von Sonja Student
Für meine Generation (der Spätachtundsechziger) war der Begriff „konservativ“ sehr negativ besetzt, in extremster Form schien er uns nahe zu dem, was wir in den 70ern unter „restriktiv“ oder gar „faschistisch“ verstanden. Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, das Lob eines gesunden Konservativismus auszusprechen. Die kritische geistige und emotionale Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus stand als gesellschaftliche Aufgabe noch aus.
Was in der Geschichte des 20. Jh. hinter uns lag, löste Erschrecken aus und verstellte zugleich den Blick auf eine größere tiefenzeitliche Sicht, die unsere Quellen von Menschlichkeit und geistiger Erneuerung im Vornazi-Deutschland und der ganzen Welt für ein neues Deutschland erschließen konnte. Vielleicht ist erst heute aus der Erfahrung einer im weltweiten Vergleich relativ gefestigten repräsentativen Demokratie und zugleich einer sich entwickelnden demokratischen zivilgesellschaftlichen Bürgergesellschaft eine neue Sicht auf Konservativismus und gesellschaftliche Entwicklung möglich.
Im letzten Jahr las ich ein Interview mit CDU-Minister Schäuble, in dem er erläuterte, dass sich sein Verständnis von dem, was konservativ ist, im Laufe der demokratischen Tradition der Bundesrepublik Deutschland verändert hat. Seiner Meinung nach gehören heute Toleranz gegen Andersdenkende, die Gleichberechtigung der Frauen, die Anerkennung verschiedener sexueller Orientierungen sowie die Homo-Ehe zu den Werten und Freiheiten, die in einer Demokratie verteidigt werden müssen. Solche Äußerungen eines konservativen Ministers im Rollstuhl waren in den 50er Jahren in Deutschland genauso wenig denkbar wie eine Frau als erfolgreiche Kanzlerin oder ein ehemaliger schwuler Außenminister, und das noch in einem Kabinett. Mit der gesellschaftlichen Entwicklung von traditionellen zu modernen, postmodernen und integralen Bewusstseinstrukturen und Werten verändert sich auch der Charakter des Konservativen. Je höher eine Gesellschaft entwickelt ist, desto mehr kulturelle und zivilisatorische Errungenschaften gibt es zu bewahren. Mit dem Aufkommen der integralen Bewusstseinsstufe richtet sich der Blick auf die ganze Entwicklungsspirale: Jede Stufe ist wie bei einer Treppe eine wichtige Station im Leben eines Individuums oder einer ganzen Gesellschaft, und keine kann ausgelassen werden, weil sie die Grundlage für die weiteren Stufen darstellt. Mit dem Aufkommen eines integralen Bewusstseins wird es möglich, den Absolutismus der eigenen Entwicklungsstufe bzw. den Schwerpunkt der eigenen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe aufzugeben zugunsten eines gesellschaftlichen Entwicklungsmodells, das ganzheitlich und nach oben offen ist und zugleich in die bestehenden Grundstrukturen neue zeitgemäße Inhalte aufnehmen kann. Mit der Beschleunigung gesellschaftlicher Entwicklung (ganz grob überschlagen ca. 3000 Jahre von mythisch-traditionellen Gesellschaften bis hin zur Moderne, 300 Jahre bis zur Postmoderne und ca. 30 bis zum Aufkommen eines integrierenden oder integralen Bewusstseins) haben Individuen und integral-informierte Zukunftslabors und Netzwerke eine große Chance und zugleich eine hohe Verpflichtung zur gesunden Entwicklung der gesamten Spirale beizutragen: Das betrifft sowohl das zivilisiertere Durchlaufen der schon bestehenden Entwicklungsebenen mit zeitgemäßen Inhalten wie auch das Hervorbringen und Gestalten ganz neuer Potenziale. Diese höheren Potenziale und neue Weltsichten sind eine Voraussetzung für die Heilung der ganzen Spirale. Meine Generation ist wohl die erste, die an zwei kulturellen (R-)Evolutionen in einem Leben teilnehmen kann und in gewisser Weise auch teilnehmen muss, dann nämlich wenn sie die Notwendigkeit nicht nur erkannt hat, sondern auch die Fähigkeit und den Willen hat, ihren eigenen bewussten Beitrag zum Wohl des Ganzen zu leisten.
Mit Schiller auf der Schiene
Vor einigen Jahren war ich zu einer Ring-Vorlesung an die Schiller-Universität Jena zum Thema Kinderrechte und Demokratiepädagogik eingeladen. Mein Vortrag endete sinngemäß mit einem Appell an die Studentinnen und Studenten, ihren Beitrag zu einer weltzentrischen, d. h. aufgeklärten und fürsorglichen Zivilgesellschaft und Politik zu leisten. Auf der Rückreise in meine Heimatstadt Frankfurt stieg ich intuitiv in Weimar aus und lief ohne mein Ziel zu kennen in die Altstadt. Ich landete passgenau in einem Buchladen. Dort griff ich zu Safranskis Buch über die Freundschaft von Schiller und Goethe. Zurück zum Bahnhof und dem nächsten ICE versank ich in die Lektüre und spürte ein starkes Ergriffensein vom aufklärerischen Geist. Kurz vor meiner Ankunft in Frankfurt stieß ich auf ein Zitat von Schiller aus seiner Antrittsvorlesung in Jena, das mich elektrisierte:
„Ein edles Verlangen muss in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus u n s e r n Mitteln einen Beitrag zu legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen.“
Michael Habecker und ich haben in unserem 2011 erschienenen Buch „Wissen, Weisheit, Wirklichkeit“ dieses Zitat in die Einleitung des Kapitels über integrale Aufklärung aufgenommen. Schiller drückt das aus, was Ken Wilber später – auch in Anlehnung an Hegel – als das dialektische Gesetz der Entwicklung bezeichnet hat: transzendiere und bewahre. Nur aus der höheren Sicht im Sinne einer größeren Perspektive und einer Zunahme von Fürsorge und Mitgefühl können wir überhaupt entscheiden, welche Errungenschaften und Kompetenzen wir aus der Vergangenheit mitnehmen wollen, was sich im Sinne dieser größeren Perspektive bewährt und was sich als Irrtum herausgestellt hat. „Zugleich geht es darum, das hinterlassene Erbe zu vermehren um das, was in unserer neuen Zeit an neuem Wissen und Weisheit erscheint.“ (Habecker/Student, 115) Doch wie unterscheiden wir zwischen dem, was wir bewahren wollen und dem, was wir hinter uns lassen wollen? Und wie können die höheren Ebenen die unteren Ebenen so transformieren, dass diese zivilisiertere oder zivilere / sublimere Formen finden, um die Grundbedürfnisse ihrer Ebene zu erfüllen und die Grundkompetenzen der jeweiligen Ebene in einer zeitgemäßen Form zu erlernen und auszuüben?

Höhere Werte transformieren die unteren Ebenen: Ein Beispiel aus der Pädagogik
Am Beispiel der Bildung für Kinderrechte und Demokratie möchte ich zeigen, wie die Werte der unteren Entwicklungsebenen durch die Inhalte der höheren Ebenen transformiert bzw. aktualisiert werden. Dabei werden die Grundstrukturen erhalten, gefestigt und ihre Kompetenzen von allen Mitgliedern der Gesellschaft erlernt. Die Stockwerke des Entwicklungshauses werden sozusagen bei jeder neuen Etage renoviert und neu durchgestylt. Was sich so vor der integralen Ebene quasi naturwüchsig und in heftigen Brüchen und Abspaltungen früherer Ebenen vollzieht (mit Schattendynamiken), kann ab der integralen Ebene verstanden und bewusst gestaltet werden.
Ich arbeite seit vielen Jahren als Vorsitzende des Vereins Makista (Macht Kinder stark für Demokratie, www.makista.de) an der Entwicklung von Schulen zu Kinderrechte-Schulen(www.kinderrechteschulen.de) und am Aufbau von Schulnetzwerken für Kinderrechte und Demokratie, dieses zusammen mit vielen weiteren Partnern aus der Zivilgesellschaft.
Die Art, wie Kinder durch die Entwicklungsebenen gehen, hat sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung und dementsprechend mit der Entwicklung der Pädagogik stark verändert. In einer traditionell konformistischen Gesellschaft wurde die Einpassung in ein fixes und unhinterfragbares und meistens auch unhinterfragtes Gesellschaftsmodell durch rigide Maßnahmen erzwungen. In meiner Grundschulzeit vor etwa 50 Jahren war es noch üblich, Kinder bei Ungehorsam mit Prügeln zu strafen: Ich erinnere mich noch gut (oder sollte ich schlecht sagen) an die Schläge, mit denen unser Religionslehrer Störungen bestrafte – für Jungen auf den Hintern und für Mädchen auf die ausgestreckte Hand. In den ersten Klassen des Gymnasiums gehörten Angst und Demütigung bei einzelnen Lehrkräften noch zum Alltag. Später mit einem modernen Lehrstil wurde die Angst vor körperlichen Strafen in die Angst vor schlechten Noten und sogenannten Sachzwängen transformiert. Die Regeln änderten sich, die Sicht aufs Kind auch: Vom gehorsamen und braven Objekt, eingezwängt durch starre Regeln, wurde das Kind als Leistungsträger oder Versager im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf tituliert. Kinder wurden zu Schulfächern auf zwei Beinen, nicht blinder Gehorsam, sondern von der Gesellschaft verlangte Leistung in den Kernfächern wurden zum Mechanismus der Sozialisation und der entsprechenden Zuteilung von gesellschaftlichen Chancen. Mit der Postmoderne änderte sich das, die Würde des Kindes und die zwischenmenschliche Beziehung traten in den Vordergrund, Kinder wurden als Subjekte ihres Lebens gesehen. Regeln wurden in der Frühphase antiautoritärer Erziehung noch als Unterdrückungsinstrumente gefürchtet, in der reifen postpostmodernen oder integralen Phase als notwendige Regelungen akzeptiert und befürwortet, die durch Argumente gestützt bei Bedarf auch geändert werden können. Ich sage in meinen Fortbildungen für Kinder, Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen oft: Die gute Nachricht ist: Du hast Rechte. Die schlechte: Alle Menschen haben Rechte. Bildung für Kinderrechte und Demokratie ist also kein Narzissmus-Programm, sondern fördert Beteiligung und Verantwortlichkeit für mich selbst, die Gemeinschaft und die Welt. In der integral-informierten, ideologiefreien und dem Leben angepassten Sozialisation formen die Werte der Nachhaltigkeit, Potenzialentwicklung von Individuen und Kulturen die Erziehung der Kinder und die Beziehung zu ihnen. Dabei werden entsprechend des Entwicklungsgesetzes des Transzendiere und Bewahre die besten Errungenschaften der früheren Entwicklungsphasen einbezogen:
- eine demokratisch verfasste Ordnungskultur, ihre Regeln und Verantwortlichkeiten für eine weltzentrisch orientierte Gemeinschaft;
- die Leistungsbereitschaft und den Willen zur Exzellenz, jedes Kind soll die Möglichkeiten erhalten, seine Potenziale zu entwickeln, unabhängig von Rasse, sozialer Herkunft, Geschlecht, sexueller oder religiöser Orientierung; dabei sollen auch die tiefsten Potenziale unseres Mensch-Seins berücksichtigt werden (Wer bin ich und warum bin ich hier);
- die Beziehungen aller am pädagogischen Prozess Beteiligten, wobei gleichermaßen die Würde aller Menschen und die altersangemessene Beteiligungs- und Entwicklungsräume als Gelegenheitsstrukturen zur Verfügung gestellt werden;
- die Offenheit für neue Entwicklungen und das Potenzial der Zukunft sowie die Bereitschaft, lebenslang zu lernen und über sich selbst und das bisherige Gravitationszentrum der Gesellschaft hinauszuwachsen.
Diese eben genannten integralen oder integrierten Werte werden bereits heute als „Keime des Neuen im Alten“ in vielen einzelnen Modellversuchen von Zivilgesellschaft und staatlichen Einrichtungen verstanden oder sind durch die Initiative Einzelner aus Pionier-Projekten hervorgegangen. Zurzeit sind sie noch auf dem mühsamen Weg von Ausnahme-Projekten zum allgemeinen Standard für Schulen und Schulentwicklung zu werden. Eine integral-informierte demokratische Schulkultur bietet Kindern von Anfang an Gelegenheitsstrukturen, um Zugehörigkeit, Anerkennung, Selbstwirksamkeit, Beteiligung und Verantwortungsübernahme altersangemessen zu ermöglichen. Die Kinder lernen Regeln zu beachten, sie zu besprechen und ihr bisheriges Verständnis durch Diskussionen im Klassenrat zu erweitern. Sie lernen weltzentrische Werte als die Werte, die in ihrer Klasse und der ganzen Schule gelten. Demokratisches Verhalten wird in einem fortwährenden Prozess erlernt, so dass im Laufe der Jahre ein demokratischer Habitus erworben wird, der Verhalten und innere Haltungen verbindet. Kinder können sich von demokratischen „Konformisten“ zu bewussten demokratischen Bürgerinnen und Bürgern entwickeln, wobei Demokratie nicht nur als Staats- und Regierungsform, sondern in einem integrierten Verständnis zugleich auch als Gesellschafts- und Lebensform verstanden wird.
Ein demokratischer Habitus von Lehrerinnen und Lehrern als Vorbild und entgegenkommende Verhältnisse in einer demokratischen Schulkultur und passende förderliche Strukturen ermöglichen Kindern mit demokratischen und weltzentrischen Werten aufzuwachsen und sie im Laufe ihrer Entwicklung zu verinnerlichen und daraus als Weltbürger mit dem Bewusstsein einer weltweiten Verbundenheit lokal und global zu handeln.
Eine gelebte integral-informierte demokratische Schulkultur ermöglicht heute schon einen frühen Weg in eine Weltgesellschaft und ist damit eine gute Basis für ein gesundes Durchlaufen der unteren Entwicklungsstufen als Basis für eine Weltkultur in die die einzelnen Menschen und Kulturen das Beste einbringen zum Wohl des Ganzen. Eine höhere Weltsicht trägt dazu bei, bestehende Wertekonflikte zu entschärfen und die fragmentierten Werte in einen größeren systemisch-entwicklungsorientierten Kontext zu integrieren. Im Sinne Maslows werden dabei nicht nur die Überlebensbedürfnisse der Menschen, sondern auch ihre Bedürfnisse nach Sinnhaftigkeit und Transzendenz berücksichtigt.
Die Kultur einer Schule, einer Familie, einer Kita, einer Kommune oder eines Landes spielen als prägende oder entgegenkommende und haltende Ressourcen eine entscheidende Rolle dabei, wohin sich eine Gesellschaft entwickeln und den Anforderungen der Zukunft gerecht werden kann und will. Bildung und Erziehung sind eine der wichtigsten nachhaltigen Ressourcen für das, was den Menschen in einer Gesellschaft von Bedeutung ist.
Das Lernen lernen in eine herausfordernde und offene Gesellschaft hinein
Alle führenden Bildungsexperten sind sich heute einig, dass wir das Lernen lernen müssen und die Fähigkeit brauchen, uns lebenslang zu entwickeln. Eine reiche Gesellschaft wie Deutschland kann es sich auf Dauer nicht leisten, menschliches Potenzial zu vernachlässigen und Kindern ihr Recht auf ein gesundes, sinnhaftes und glückliches Leben jetzt und in der Zukunft zu verweigern. Wir dürfen kein Kind zurücklassen, dieser Satz der skandinavischen Pädagogik erinnert uns an das Versprechen der Aufklärung, jedem Menschen, jedem Kind seine eigene Würde von Anfang an zukommen zu lassen. Das entspricht einem zeitgemäßen Menschenbild: Der Mensch als bewusstes, selbstbestimmtes, freies und zugleich allverbundenes Wesen oder spirituell ausgedrückt, als bewusstes Erwachen des EINEN in dem jeweils einzigartigen Individuum.
Wenn wir integral und evolutionär inspirierten Individuen uns für unsere persönliche Weiterentwicklung und die Keime einer neuen Kultur in Zukunftslabors einsetzen, sollten wir nicht vergessen, uns zugleich für die Transformation und das gesunde Bewahren des bereits Erreichten zu engagieren. Oft neigen wir nur zur Begeisterung für das Neue und vergessen, was die Evolution bisher schon hervorgebracht hat. Wir sollten uns bei aller Begeisterung für die Potenziale der Zukunft vor progressivistischem Messianismus und einem arroganten Reformhabitus hüten, die alles Bestehende verdammen und nur auf das Neue, noch nie Dagewesene setzt. Jede Entwicklung stützt sich auf das bereits Gewordene und fügt aus der Freiheit der Nicht-Identifikation mit allem Gewordenen das Potenzial der Zukunft hinzu. Damit könnenwir „aus u n s e r n Mitteln einen Beitrag (…) legen und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein (…) befestigen.“
Quellen/Webseiten:
www.makista.de
www.kinderrechteschulen.de
Literatur:
Michael Habecker, Sonja Student: Wissen, Weisheit, Wirklichkeit. Perspektiven einer aufgeklärten Spiriatualität. Kamphausen 2011
Wolfgang Edelstein, Lothar Krappmann, Sonja Student: Kinderrechte in die Schule. Gleichheit, Schutz, Förderung, Partizipation. Debus Verlag, Frühjahr 2014
Quellen: IP 27 – 2/2014