist jetzt, nach dem Wort eines Sufi-Dichters, nicht nur bis  z u  Gott, sondern bis  i n  Gott gelangt.“ (545)

In den Worten von Meister Eckehart:

„Soll ich aber Gott so ohne Vermittlung erkennen, so muss ich geradezu Er werden und Er ich. Weiter sage ich: Gott muss geradezu ich werden und ich geradezu Gott, so ganz eins, dass dies Er und dies Ich eins werden und sind.“ (548)

Underhill schöpft aus dem Schatz mystischer Beschreibungen der Erfahrung von Einheit und Individualität („Seele“).

„Mechthild von Magdeburg und nach ihr Dante sahen die Gottheit als eine Flamme oder als einen feurigen Strom, der das Weltall erfüllt, und die ‚vergotteten’ Seelen der Heiligen als lebendige Funken darin, von jenem Feuer erglühend, eins mit ihm, und doch von ihm unterschieden. Auch Ruysbroeck sah ‚jede Seele als eine brennende Kohle, die Gott an dem Feuer seiner grundlosen Minne entzündet hat.’“ (549)

Erneut weist Underhill darauf hin, dass wir bei dieser Einswerdung immer noch eine Persönlichkeit bleiben, als ein „einzigartiges Selbst“ (Wilber), das durch die Erfahrung der Absolutheit seine Einzigartigkeit auf eine völlig neue Weise in der Welt zum Ausdruck bringen kann.

„Hier scheint die Auffassung des Absoluten als Persönlichkeit fast ganz geschwunden, aber alles, was wir bei der Persönlichkeit schätzen – Liebe, Tatkraft, Wille –, bleibt unvermindert bestehen.“ (552)

„Die zeitweilige Entleerung des Geistes, wodurch der Kontemplative für die Schauung Gottes Raum schuf, muss jetzt auf das ganze Leben angewandt werden.“ (554)

Underhill zitiert Dschelal ed Din (Rumi),

„Mit deiner Seele hat sich meine
Gemischt wie Wasser mit dem Weine.
Wer kann den Wein vom Wasser trennen?
Wer dich und mich aus dem Vereine … ? (556)

und fährt dann fort 

„Was der Mystiker uns hier sagen will, ist, dass sein neues Leben nicht nur ein freies und bewusstes Teilnehmen am Leben der Ewigkeit ist, ein festbegründetes Dasein auf höheren und wirklicheren Ebenen, sondern auch ein bewusstes Empfangen eines einströmenden  p e r s ö n l i c h e n   L e b e n s , das größer ist als sein eigenes …“ (57)

Und weiter:

„Wir sehen, wie der hl. Paulus, nachdem er plötzlich von demersten und einzigen Schönen unterjocht wurde, sich nicht verbirgt, um die Vision der Wirklichkeit zu genießen, sondern ganz allein auszieht, die katholische Kirche zu organisieren. Wir fragen uns, wie es einem einfachen römischen Bürger, ohne Geld, Einfluss, ja, ohne körperliche Gesundheit möglich war, diesen gewaltigen Grund zu legen, und er antwortet: ‚Nicht ich, sondern Christus in mir.’“ (561)

Als weitere Beispiele für ein wirkungsreiches Lebens in der Welt und in Gott führt Underhill Jeanne d’Arc, den hl. Franziskus, die hl. Teresa, und Madame Guyons an.

“So wird innerhalb des Einflussbereiches eines Paulus, eines Franziskus, eines Ignatius, einer Teresa eine Atmosphäre von Wirklichkeit geschaffen; und neue Träger geistlichen Lebens treten auf, um die Arbeit fortzusetzen, die jene großen Gründer begonnen haben.” (564)

Diese „neuen Träger geistlichen Lebens“ haben jedoch, so könnte man noch hinzufügen, oft nicht die spirituelle Kraft und die psychologische Einsicht derer, denen sie den Ursprungsimpuls verdanken – die Päpste als die Nachfolge Christi beispielsweise –, und daher kommt es praktisch in allen auf authentischen mystischen Erfahrungen basierenden religiösen Bewegungen immer wieder auch zu fürchterlichen Fehlentwicklungen.

Immer wieder kommt Underhill auf die Bedeutung von beidem zu sprechen, „sowohl die absolute Welt des reinen Seins als auch die ruhelose Welt des Werdens“, die „zwiefache Bestimmung der Geisteswelt“, und das „gottmenschliche Leben“, das „zwischen dem Menschen und dem Ewigen“ vermittelt. Das Absolute allein ist ihr zu wenig.

„Die Neigung der indischen Mystik, das Leben der Einigung nur von seiner passiven Seite zu sehen, als gänzliche Selbstvernichtung, als ein Hinschwinden in die Substanz der Gottheit, hat, wie ich glaube, ihre Ursache in einer solchen Verzerrung der Wahrheit.“ (568)

(Underhill kennt dabei offenbar nicht die nichtduale Seite der „indischen Mystik“, in Form des Mahayana, Vedanta und Tantra). Beispiele dafür findet sie vor allem in der westlichen Mystik.   

„Man erinnere sich [an] Ruysbroecks letzten, höchsten Versuch, die wahre Beziehung zwischen dem freien Geiste des Menschen und seinem Gott auszusprechen, – man erinnere sich an die große öffentliche Wirksamkeit der hl. Katharina von Siena, die sich von der Pflege der Pestkranken bis zur Reform des Papsttums erstreckte und die im Innern von dem frohen Bewusstsein der Gefährtschaft Christi begleitet war. Man erinnere sich der bescheideneren, aber nicht weniger schönen und bedeutungsvollen Leistungen ihrer genuesischen Namensschwester, des rastlos tätigen Lebens des hl. Franziskus, des hl. Ignatius und der hl. Teresa, die, äußerlich mit mancherlei Dienst überhäuft, eine endlose Menge von lästigen Einzelheiten zu bedenken hatten, Regeln aufstellten, Gründungen errichteten, keine Seite ihrer Aufgaben vernachlässigten, die zu dem großen Erfolg beitragen konnte, und dennoch ‚ganz in Gott wohnten, in ruhevollem Genuss’“. (570)   

Schluss

Am Ende kommt Underhill noch einmal auf ihre Ausgangsfragestellung zurück:

„Wir haben, soweit wir es vermochten, den mystischen Weg von Anfang bis Ende verfolgt …

Sind die unvergleichlichen Zeugnisse der Kontemplativen nur die Frucht einer ungezügelten genialen Phantasie, die mit der Wirklichkeit ebenso wenig zu tun hat wie die Musik mit den Schwankungen der Börse? Oder sind sie die höchsten Offenbarungen einer Kraft, die unserm Leben eingeboren ist? (580)

Sie betont den Entwicklungscharakter des mystischen Weges, und die Differenzierungen wie sie Wilber in seinem Werk macht, zwischen Zustandsstufen, Strukturstufen und Psychodynamik, klingen dabei schon an. („Folge von Zuständen“, „Entwicklungsstadien“, „spiralen Anstieg zu höheren Ebenen“, mit „heftigen Schwankungen zwischen Licht und Dunkel“ begleitet von „seltsamen geistigen Störungen“ und einem „plötzliche[n] Hervorbrechen aus dem Unterbewusstsein“.

Doch all dies findet nicht irgendwo, sondern im „Hier und Jetzt“ statt, und auch den modernen Gedanken einer evolutionären Spiritualität nimmt Underhill schon vorweg. 

„Mystiker sein, heißt nichts anderes, als hier im Zeitlichen am wirklichen und ewigen Leben teilhaben, in einem so vollen, tiefen Sinne, wie es überhaupt für den Menschen möglich ist. Es heißt, als freier und bewusster Helfer – nicht als Knecht, sondern als Sohn – an den freudigen Geburtswehen des Universums teilnehmen, an seinem gewaltigen Aufschwunge durch Schmerz und Seligkeit zu seiner Heimat in Gott.“ (583)

Sein und Werden sind dabei gleichberechtigt.

„Dies höchste Etwas, die anbetungswürdige Substanz alles dessen, was da  i s t – die Synthesis von Weisheit, Macht und Liebe –, und wie der Mensch sie aufnimmt, sich in ihrem Dienst umschafft und sich endlich mit ihr vereinigt, dies ist das Thema der Mystik. Die zwiefache Ausdehnung des Bewusstseins, die ihm eine Verbindung mit den transzendenten und immanenten Erscheinungsformen dieses Etwas gestattet, ist in ihrer allmählichen Stufenfolge der mystische Weg.“ (585) 

Anhang: Abriss der Geschichte der europäischen Mystik vom Anfang der christlichen Zeitrechnung bis zum Tode Blakes

Der Anhang des Buches ist zugleich ein historischer Überblick und eine Quellenangabe derjenigen MystikerInnen, aus deren Zeugnissen sich Underhill bei der Erstellung ihres Buches bedient hat. Sie beobachtet dabei

„ … drei große Wellen mystischer Tätigkeit neben vielen kleineren Schwankungen. Sie fallen zusammen mit dem Ende des klassischen Altertums, des Mittelalters und der Renaissance und erreichen ihren Höhepunkt im 3., im 14. und im 17. Jahrhundert. In einer Hinsicht jedoch weicht die mystische Linie von der historischen ab. Sie erreicht ihren höchsten Punkt im 14. Jahrhundert und gelangt nicht wieder zu der damals erreichten Höhe …“ (592)

Um einen Einblick zu geben in die von Underhill verwendeten Quellen, sollen im Folgenden lediglich die Namen der erwähnten Mystiker und Mystikerinnen wiedergegeben werden. Underhill erwähnt sie nach geografischen und zeitlichen Gesichtspunkten. 

Philon, der Apostel Paulus, Klemens von Alexandria, Plotin, Porphyrios, Augustinus, Dionysios der Areopagit, Proklos, Origenes, Makarios von Ägypten, Papst Gregor der Große, Johannes Scotus Erigena, der hl. Bernhard, Richard von St. Victor, der scholastische Philosoph Hugo, die heilige Hildegard, Elisabeth von Schönau, die Nonne Gertrud, Mechthild von Hackborn, Mechthild von Magdeburg, Gertrud die Große, Franz von Assisi, Bonaventura, die heilige Douceline, Jacopone da Todi, Angela von Foligno, Thomas von Aquin, Al Ghazalis, die Dichter Attar und Saadi, Dschelal ed Din, Hafiz, Dschamis, Dante, Meister Eckehart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse, Margarete Ebner, Heinrich von Nördlingen, Nikolaus von Basel, Rulman Merswins, Jan van Ruysbroeck (Underhill bezeichnet ihn als „einen der allergrößten Mystiker, die die Welt je gekannt hat“), Gerhard Groot, Thomas von Kempen, Margery Kempe, Richard Rolle von Hampole, Walter Hilton, Juliane von Norwich, Gerlac Petersen, Jeanne d’Arc, St. Lydwine von Schiedam, Katharina von Siena, Dionys der Karthäuser, Katharina von Genua, Battista Vernazza, Osanna Andreasi von Mantua, Columba Rieti, Lucia von Narni, Blosius, Ignaz von Loyola, Teresa von Avila, Peter von Alcantara, Johannes vom Kreuz, Rosa von Lima, Jakob Boehme, George Fox, Gertrud Moore, Augustin Baker, Thomas Vaughan, Henry Vaughan, Henry More, John Smith, Benjamin Whichcote, John Norris, Thomas Traherne, Bischof Hall, Dr. Pordage, Jane Lead, Franz von Sales, Bruder Laurentius, Blaise Pascal, Antoinette Bourignon, Miguel de Molinos, Madame Guyon, Malaval, Peter Poiret, Johannes Gichtel, Dionysius Andreas Freher, William Law, Eckartshausen, Saint-Martin und William Blake.

Eine ausführliche Bibliografie rundet das Werk Underhills ab.

Anlage 1: Über das Leben von Evelyn Underhill

(Übersetzt aus einem Text von The Evelyn Underhill Association, http://www.evelynunderhill.org/her_work/about_her_life.shtml)

Evelyn Underhill (1875-1941) wurde in Wolverhampton/England am 6. Dezember 1875 geboren. Sie wurde zu Hause unterrichtet, an einer Privatschule in Folkstone, und besuchte später das King’s College für Frauen in London, wo sie Geschichte und Botanik studierte.

Evelyn Underhill begann im Alter von 16 Jahren zu schreiben, und ihre erste Veröffentlichung, A Bar-Lamb’s Ballad Book, mit humorvollen Versen zum Thema Recht, erschien 1902. 1907 heiratete sie Hubert Stuart Moore, einen Anwalt, den sie seit ihrer Kindheit kannte. In den Jahren ihrer Heirat bekehrte und bekannte sie sich zum christlichen Glauben, zuerst zum Katholizismus, doch später, unter dem Eindruck der modernistischen Bewegung in diesen Jahren, zur Anglikanischen Kirche. Durch ihr erstes wichtiges Buch, Mysticism (1911) machte sie die Bekanntschaft mit Baron Friedrich von Hügel und widmete, wie sie schrieb, „Gott mein spirituelles Leben.“ Sie wurde Schülerin des Barons bis zum Jahr 1925.

Nach ihrer Glaubensbekehrung bestand ihr Leben aus unterschiedlichen Formen religiöser Arbeit. Sie zitierte dazu die Worte der Heiligen Teresa „um unserem Herrn einen vollkommenen Dienst zu erweisen, müssen Martha und Maria zusammen kommen.“ Am Morgen schrieb sie, und am Nachmittag widmete sie sich den Armen und dem seelischen Beistand. 1924 begann sie Seminare abzuhalten, und schrieb darüber Bücher. Weitere Publikationen von ihr umfassen drei Novellen, zwei Versbücher, Bücher zu Philosophie und Religion, und Arbeiten über Mystiker wie Ruysbroeck and Walter Hilton. Sie schrieb auch Buchbesprechungen und arbeitet für Zeitschriften.

Während des ersten Weltkriegs (1914-1918) arbeitet sie in der Marine, änderte jedoch darüber ihre Meinung, und wurde zu einer christlichen Pazifistin. Sie schloss sich der Anglikanischen Pazifistischen Gemeinschaft an, und schrieb eine kompromissloses Abhandlung mit dem Titel Die Kirche und der Krieg [The Church and War, 1940].

Später erhielt Evelyn Underhill eine Reihe von Ehrungen. Sie war eine lebhafte Persönlichkeit, hatte viel Humor und eine große Leichtigkeit. Sie interessierte sich für alle Aspekte des Lebens und war leidenschaftlich effizient in allem, was sie tat. Im Umgang mit anderen Menschen, speziell mit ihren Schülern, war sie immer ein wenig scheu, und hatte eine große Abneigung gegen, wie sie es nannte das „Seelen herumschubsen.“ Mit ihrer Liebe zu anderen Seelen, verbunden mit der Entschlossenheit ihnen dabei zu helfen, gemäß der göttlichen Geschwindigkeit zu wachsen, gewann sie die Liebe und das Vertrauen all derer, die sich an sie wandten.

Evelyn Underhill starb in Hampstead am 15. Juni 1941.

[1] Eine Kurzbiografie von Evelyn Underhill ist in der Anlage 1 dieser Buchbesprechung aufgeführt.

[2] im Unterschied zum Strukturweg des Erwachens, wie er durch die Entwicklungsforschung und Entwicklungspsychologie beschrieben wird. Wilber ist wohl der erste, der die Differenzierung beider Wege vorgenommen hat, bei gleichzeitiger Betonung der Bedeutung von beidem.

Anlage 2 Zone Nr. 2

Ken Wilber (aus: Exzerpt D)

Die Perspektive der dritten Person des in-der-Welt-Seins hält immer ein großes Geschenk bereit: Sie weist den Narzissmus, das Ego und die Neigung, die eigenen Ansichten der ersten Person zum Mittelpunkt der Welt zu machen, in die Schranken.

Wenn ich sage: „Was meinst du?“, dann vergleiche ich meine eigene Wahrnehmung mit deiner Wahrnehmung, und wenn wir beide sagen, „Fragen wir sie, was sie darüber denken“, dann geben wir unseren Wunsch zu erkennen, so viele Eindrücke wie möglich von so vielen Quellen wir möglich zu erhalten, unsere Bereitschaft zu lernen, und unsere Wahrnehmungen auf der Grundlage anderer Meinungen aus anderen Quellen zu überprüfen.

Die Betrachtung von Äußerlichkeiten aus der Perspektive der dritten Person (3p x 3p) waren immer die Grundlage dessen, was eine Gesellschaft unter Wissenschaft und Technologie verstand, und was sich in den Werkzeugen und Anwendungen wie der Jagd, dem Ackerbau, der Architektur, der Astronomie, der Medizin, dem Ingenieurswesen, der Kommunikationstechnologie, den Autos und den Flugzeugen zeigt.

Die Betrachtung von Innerlichkeiten aus der Perspektive der dritten Person (3p x 1p) waren immer die Grundlage gesellschaftlichen Wissens innerer Landschaften des Bewusstseins, von Träumen, Idealen, Werten, Tugenden und Visionen. Mit den ersten Schamanen wurden Landkarten dieser inneren Reisen erstellt, Landkarten, welche Beschreibungen der dritten Person von Wirklichkeiten der ersten Person waren, mit der Versprechung: Viele andere Menschen haben sich auf die innere Reise begeben, indem sie dieser Landkarte und den Instruktionen gefolgt sind; und wenn sie das taten, dann erhielten sie unglaubliche Einblicke. Wenn du dieser Landkarte folgst, dann kannst auch du diese außergewöhnlichen Dimensionen deines eigenen Seins sehen und fühlen, Dimensionen, welche dich von der bindenden Kraft engerer und begrenzterer Visionen befreien.

Diese Landkarten der dritten Person von Wirklichkeiten der ersten Person waren das Thema dieses Exzerpts [D], und wir haben sie als Strukturalismus bezeichnet. Das Aussehen eines Gefühls, die Art und Weise, wie ein fröhliches Lied von außen betrachtet aussieht, welches jedoch nur erfahren werden kann, wenn man es singt. Singt man dieses Lied, dann erhält man Hermeneutik, schreibt man seine Melodie auf, dann erhält man Strukturalismus.

Diese Landkarten können sehr einfach und elegant, aber auch unglaublich kompliziert und anspruchsvoll sein, und sie sind natürlich auch ein Abbild der Zeit, in der sie gezeichnet wurden (als eine AQAL Konfiguration), und viele ihrer Interpretationen sind ein bisschen altmodisch (was kein Fehler oder Mangel ist, sondern nur ein Zeichen dafür, dass der GEIST sich fortbewegt). Und sie alle haben etwas unglaublich Wichtiges gemeinsam: Sie schauten instinktiv auf die Zone 2 der ursprünglichen Perspektiven des in-der-Welt-Seins – die Art und Weise, wie innere Wirklichkeiten von außen betrachtet aussehen.

Diese Landkarten wurden präsentiert als schamanische höhere und niedere Welten, als die Große Kette des Seins, als die 10 Sefirot, die 7 Chakren oder die 5 koshas, und sie alle weisen auf tiefere, höhere, weitere Aussichten des Bewusstseins jenseits des Gewöhnlichen; sie führen durch das Tor des Ego-Todes hindurch, in einen Bereich strahlend schöner Möglichkeiten der inneren Geheimnisse des Kosmos.

Jede Gesellschaft hatte ihre Visionäre, der einzige Unterschied bestand in der Größe der Vision. An wem oder was orientieren wir uns? An erwachten Weisen oder Börsenmaklern, schamanischen Enthüllungen oder dekonstruktivem Narzissmus, Wachstum zum Göttlichen oder dem Bad im Ego? Strukturalismus – oder wie immer wir es auch nennen – hat immer schon auf diese tieferen und höheren Wellen des Bewusstseins hingewiesen, die das Geburtsrecht eines jeden Menschen sind. Wähle deine Visionen daher sorgfältig aus – schon die frühen Weisen gaben uns den Rat: Du wirst das, wonach du dich ausrichtest.

Ein Strukturalismus – als Teil eines Integral Methodologischen Pluralismus – der das gesamte Spektrum abdeckt, ruft uns zu den höchsten Potenzialen, welche erstmals von den Pionieren geschaut wurden, erbittet die Beachtung der leisen inneren Stimme, welche bisher ignoriert wurde, legt die träge Dichte frohen Herzen ab und breitet sich zu den Sternen aus, eine geheime Reise zum Zentrum des Kosmos, die ein Licht enthüllt, von dem das Leuchten der Sonne nur eine peinliche Imitation ist, ein Strahlen, von dem sich die Sterne ihr Funkeln geborgt haben; eine leidenschaftliche Glückseligkeit, welche das Universum mit Kaskaden von Wellen einer überschwänglichen Befreiung erfüllt und die Welt mit einer schokoladig-süssen Fülle tränkt und sich beim Erzählen dieser Geschichten die Lippen leckt.

Landkarten der Seele, Wege zu den Sternen, ein Freibrief für die fernen Gestade des Bewusstseins, ein Atlas von Atman, Lieder eines höchsten Selbst, Skizzen des GEISTES, Entwürfe des Göttlichen, diese Landkarten der dritten Person von Wirklichkeiten der ersten Person, diese großen, großen Geschenke der Zone Nr. 2 …

Anlage 3 Wahrhaftigkeit/Schatten

Ken Wilber (Aus: Integral Naked, Ambiguous Voices: God or Mom?)

Zusammenfassung IN:

Die Art und Weise, wie wir die Bedeutung von Worten interpretieren ist ähnlich der Art und Weise, wie wir unsere Gedanken und Handlungen von Augenblick zu Augenblick interpretieren. Doch wenn es um die Interpretation der eigenen Innerlichkeit geht, wie wahrhaftig bist du dann? Kommen die Stimmen in dir von deinem höchsten Selbst oder deiner neurotischen Mutter?

Ken Wilber: „…wenn man sich der eigenen inneren Stimmen bewusst wird und sie hört – dann stellt sich die Frage: Ist es die Stimme Gottes oder die Stimme einer verdrehten Vaterfigur? Hört man die Stimme einer Göttin, handelt es sich wirklich um den femininen GEIST in einem selbst, oder um die Stimme einer neurotischen Mutter, die einem dreijährigen Kind etwas ins Ohr flüstert? Wie kann man diese Stimmen voneinander unterschieden? Das ist ein Teil der Schwierigkeiten, vor denen wir stehen und mit denen wir permanent zu tun haben. Wann immer man nach innerer Führung, Weisheit und Handlungsanweisungen Ausschau hält, stellt sich die Frage: Kommt das dann vom Höchsten in einem oder vom Niedrigsten? Die Stimmen hören sich manchmal sehr ähnlich an, das ist eine der Schwierigkeiten dabei… Dazu gehört auch die prä/trans Verwechselung. Das prä-Rationale und das trans-Rationale können sich sehr ähnlich anhören, wenn man diese Stimmen erstmals hört. Sie sind beide nicht-rational, nicht-konventionell und sehr un-gewöhnlich. Einige davon sind nicht sehr weit entwickelt, andere hingegen schon.

Hier kommt die Hermeneutik des eigenen Selbst ins Spiel. Man muss das eigene Selbst gegenüber sich selbst interpretieren und übersetzen. Der Grund, warum ich den Schatten als den Ort der Lüge definiere ist: Schaut man in das eigene Selbst und Sein hinein und fragt sich: „Was bedeutet das – ich habe diesen Impuls, was bedeutet er, ich habe dieses Verlangen, was um alles in der Welt bedeutet es?“ Das ist Hermeneutik – du musst dein Selbst dir selbst gegenüber interpretieren. Wie gut bist du als Übersetzer und Interpret? Wie wahrhaftig bist du als Übersetzer und Interpret? Stell dir vor, du bist in einem fremden Land und du sprichst die Sprache nicht – nehmen wir Russland als ein Beispiel. Du mietest dir einen Übersetzer. Einen Russisch-Englisch-Russisch-Dolmetscher. Du reist in Russland herum, jeder spricht russisch, und der Übersetzer sagt dir, was die Menschen sagen. Er übersetzt alles ins Englische, und du hörst dir das an. Das ist in gewisser Weise das gleiche, was wir bei der Interpretation von uns selbst gegenüber uns selbst tun müssen. Was wäre, wenn dein russischer Übersetzer dich anlügt? Der Schatten ist ein Interpret/Übersetzer in dir, der dich anlügt. Und der Ort des Unbewussten in dir sind die raffinierten, subtilen, verborgenen Wege, wie du dich selbst hinsichtlich dessen, was du tust, belügst. Man kann sich das Unbewusste als schlechte Hermeneutik vorstellen. Wir erkennen hier erneut die Überschneidung von Phylogenese, Ontogenese und Hermeneutik – es geht nicht nur darum, was geschah [z.B. bei den spirituellen Texten]. Jedes Mal, wenn du dich einem Impuls gegenübersiehst, den du nicht verstehst und wo du nicht wahrhaftig bist, wirst du zweideutig und versagst. Und das hat unmittelbar mit Aussagen zu tunwie „liebe ich diesen Menschen – oder nicht? Soll ich diesen Job annehmen – oder nicht? Ich ärgere mich nicht über diesen Menschen – wieso sollte ich? Ich hoffe, dass er verreckt – aber ich ärgere mich nicht über ihn! [Lachen]. Jede Form von Tiefenpsychologie – die psychologische Seite der Moderne und Postmoderne – das, was ein guter Therapeut tut, ist, er oder sie interpretiert deine Symptome zu dir zurück. Der Therapeut agiert als ein ehrlicher hermeneutischer Interpret und Übersetzer dort, wo du den Kontakt verloren hast.

Du gehst vielleicht zum Therapeuten und sagst: „ich bin heute so deprimiert, ich halte es nicht aus.“

Der Therapeut antwortet: „OK, du bist deprimiert und traurig, was ist geschehen?’

„Ich kam nach Hause (nehmen wir an, es handelt sich um eine Frau), und meine Mutter sagte: ‚Hallo, schön dich zu sehen, hast du zugenommen?’ Und ich bin so deprimiert.“

„Okay, lass uns in diese Depression reingehen…“

Du nennst das Depression, aber das ist ein bisschen gelogen – du bist wütend und ärgerlich. Doch nennen wir es auch nicht Ärger – du bist rasend vor Wut. Du interpretierst es als Traurigkeit – „ich arme, ich bin ja so traurig“.

Man hat den Kontakt verloren zu der wahren hermeneutischen Bedeutung des eigenen Wesens in diesem Augenblick. Dafür kann es viele Gründe geben. Und das kann man im Rahmen der Tiefenpsychologie untersuchen. Im Grunde geht es dabei jedoch um einen inneren Übersetzer, welcher nicht wahrhaftig ist. Worum es also geht, ist das Erlernen von guter Hermeneutik im Bereich der eigenen Seele.

Hier geht es also – noch einmal – um sehr konkrete Dinge einer sehr konkreten Welt. Wie können wir bezüglich unserer eigenen Innerlichkeit wahrhaftig sein und werden?

Und das gleiche giltfür diese großartigen [spirituellen] Texte: Wie kommen wir zu einer Wahrhaftigkeit und einem Verstehen?

(aus: Online Journal Nr. 27)

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