„Je heller das Licht leuchtet, desto dunkler kann der Schatten sein“

Gesellschaft

„Je heller das Licht leuchtet, desto dunkler kann der Schatten sein“

Ken Wilber

(Auszug aus dem Telefoninterview mit Ken Wilber)

Frage: Wir sprechen hier [auf der Tagung] viel über die Integration des kulturellen Schattens. Heute Morgen hat uns Terry [Patten] als Deutsche dazu aufgefordert „aufzustehen“, uns nicht von Schuldgefühlen lähmen zu lassen und unseren Teil von Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Das hat zu einigen Diskussion geführt. Was würdest du dazu sagen?

KW: Ja, ich denke, dass Terry recht hat. Man muss die deutsche Kultur als Ganzes betrachten und erkennen, dass der Irrtum, den die deutsche Kultur im Zweiten Weltkrieg begangen hat, ein monumentales Ausleben der prä-trans Verwechselung war. Die deutsche Kultur hat dem Idealismus im Westen und damit auch einer transrationalen Bewusstheit den Weg bereitet. Die großen Philosophen in Deutschland waren die großen Helden transrationaler Bewusstheit, ganz abgesehen davon, dass 80 % der großen Philosophen des Westens aus Deutschland kamen, und auch viele Wissenschaftler usw. Deutschland ist ein außerordentliches kulturelles Licht, und es ist oft so, dass je heller das Licht strahlt, desto dunkler der Schatten sein kann. Was mit Hitler und Hegel geschah – Hegel stand für transrationale Kräfte und Hitler für prärationale Kräfte. Das Verlangen und der Antrieb der deutschen Kultur für eine transrationale Bewusstheit, wie sie Fichte, Hegel, Schelling verkörperten, wurde umgedreht zu einer prärationalmythischen Hitlerei. Das kann in jeder Kultur geschehen, doch es geschieht speziell in Kulturen, die eine starke transrationale Komponente haben.

Deutschland begann in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts durch öffentliche Debatten seine Rolle bei Geschehnissen wie in Auschwitz anzuerkennen und stellte sich dem auf eine verantwortliche Weise. Jetzt sind wir, denke ich, an einem Punkt angelangt, wo es weiterhin darum geht, die Verantwortung für diesen prärationalen Schatten zu übernehmen, wo es aber auch darum geht die Verdienste und die Verantwortung für das transrationale Licht anzunehmen. Dafür ist, denke ich, die deutsche Kultur auf eine einzigartige Weise geeignet, und ich denke, dass dies einer der Gründe dafür ist, warum die integrale Bewegung so gut in Deutschland vorankommt, und das wird sicher so weitergehen. Sich weiterhin mit dem Schatten zu beschäftigen ist ein extrem wichtiger Teil einer integralen Lebenspraxis. Gleichzeitig, und speziell in Deutschland, geht es ebenso darum das Licht (an)zuerkennen, das durch diesen Schatten hindurch leuchtet. Und dieses Licht ist das Licht von Bewusstheit. Es ist das Licht des ICH BIN. Es ist das Licht des reinen Ego (wenn man Ego in der technisch richtigen Weise versteht als das reine Ich-Ich). Zurückzukehren zu diesem Licht als einer Grundlage aller vier Quadranten – wir lassen dabei nicht das Wir und Es-Plural beiseite und entwickeln uns lediglich zu einer Hyper-Ichheit.

Wir erkennen das Ich-Ich oder das ICH BIN reflektiert in allen vier Quadranten und auf allen Entwicklungshöhen. Und die deutsche Kultur ist, wie ich schon sagte, auf eine einzigartige Weise dafür vorbereitet dieses Licht (an)zuerkennen, Zugang zu ihm zu finden, und es in die westliche Welt zu tragen. Ich denke daher, dass die deutsche Kultur nicht nur mit ihrem prärationalen Schatten umzugehen lernt, sondern dass sie auch lernen kann mit ihrem transrationalen Leuchten umzugehen und dabei ein Modell für die Welt werden kann.

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