Buchauszug: „Wissen, Weisheit, Wirklichkeit” von Michael Habecker und Sonja Student, Teil 1 – Einleitung: Die Aufklärung ist besser als ihr Ruf / Absolute und relative Fragen

Buchauszüge

Buchauszug: „Wissen, Weisheit, Wirklichkeit” von Michael Habecker und Sonja Student, Teil 1 – Einleitung: Die Aufklärung ist besser als ihr Ruf / Absolute und relative Fragen

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Mit einem Vorwort von Susanne Cook-Greuter

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

dieses Werk von Michael Habecker und Sonja Student ist ein kleines Juwel, das sich mit der Integralen Theorie Ken Wilbers beschäftigt und Ihnen in brillanter Weise deren Vielfalt nahebringt.

Unabhängig davon, ob Sie schon mit dem Werk des Philosophen Ken Wilber vertraut oder ein Neuling in Sachen Integraler Theorie und Inte­graler Methodologischer Pluralismus (IMP) sind, ist „Wissen, Weisheit, Wirklichkeit“ sicher die am besten gelungene und die zugänglichste Zusammenfassung.

Ich erlebte das Buch wie Goldlöckchen in dem Märchen „Goldlöckchen und die drei Bären“, als sie das „richtige“ Bett für sich fand: ,,This one is just right!“ Diese Einführung in eine komplexe Theorie ist „gerade recht“. Nicht zu lang und doch verständlich; nicht zu detailliert und doch ausführlich genug, um zu einem tieferen Verständnis zu führen. Sie ist schön und klar geschrieben und mit stimmigen und lebens­nahen Beispielen illustriert.

Was mich am meisten berührt hat, ist jedoch die besondere Qualität, die Habecker und Student ihrem Thema gegenüber zeigen. Sie laden uns ein zu immer größerer und tieferer Liebe zu allem, was menschlich ist. Somit ist hier Wilbers Theorie nicht nur spannend und wissenschaftlich seriös bearbeitet, sondern sie wird auch mit Herz und Seele betrachtet.

In dem Buch geht es um die wichtige Unterscheidung zwischen „Auf­klärung und Erleuchtung“, die wir im Englischen nicht so klar vor­nehmen. Im Englischen benutzen wir für beide Begriffe das gleiche Wort „enlightenment“. Zur Unterscheidung nennt man die historische Periode „the age of enlightenment“ und das spirituelle Erwachen eben nur „enlightenment“. Der erste Ausdruck ist ein Meilenstein für das Erwachen des Evolutionsbewusstseins im Zeitgeist der Moderne, der zweite steht für die Entdeckung dessen, was ist, immer schon war und sein wird und sich im Lebensverlauf durch das Studium des Bewusstseins offenbart.

Habecker und Student plädieren für ein Bewusstsein, das fortwährend den Fluss des Lebens und des Menschseins erforscht und das alle Erkenntnisse über die menschliche Erfahrung überprüft und integriert. Hier wird die zentrale Frage, was es heißt, ein Mensch zu sein, als ein Eigenwesen oder ein „Ich“, als ein Gemeinschaftsmitglied oder ein „Wir“ und als ein beschreibbares Objekt, also als ein „Es“, von allen Seiten betrachtet und beleuchtet.

Die Autoren beschreiben die bisher bekannten Stränge der Erkenntnis­ und Geisteswissenschaft, die sich damit beschäftigen, was es denn heißt, ein Mensch zu sein. Sie tun dies unter drei fundamentalen Blick­ winkeln, die nach dem integralen Ansatz unweigerlich miteinander ver­knüpft sind: Innenwelt, Beziehungswelt und Außenwelt.

Das ganze Werk ist eine „passionierte“ Aufforderung zur Versöhnung und Integration von einander vormals widerstrebenden Ansätzen bei der Beantwortung von Fragen, die für uns Menschenwesen von entscheidender Bedeutung sind: Wer sind wir, woher kommen wir und wo gehen wir hin? So wie es schon Gauguin gefragt und in seinem monu­mentalen Bild über die Lebensspanne der Menschen dargestellt hat.

Zugleich ist das Buch ein Lob der Differenzierung sowohl der Ent­wicklungsstufen als auch der Vielfalt menschlichen Ausdrucks in vie­len anderen Bereichen der Erfahrung. Es deckt die mehr universellen Aspekte (verschiedene Linien) ab, die sich entwickeln, und auch die­jenigen, die eher einmalig sind und die wir gerne benutzen, um uns voneinander zu unterscheiden (Typen, Temperament, Talente).

Als Integraler Methodologischer Pluralismus beschreibt und untersucht die Integrale Theorie alle Richtungen der Erkenntniswissenschaften, die durch die Geschichte hindurch zum Verständnis des Menschseins beigetragen haben. Damit schafft sie Raum für die Wertschätzung der Beiträge aller Untersuchungsmethoden, scheut aber nicht davor zurück, gleichzeitig auch die unvermeidliche Teilperspektive, Kurzsichtigkeit und Grenze jeder einzelnen Methode aufzuzeigen.

Kurzum, Habecker und Student bieten uns hier eine ausgewogene und höchst lesbare Zusammenfassung und Erläuterung von Wilbers Ideen an. Es ist ihnen gelungen, diese so darzulegen und mit nachvollzieh­baren Beispielen aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz und unserem Alltag lebendig werden zu lassen, dass man ihren Ausführungen mit Freude folgt. Die Autoren tragen damit wesentlich zur Verbreitung des integralen Gedankengutes im deutschsprachigen Raum bei. Was das Buch von Habecker und Student aber besonders kostbar macht, ist der Ausdruck einer allumfassenden Liebe zum Menschsein, die durch das ganze Buch hell hindurchleuchtet.

Susanne Cook-Greuter

Einleitung: Die Aufklärung ist besser als ihr Ruf

In unserer Zeit am Beginn des 21. Jahrhunderts hat der Begriff „Auf­klärung“ und das, was sich damit verbindet, sehr unterschiedliche Bedeutungen. Für die einen handelt es sich um einen historischen Zeitabschnitt, den wir hinter uns gelassen haben, für andere sind damit Fortschritt, Wissenschaft, Gleichberechtigung, Menschen­rechte und ökologisches Bewusstsein verbunden. Wieder andere sehen darin den Beginn katastrophaler Entwicklungen und einen naiven Fortschrittsglauben, der zu einem zügellosen Kapitalismus, der Ausbeutung der Erde und sogar zum Holocaust geführt hat.

In diesem Buch wollen wir zeigen, dass alle diese Aspekte ihre Berechtigung haben und in einer umfassenden Sicht ihren angemes­senen Platz finden. Zugleich plädieren wir dafür, bei der Diskussion von Themen wie Aufklärung, Wissenschaft, Entwicklung und Fort­schritt zwischen gesunden und ungesunden Formen, d. h. zwischen Würde und Katastrophe, zu unterscheiden. In unserem Verständnis ist das „Projekt Aufklärung“ nicht nur eine zu rekonstruierende Histo­rie, sondern ein schöpferischer und erkenntnisgewinnender Prozess der Menschheit und des gesamten Universums von Anbeginn an – ein Vorgang, der uns von Augenblick zu Augenblick durchdringt, als ein Impuls zu mehr Bewusstheit, Mitgefühl und Ganzheit. Auf­klärung so betrachtet ist weit besser als ihr Ruf: Ihre innere Logik, ihre schöpferische Kraft und ihre Verheißungen sind bis heute nur zum Teil eingelöst. Ihr (historisches und andauerndes) bewusstes Ziel war und ist es, Licht in das Dunkel der Unwissenheit zu bringen – die Gesetzmäßigkeiten des Seins und Werdens zu enthüllen: in der Natur, in unserem Innern und in dem, was zwischen uns geschieht. Von heute aus gesehen können wir gemeinsam mit ihren Kritikern die Schwächen und Fehler der ersten zurückliegenden Phase der Aufklärung sehen. 500 Jahre später sind wir klüger als zuvor und erkennen sowohl die Chancen als auch die Gefahren der neuen Entwicklungen der Menschheit hin zu mehr Wahrheit, Moral und Schönheit als den großen drei Dimensionen, welche die Würde der Moderne ausmachen.

Es gibt viele Möglichkeiten, den Verlauf der Menschheitsgeschichte zu strukturieren. Für unsere Darstellung wählen wir eine einfache Viergliederung in Prämoderne, Moderne, Postmoderne und Integra­tion, die wir wie folgt charakterisieren:

Was ist die Prämoderne (oder Vormoderne)? Die histo­rische Zeitepoche bis etwa zum Jahr 1500 und eine nach wie vor aktuelle vorwissenschaftliche Erkennt­nis- und Seinsweise, die sich überwiegend auf unhinterfragte, subjektive und kollektive Vorurteile gründet und das Dogma vor eine kritische Überprüfung setzt.

Was ist die Moderne? Eine historische Zeitepoche ab etwa 1500[1] und eine nach wie vor aktuelle, auf wis­senschaftlichen Grundlagen basierende Erkenntnis­ und Seinsweise, die sich auf allgemeine und für alle Menschen gültige Grundsätze stützt.

Was ist die Postmoderne? Eine historische Zeitepoche ab etwa 1960, die sich vor allem mit der Kritik an der Moderne beschäftigt hat, und eine nach wie vor aktuelle Erkenntnis- und Seinsweise, die vor allem Multikul­turalität, Kontexte und Relativität betont.

Was ist die Integration oder das integrale Zeitalter? Die Möglichkeit in unserer heutigen Zeit, sowohl die Größe als auch die Grenzen, die Würde und die Katas­trophe von Prämoderne, Moderne und Postmoderne zu erkennen, zu heilen und zu integrieren.

Es scheint so zu sein, dass Entwicklung sich in Sprüngen, Polaritäten und Spannungen vollzieht. Das, aus dem ich mich gerade heraus­ entwickelt habe, möchte ich oft gerne hinter mir lassen – ,,Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“ – und lehne es manchmal sogar massiv ab. Woran ich gestern noch geglaubt und wofür ich mich leidenschaftlich eingesetzt habe, ist heute schon Aberglaube und „Schnee von gestern“. Hierin liegt eine wichtige Bedeutung von Transzendenz und Emanzipation. Zuerst geht es bei der Entdeckung neuer Erkenntnisse darum, nicht in das Gravitati­onsfeld des bereits Bestehenden zurückgezogen zu werden. Dies kann zu Beginn sehr anstrengend sein und Abgrenzungen erfordern, denn was sich über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut und als eine „Macht der Gewohnheit“ verfestigt hat, verschwindet meist nicht über Nacht. Doch wenn das Neue gesichert ist, kann ich dankbar auf den zurückgelegten Weg blicken, der mir die neuen Einsichten erst ermöglicht hat, welche wiederum die Grundlage bilden für alles Weitere auf meinem Entwicklungsweg. Dies ist die zweite wichtige Entwicklungskomponente, das Aufnehmen, Umfassen und Umar­men dessen, was vorangegangen ist. Je öfter ich diesen Schritt gegangen bin und je bewusster ich ihn gehe, desto mehr stellt sich Entwicklung als Prozess von Transzendieren und Umfassen heraus, und desto bewusster kann jedes Individuum und jede Gesellschaft ihre Entwicklungsprozesse gestalten. Transzendenz verhindert Still­stand und Starre, sie sorgt dafür, dass der Fluss des Lebens und Seins weiterfließt. Umfassen und Bewahren bildet die Basis dafür, dass Entwicklung überhaupt stattfinden kann, als ein Prozess, bei dem eines auf dem anderen aufbaut.

So wie die Aufklärung in ihrem Kampf gegen Traditionen, Dogmen und unterdrückende Machthierarchien auch die guten Seiten ihres Vorläufers, der Prämoderne, über Bord geworfen hat und mit ihnen die jahrtausendealten spirituellen Weisheiten, so folgt auch die Post­moderne teilweise diesem extremistischen Vorbild: Mit den Fehl­entwicklungen der Aufklärung werden auch deren große historische Verdienste abgewertet. Dabei ist das, was wir als gesunde Postmo­derne bezeichnen, in unserem Verständnis die Weiterführung des wissenschaftlichen Vorgehens der Aufklärung im guten Sinne. Die innere Logik der Aufklärung, der „aufklärerische Impuls“, als eine umfassende Tendenz zu mehr Licht und Bewusstheit in allen Berei­chen des KOSMOS geht daher weit über die zeitliche Epoche der Aufklärung hinaus, die wir als historisch-gesellschaftliche Bewegung in der Regel in die Zeit der europäischen Renaissance datieren.

Was ist der KOSMOS? Während die Naturwissenschaft mit dem Begriff Kosmos lediglich die Außenseite aller Manifestation erkennt und beschreibt, verstehen wir darunter die Gesamtheit von sich manifestierender Äußerlichkeit und Innerlichkeit, Geist und Materie.

Eine integrierte Aufklärung als eine Kombination des Besten von Prämoderne, Moderne und Postmoderne, um die es uns in diesem Buch geht, ist eine Aufklärung, die sich ihrer selbst immer mehr bewusst wird: Sie weiß, woher sie kommt, wo sie steht und in wel­che generelle Richtung die Reise geht. Sie kennt ihre Stärken und Schwächen, ihre Pathologien und Herausforderungen und stellt sich ihnen. Sie weiß auch um das unerschöpfliche Potenzial und Neu­land, das vor ihr liegt und das es zu erschaffen, zu entdecken und zu verwirklichen gilt. Als evolutionäre Bewegung ist sie ein selbst­-transformativer Prozess, sowohl ein Meta-System aller Wissenschaft als auch ein kosmisches Spiel und Abenteuer, welches zugleich um seine Grenzen und seine Grenzenlosigkeit weiß. Als bewusst erlebter Vorgang ist sie das Abenteuer der Selbstentdeckung, der Entdeckung der Zwischenmenschlichkeit und der Entdeckung der äußeren Gegebenheiten in einer Entwicklung ohne Ende. In ihr äußern sich sowohl der Wille und der Mut zu immer mehr Tiefe und Komplexität wie auch die demütige Hingabe an alles Gewachsene und Entstandene und an dasjenige, was jenseits aller Manifestation immer schon war, ist und sein wird. Von diesem „Urgrund des Seins“ künden alle mystischen Traditionen: Es ist die Erfahrung des immer schon gewesenen und immer gegenwärtigen JETZT. ,,Aufgeklärte“ Wissenschaft oder eine „aufgeklärte“ Aufklärung erforscht nicht nur Geschehnisse in Zeit und Raum, sondern führt uns auch an das „torlose Tor“ und den „weglosen Weg“ des zeitlosen JETZT, an die Vollkommenheit dieses und eines jeden Augenblicks – eine „Erfah­rung“, die so nahe ist, dass, wie es die Mystiker aller Zeiten und Kulturen ausdrücken, weder Zeit für einen Weg noch Raum für eine Suche bleibt. Eine integrierte Aufklärung weiß um den Unterschied zwischen dem relativen und sich entwickelnden Wissen der Manifes­tation und der Gewissheit um das Absolute, welches jegliche Mani­festation durchdringt. Sie weiß darum, dass nur der- oder diejenige voll in der Welt sein kann, der oder die ganz frei ist von der Welt.

Aus dem Wissen um die absolute und relative Dimension der Wirk­lichkeit kann Weisheit entspringen, als eine Integrität, dieses Wissen in unserem persönlichen und gemeinschaftlichen Leben im Sein und Handeln zum Ausdruck zu bringen. Im Gegründet-Sein in dieser absoluten Freiheit können wir die Fülle der Manifestation voll anneh­men, als unseren Körper, unsere Psyche, unsere Seele und unser Leben, in dem der GEIST sich seiner selbst immer mehr bewusst und damit immer aufgeklärter wird. Wer frei ist von der Welt, kann ganz JA zum LEBEN sagen und dazu beitragen, dass diese Welt ein immer wahrerer, gerechterer, fürsorglicherer und schönerer Ausdruck des EINEN wird.

Mit „GEIST“ beziehen wir uns auf die Absolutheits­dimension, die allem Sein zugrunde liegt, mit „Geist“ beziehen wir uns auf die innerlich-geistige Dimension alles Manifesten.

Abbildung 1 Habecker Student

Abbildung 1: GEIST, Geist und Materie

Eine integrierte Aufklärung ist eine gesündere und umfassendere Variante der ursprünglichen, westlichen Aufklärung als ihr Funda­ment und ihre Grundlage. Das hat nicht nur Bedeutung bezogen auf die Interpretation einer historischen Periode der Menschheit. Für den größten Teil der Menschheit ist die Aufklärung nicht Vergangenheit oder Gegenwart, sondern eine noch nicht gelebte Zukunft. Menschenrechte, Demokratie, friedliche Konfliktlösungen, Gleichberechtigung und ein ökologisches Bewusstsein sind noch kein all­ gemeiner Standard auf unserem Planeten. Wenn die aufgeklärten Gesellschaften dieser Welt damit beginnen, vor der eigenen Türe zu kehren, und ihre Fehlentwicklungen erkennen und heilen, dann korrigieren sie damit nicht nur ihre eigene Vergangenheit, sondern ermöglichen auch eine gesündere Zukunft für den noch ausstehen­den Übergang des größten Teils der Menschheit von der Prämoderne in die Moderne. Damit wird unsere eigene individuelle und kollektive Schattenarbeit zur Zukunftsgestaltung für die kommenden Generationen. In diesem Prozess entsteht für die prämodernen traditionellen Gesellschaften ein besseres Modell für ihre eigene Zukunft. So müssen sie zum Beispiel ihre Tradition, Religion und Spiritualität nicht aufgeben bei ihrem Übergang in die Moderne: Sie können religiös und spirituell bleiben und lediglich ihr mythisches Gottesbild durch ein modernes, postmodernes oder post-postmodernes erset­zen. (Diese Vision entwirft Ken Wilber in seinem Buch „Integrale Spiritualität“, das den Weltreligionen eine wichtige Bedeutung als ein „Förderband“ beim Übergang von traditionellen Gesellschaften auf höhere Entwicklungsebenen zuschreibt.)

Insgesamt orientieren wir uns bei unseren Ausführungen zu einer integrierten Aufklärung an der integralen Theorie des Bewusstseinsforschers und Philosophen Ken Wilber. Seit vielen Jahren studieren wir sein Werk und sind bemüht, es einem größeren Kreis von Menschen im deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen, durch Publikationen, Seminare der „DIA – Die Integrale Akademie“ und das Integrale Forum, die Organisation der deutschsprachigen integralen Bewegung, mit seinen Integralen Salons vor Ort, seinen Tagungen und Partnern im In- und Ausland. Wir sind Ken Wilber für sein philosophisches Werk, das unser beider Leben grundlegend verändert hat, sehr dankbar. Er hat uns geholfen, tiefer und weiter zu denken, dem Impuls der Aufklärung zu mehr Bewusstheit in der Welt passioniert zu folgen und dabei zugleich im ewigen JETZT verankert zu sein. Ersteres bezeichnen wir in der Regel als Aufklärung, Letzteres als Erleuchtung oder spirituelles Erwachen zu der einen Wirklichkeit.

Im Englischen gibt es dafür nur ein Wort: Enlightenment. Aufklärung und Erleuchtung oder Wissen, Weisheit, Wirklichkeit sind die größten Abenteuer der Menschheit auf ihrem Weg zur Bewusstwerdung, und es sind Abenteuer des GEISTES auf seinem Weg zur Selbsterkennt­nis und Selbstverwirklichung in der Manifestation.

Wir gehen in diesem Buch der Frage nach, warum wir beides brauchen und auch in Zukunft brauchen werden – Aufklärung und Erleuchtung, und folgen dann der Spur von Fragen, die sich die Menschheit seit Anbeginn ihrer Bewusstwerdung stellt. Wir möchten die Geschichte dieses großen geistigen Abenteuers mit einfachen Worten erzählen, mit wenigen Fußnoten und technischen Begriffen, als eine Geschichte unserer Zeit, in der wir sowohl Zeugen als auch Mitwirkende sind.

Absolute und relative Fragen

Woher wissen wir, was wir wissen? Wir wissen etwas, das wissen wir: Doch woher wissen wir das? Wir haben es im Laufe unseres Lebens gelernt, jeder von uns auf seinem Weg. Wir haben es gelernt, vor allem von Menschen, die es wiederum von Menschen gelernt haben, in einer Generationenkette ohne Ende – zuerst unbewusst, dann uns des Vorgangs des Lernens immer bewusster werdend. Wir sind lernende und lehrende, und wir sind uns unserer selbst bewusst, mehr oder weniger. Bildung, Erziehung, Entwicklung, Aufklärung, Emanzipation, wie immer wir es auch nennen möchten, es geht etwas vor: in uns, zwischen uns und außerhalb von uns, kontinuierlich über unvorstellbar lange Zeitstrecken und auch in Sprüngen.

Der erste dieser Sprünge, das größte Wunder, fand vor langer Zeit statt, als Manifestation ins Sein trat und sich ein Innen und ein Außen voneinander unterschieden und ein Einzelnes und eine Mehrzahl. Warum ist überhaupt irgendetwas und nicht einfach nur „Nichts“? Es ist etwas, unzweifelhaft, Sie sind da, ich bin da, wir sind da und es ist da. Munterer Staub formte sich in Milliarden von Jahren zu Sonnen, die explodierten, worauf Planetensysteme entstanden, auf denen wiederum dieser muntere Staub Bedingungen vorfand, unter denen er sich zu etwas Lebendigem entwickelte, in einem endlosen Reigen von Generationen und in spektakulären, gewaltigen Sprüngen, über Pflanzen zu Tieren zu Menschen. Und dann begann dieses Lebendige in Form des Menschen auf unserem Planeten sich seiner selbst, anderer und der Umgebung bewusst zu werden, und das ist ein neuer, gewaltiger Sprung.

Diese Bewusstwerdung hat im Verlaufe der Menschheitsgeschichte unterschiedliche Bezeichnungen erhalten. Eine davon ist „Erleuchtung“ oder „Erlösung“, eine andere ist „Wissenschaft“ oder „Erkenntnis“. Erstere wurden von den religiösen Traditionen geprägt und beansprucht und Letztere von der Wissenschaft. Beide haben uns Wesentliches über uns selbst zu sagen.

Woher wissen wir, was wir wissen? Durch unsere Möglichkeiten zu erkennen, unsere Sinne und unsere Fähigkeiten, Sinneseindrücke zu verarbeiten. Und durch die Möglichkeit, uns miteinander auszutauschen: ,,Wie siehst du das?“ Das Leben stellt uns von Anbeginn an und in jedem Augenblick immer wieder vor neue Situationen und Fragestellungen: in Form dessen, was in uns passiert, in Form der Beziehungen zu anderen Menschen und deren Ideen und Meinungen und in Form einer Außenwelt. Sich zurechtzufinden in diesen sich ständig verändernden Welten, der Innenwelt, der Beziehungswelt und der Außenwelt, ist die Herausforderung des Lebens und eine Frage des Überlebens der Menschheit, von Anbeginn an. Auch in der heutigen Zeit stellt uns das Leben vor Situationen, die wir Menschen teilweise selbst herbeigeführt haben (Umweltkrise, Finanzkrise, Terrorismus, Kriege), und unsere Fähigkeit, mit diesen Situationen umzugehen, entscheidet über unsere Zukunft. Das ist im Grunde nichts Neues, doch was in unserer Zeit auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als unsere eigene Existenz und die vieler anderer Mitwesen, und wir werden uns dessen immer mehr bewusst.

Irgendwann vor langer Zeit muss es geschehen sein. Ein Mensch wurde sich erstmals, wenn auch noch sehr vage, seiner selbst bewusst. Ein Mensch entdeckte zum ersten Mal, dass er ein bewusstes Individuum ist, mit einem eigenen Innenleben, dem er sich zuwenden konnte. Dies war die Geburtsstunde von Innenschau, Meditation, Kontemplation, Psychodynamik, Psychotherapie und Religion. Es gibt eine Innenwelt, deren man sich bewusst werden kann. Den gleichen Augenblick muss es auch hinsichtlich der Außenwelt gegeben haben, wo ein einzelner Mensch oder eine Gruppe von Menschen der Frühzeit sich ihrer Außenwelt bewusst wurde und begann, diese bewusst zu gestalten. Dies war die Geburtsstunde von Naturwissenschaft und Technik. Und dann gibt es noch ein drittes großes Erwachen: zu der Erkenntnis, dass es andere, ebenso bewusste Individuen gibt, mit denen man in Beziehung und Gemeinschaft ist. Dieses Miteinander-Sein lässt sich ebenfalls bewusst erleben und gestalten, und daraus entstanden Ethik und Moral, Kultur- und Sozialwissenschaften.

Die Ursprünge liegen im Dunklen, doch der Weg dieser drei Erkennt­nisrichtungen – Innenwelt, Beziehungswelt und Außenwelt – lässt sich verfolgen. Dies wollen wir im Folgenden tun. Dieser Prozess ist nicht nur von historischem Interesse, als die Geschichte dessen, was wir wissen, sondern er ist auch etwas, das jeder Mensch auf seinem persönlichen Lebensweg im Verlauf seiner individuellen Entwicklung entdeckt und das sich in drei Fragestellungen formulieren lässt:

Wer bin ich (was ist ein Ich)?

Wer bist du und wer sind wir (was ist ein Wir)?

Was ist es?

Und die Frage aller Fragen:

Warum ist überhaupt irgendetwas und nichts?[2]

Abbildung 2 Habecker Student

Abbildung 2: Drei Fragen

Aufklärung und Erleuchtung:
Warum wir beides brauchen

Alle Menschen verlieben sich zu irgendeiner Zeit ihres Lebens in die verschleierte Gottheit, die sie „Wahrheit“ nennen.

Evelyn Underhill

Erleuchtung – als eine persönliche Erfahrung von höherer Einsicht oder Erkenntnis – hat eine lange Tradition. Mit der Bewusstwerdung von Innerlichkeit wandten sich einige unserer Vorfahren dieser ihrer Innerlichkeit zu und machten dabei bemerkenswerte Entdeckungen. Einige dieser Entdeckungen waren so außerordentlich, dass sie dafür Worte wie „Erleuchtung“ prägten und ihre Erfahrungen in Beziehung zu etwas Höherem setzten, dem sie unterschiedliche Namen gaben. Die Anfänge gehen weit zurück, und es waren wahr­scheinlich zuerst die schamanischen Traditionen vor Tausenden von Jahren, die bis dahin noch unbekanntes inneres Terrain erkundeten. Sie entwickelten dafür verschiedene Methoden und Techniken und verwendeten manchmal auch psychoaktive, ,,bewusstseinserweiternde“ Substanzen. Aus diesen ersten Anfängen entstanden bald überall auf der Welt mystische Traditionen, Traditionen einer, wie es der Duden[3] definiert, ,,relig. Richtung, die den Menschen durch Hingabe u. Versenkung zu persönl. Vereinigung mit Gott zu bringen sucht“.

Mystik ist die innerliche experimentelle Untersuchung – und Erfahrung – des Bewusstseins, in dem Bemühen, den eigenen Wahrnehmungshorizont in die Unendlichkeit zu erweitern und damit eins zu werden.
„Mystik ist die Wissenschaft oder Kunst des geistlichen Lebens.“

Evelyn Underhil

Der Name „Gott“ als eine allem übergeordnete, personifizierte, mystische Erfahrung wurde erst im Verlaufe der Zeit gebildet, davor waren es unterschiedliche Götter, zu Anfang Naturgötter, die als personifizierte Wesenheiten für die höheren Erfahrungen gesehen wurden. Spirituelle oder religiöse Tradition, die der Frage nachgeht, was für den Menschen oder das Leben letztendlich von Bedeutung ist, ist eine der ältesten Menschheitsbemühungen auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis, und diese Suche begann als eine Suche im eigenen Inneren.

Auch heute gibt es Menschen, die sich diesem Erkenntnisweg verschrieben haben, ihn praktizieren und uns von ihren Erfahrungen berichten. Es sind Berichte von großen Schwierigkeiten, Krisen und inneren Kämpfen, aber auch Berichte von endgültiger Befreiung und Freiheit, mit Erlebnisdimensionen, die „nicht von dieser Welt“ und dennoch dem menschlichen Bewusstsein zugänglich sind. Es sind Erlebnisse, die das eigene Leben unwiderruflich verändern können und dem, was Menschsein ist, eine völlig neue Bedeutung geben. Es sind Wirklichkeiten, die wir, wenn wir an Wissen und Erkenntnis interessiert sind, nicht zurückweisen können – dafür gibt es zu viele Berichte und „Daten“ zu vieler Einzelpersonen und Kulturen über eine zu lange Zeit. Und es gibt Methoden und Praktiken, wie Menschen diese Erfahrungen machen können. Wir sind dabei nicht auf blinden Glauben und Vermutungen angewiesen, sondern können diesen Erfahrungsweg selbst gehen und seine Dimensionen selbst erforschen, als einen geisteswissenschaftlichen Erkenntnisweg. Dies ist die eine Seite.

Abbildung 3 Habecker Student

Abbildung 3: Was ist Mystik?

Die andere Seite ist: Bei der Weitervermittlung dessen, was diese inneren und mystischen Erkenntniswege an Einsichten gebracht haben, beispielsweise durch die Religionsstifter, wurden deren Erfah­rungen und Einsichten institutionalisiert. Das ist in gewisser Weise unvermeidlich, denn nur so kann aus Einzelerlebnissen kulturelle Überlieferung werden. Doch in der Folge der Institutionalisierung mystischer oder religiöser Erfahrungen geschah – und geschieht weiterhin – oft Furchtbares: Authentische direkte Erkenntnis wurde zu Dogma, Unterdrückung, Inquisition, Glaubenskrieg und religiösem Terror. Und es stellt sich die Frage, wie eine Botschaft, die von der Liebe und der Befreiung des Menschen kündet, in ihrem Gefolge eine solch fürchterliche Spur von Leid und Grausamkeit nach sich ziehen kann. An dieser Stelle kommt die Aufklärung ins Spiel.

Endnoten

[1] „Ein Beginn „der“ Moderne kann je nach Blickwinkel sehr verschieden angesetzt werden: Geistesgeschichtlich mit der Renaissance etwa ab dem 15. Jahrhundert, ökonomisch mit der Industrialisierung des mittleren 18. Jahrhunderts, politisch mit der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts (politische Moderne) und dem Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts, in der Literatur- und der Kunstgeschichte als ästhetische Moderne ab dem beginnenden, als Stil ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert.“ (Quelle: Wikipedia)
Manche Historiker nennen noch ein deutlich früheres Datum als 1500 und machen den Beginn der Aufklärung zum Beispiel an einer Persönlichkeit wie Robert Grosseteste (ca. 1186 – 1253) fest, der als Begründer einer wissenschaftlich-experimentellen Methode gilt (siehe dazu Peter Watson (2005): Ideen. Eine Kulturgeschichte von der Erfindung des Feuers bis zur Moderne, C. Bertelsmann, München, 2. Auflage, S. 530 ff).

[2] Eine der Grundfragen abendländischer Metaphysik, die von Leibniz über Schelling und Schopenhauer bis zu Heidegger immer wieder gestellt und auch beantwortet wurde.

[3] 25. Auflage

Über die Autoren

Habecker Michael

Michael Habecker, *1953, Gitarrenpädagoge, Musiker, Autor, Heilpraktiker und Seminarleiter. Beschäftigt sich seit 1985 mit dem Werk von Ken Wilber. Mitübersetzer von Wilbers „Integrale Psychologie“, Autor von „Ken Wilber – eine integrale ( R )EVOLUTION“ sowie von zahlreichen Artikeln zu Wilbers Werk.

Student Sonja

Sonja Student, *1953, Journalistin, Kommunikationsberaterin und Sozialaktivistin. Engagiert sich für Kinderrechte und Demokratie. Beschäftigt sich seit 1996 mit dem Werk von Ken Wilber, Co-Gründerin und Vorstandsmitglied der DIA – Die Integrale Akademie.
Illustrationen: Uwe Schramm www.schramms.de 

Veröffentlichungen (Buchauszüge) aus „Wissen, Weisheit, Wirklichkeit: Perspektiven einer aufgeklärten Spiritualität”:

  • Das dreifache kostbare Erbe des Mystisch-kontemplativen Wegs
  • Die Entwicklung von Wissen, Weisheit und Wirklichkeit
Wissen Weiheit Wirklichkeit

Michael Habecker und Sonja Student:
Wissen, Weisheit, Wirklichkeit: Perspektiven einer aufgeklärten Spiritualität
Gebundene Ausgabe, 208 Seiten
Verlag: Kamphausen Media GmbH
ISBN-10: 3899013514
ISBN-13: 978-3899013511

Inhaltsverzeichnis:

Stimmen zum Buch
Vorwort

Einleitung: Die Aufklärung ist besser als ihr Ruf

Absolute und relative Fragen
Aufklärung und Erleuchtung: Warum wir beides brauchen

Vor der Aufklärung: Glauben statt Fragen, Forschen und Wissen
Was ist Wissenschaft?
Was ist Objektivität?
Das dreifache kostbare Erbe des mystisch-kontemplativen Wegs
Was ist ein Bewusstseinsinhalt?
Die „Besetzung“ mystischer Erfahrungen durch Kirche, Mythos und Dogma

Aufklärung: Etwas Ungeheuerliches
Fallende Steine – die Entdeckung der äußeren Welt und deren Gesetzmäßigkeiten
Was ist ein Mensch – von außen betrachtet?
Was ist ein Mensch – von innen betrachtet?
Bewusstsein hat Phänomene
Bewusstsein hat Strukturen
Bewusstsein hat Dynamik – Psychodynamik
Die Postmoderne und das Wir
Entwicklung: äußere und innere Evolution
Wie hängt das alles zusammen?
Da stehen wir nun

Integrale Aufklärung
Unser lebendiges Erbe
Die Karten auf den Tisch legen
Negative und positive Philosophie
Die Ordnung der Dinge
Ken Wilbers Integraler Methodologischer Pluralismus (IMP)
Perspektiven als persönliche Praxis
Die Entwicklung von Wissen, Weisheit und Wirklichkeit
Aufwachen und Aufwachsen: Die Versöhnung von Wissen, Weisheit und Wirklichkeit
Landkarten und Liebe

Wie geht es weiter?
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Voll in der Welt, frei von der Welt

Über die Autoren

Anhang: Quellen- und Literaturhinweise zu Ken Wilbers Integralem Methodologischen Pluralismus (IMP)

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