Thomas Hintz (Fotos: Nangten Menlang International)
Das Konzept der „Integralen Lebenspraxis“ illustriert, dass persönliches und spirituelles Wachstum sich vor allem im Rahmen einer multidisziplinären Praxis besonders gut entfaltet. Wer nicht nur den Geist „trainiert“, beispielsweise durch Meditation, sondern auch den Körper, macht oftmals in beiden Bereichen viel effektivere Fortschritte. Die tibetische Bewegungslehre Lu Jong ist ein gutes Beispiel für eine Body-Modul-Praxis, die auch das Sitzen in Stille bereichern kann.
Die Wirbelsäule als Tor zu Wohlbefinden
Die Ursprünge von Lu Jong [deutsch: Körper-Schulung] lassen sich 8.000 Jahre zurückverfolgen. Mönche in Tibet meditierten an abgelegenen Orten und brauchten eine Möglichkeit, ihren Körper beweglich und gesund zu erhalten, um die langen Meditationsphasen körperlich durchzustehen. Bis vor wenigen Jahren wurde Lu Jong nur mündlich vom Lehrer an die Schüler weiter gegeben – aber der buddhistische Meister Tulku Lobsang machte Teile der Übungen des tibetischen Yogas für uns im Westen verfügbar. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass diese Form des Yogas keinen Bezug zu denjenigen Übungen hat, die als die „fünf Tibeter“ bekannt sind.
Ähnlich wie im Qi Gong werden im Lu Jong Form und Bewegung miteinander kombiniert, weswegen man von Lu Jong auch als Bewegungslehre spricht. Den Übungen liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein Gleichgewicht der Wirbelsäule automatisch ein Wohlbefinden aller anderen Körpersysteme nach sich zieht. Umgekehrt gilt das gleiche: Sobald eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung vorliegt, werden sich auch Probleme mit der Wirbelsäule einstellen.
Übungen für Beweglichkeit, Vitalorgane und Befindlichkeiten

Die Übungen sind in Gruppen zusammengefasst und es ist wichtig, alle Übungen einer Einheit zusammen und in der angegebenen Reihenfolge auszuführen, denn sie sind auf eine ganzheitliche Wirkung hin ausgelegt und erzeugen erst dann ihre (aus)balancierenden Effekte. Im einzelnen handelt es sich um fünf Grundübungen, fünf Übungen für die Beweglichkeit der Körperteile, fünf Übungen für die Funktion der Vitalorgane und acht Übungen für die Heilung der Befindlichkeiten.
Lu-Jong-Übungen sind einfach auszuführen und leicht zu erlernen und zudem für Menschen geeignet, die körperlich eingeschränkt sind, z. B. durch rheumatische Erkrankungen oder Arthritis. Fast alle Übungen können sogar im Sitzen auf einem Stuhl ausgeführt werden. In ihrer Wirkung sind sie jedoch alles andere als trivial, und der Austausch mit einem erfahrenen Lu-Jong-Lehrer sei an dieser Stelle dringend empfohlen, um die Übungen richtig auszuführen.
Grobstofflich und feinstofflich „aufblühen“
Lu Jong ist bestens geeignet, um uns „lebendig aufblühen“ zu lassen. Selbstverständlich verbessert sich der grobstoffliche Körper, wird gelenkiger und muskulöser, Kraft und Ausdauer nehmen zu, Haltungsprobleme bessern sich bzw. bilden sich zurück, wenn wir regelmäßig praktizieren. Die besondere Qualität der Übungen macht sich darüber hinaus im subtilen Bereich bemerkbar. Durch die Bewegungen werden Akupressurpunkte im Körper angeregt, was einer Massage gleichkommt und dazu führt, das wir uns glücklicher fühlen. Dies ist ganz wörtlich zu verstehen und wird durch die jahrelange Erfahrung von Lehrern mit ihren Kursteilnehmern bestätigt.
Werden die Übungen in der richtigen Form und Reihenfolge ausgeführt, stellt sich ein körperliches Wohlbefinden ein, das (wahrscheinlich) durch das Ausschütten körpereigener Hormone bewirkt wird. Von dieser friedvollen und ruhigen körperlichen Basis aus kann sich nun unsere Fähigkeit und Sensibilität entwickeln, die Botschaften des Körpers und des Geistes wahrzunehmen, was Chancen für positive Entwicklungen eben auch im subtilen und kausalen Bereich eröffnet.
Ich selbst profitiere durch Lu Jong in vielerlei Hinsicht. Rückenbeschwerden, verursacht durch langes Sitzen vor dem Computer, haben sich gebessert; das Sitzen in der Zen-Gruppe ist entspannter und konzentrierter geworden; durch die entspannte Muskulatur fällt das Singen von Colleraturen leichter; in meiner pädagogischen Arbeit bin ich gelassener und intuitiver geworden; mein Empfinden und Gefühl für „schöne Proportionen“, sowohl in meiner grafischen Arbeit als auch beim Ikebana, hat sich vertieft.

Thomas Hintz, hauptberuflich als Sozialarbeiter an einer Hauptschule tätig, Mediengestalter in Projektarbeit, Buchautor im Bereich Open-Source- Computer-Programme. Mitglied in einer Zen-, Ikebana-, Yoga-Gruppe; regelmäßige Konzerttätigkeit als Mitglied des Oratorienchors „Collegium Vocale Wesel“. Seit ca. 15 Jahren Beschäftigung mit den Ideen von Ken Wilber.
Medien-Tipps
Tulku Lobsang: Lu Jong – Die älteste tibetische Bewegungslehre zur Heilung von Körper und Geist, O.W. Barth, 2010, € 17,99
Videos auf YouTube:
http://www.youtube.com/watch?v=fURROZu7Ga0
http://www.youtube.com/watch?v=xl8nxAfAEVA
Quelle: IP 24 – 2/2013