Michael Habecker und Sonja Student
Das dreifache kostbare Erbe des mystisch-kontemplativen Wegs
„Die Mystiker sind die Pioniere der Geisteswelt, und wir haben kein Recht, ihren Entdeckungen die Gültigkeit abzusprechen, nur weil es uns an Gelegenheit oder an dem nötigen Mut fehlt, selbst solche Forschungen anzustellen … Ich fordere die, welchen diese Behauptungen als ein Gemisch von billiger Psychologie und noch billigerer Metaphysik erscheinen, auf, alle Vorurteile aus ihrem Geiste zu verbannen und die Sache einmal praktisch zu prüfen.“
Evelyn Underhill
Bevor wir uns mit dem beschäftigen, was Wissenschaft im Einzelnen hervorgebracht hat, gilt es dasjenige zu bewahren und weiterzuentwickeln, was uns die mystisch-kontemplativen Traditionen im Laufe der Menschheitsgeschichte an kostbarem Erbe hinterlassen haben: von den ersten Schamaninnen bis zu heutigen modernen Mystikern. Dabei werden wir nicht in erster Linie von historischem Interesse geleitet, sondern von der Einsicht, dass ihre tiefgehenden Erfahrungen und Erkenntnisse im menschlichen Innenraum ohne Verfallsdatum und daher in mancherlei Weise genau so gültig sind wie zum Zeitpunkt ihres Entstehens. Diese Einsicht wird keineswegs dadurch aufgehoben, dass die Interpretation und Auslegung ihrer Erfahrungen sehr wohl zeitliche, relative, persönliche und kulturelle Bedingtheiten hat, die jedoch von den Inhalten des Wissens zu unterscheiden sind. Menschliche Einsichten, welcher Art auch immer, tragen grundsätzlich den Stempel des Menschlichen – damals wie heute –, mit dem Unterschied, dass wir uns heute unserer Bedingtheiten, unserer Vorurteile, unserer physiologischen, psychologischen und kulturellen Prägungen und Konditionierungen sehr viel bewusster sein können, als dies unseren Vorfahren möglich war. Dieser Vorteil der später Geborenen gegenüber den Vorangegangenen ermöglicht uns auch, ihr Erbe neu zu betrachten – so wie das, was wir an die nachfolgenden Generationen weiterreichen, von diesen unter Gesichtspunkten betrachtet werden kann, die uns Heutigen noch nicht zugänglich sind.
Heute können wir rückblickend drei grundsätzliche Arten des mystischen Erbes unterscheiden: eine Mystik der Formen (innerlich und äußerlich), eine Mystik der Leere und eine nicht-duale Mystik.
Zur Mystik der Formen gehören alle authentischen Berichte von Erlebnissen, die Menschen hatten, wenn sie sich tief nach innen (und dann wieder nach außen) wandten und dabei etwas „gesehen“ haben, dem sie mystische, religiöse, spirituelle oder andere Bezeichnungen gaben. Ob die Sufis des Islam, die Mystikerinnen und Mystiker des Christentums, die jüdischen Kabbalisten, die Yogis des Hinduismus, die Meditierenden des Buddhismus, die Schamanen der Naturreligionen – sie alle haben sich ernsthaft nach innen gewandt und in einer Betrachtung sowohl der Innenwelt wie auch der Außenwelt mystische Erfahrungen wie Einheitserlebnisse gehabt, für die sich jede ernsthafte Wissenschaft interessieren sollte. Wir können in diesem Zusammenhang von Naturmystik (äußere Erfahrungen) und Gottheitsmystik (innere Erfahrungen) sprechen.
Eine zweite große Kategorie mystischer Erfahrungen ist die von Leere, Abgrund, Nichts, Nirvana, Verlöschen, um nur ein paar der dafür verwendeten Begrifflichkeiten zu nennen. Auch dafür liegt uns eine Fülle von Beschreibungen und Berichten vor (in denen immer wieder darauf hingewiesen wird, dass sich die eigentliche Erfahrung nicht beschreiben lässt und dass es sich dabei um keine Erfahrung neben anderen Erfahrungen handelt, sondern um das Erleben des Seinsgrundes oder der Absolutheit, innerhalb deren jegliche Erfahrung stattfindet, ohne dass diese Absolutheit selbst eine Erfahrung bzw. ein Bewusstseinsobjekt ist). Menschen, die diesen Weg gegangen sind, wollten wissen, ob es „unter“ und „hinter“ allem, was sich verändert, innerlich und äußerlich, etwas gibt, das nicht kommt und geht, sondern einfach nur ist, und sie wurden fündig. Die Praxis dabei, die auch von Philosophen wie Schelling beschrieben wurde, besteht einfach darin, alles aus dem Bewusstsein abzuziehen, was kommt und geht, und zu schauen, ob etwas übrig bleibt, was erfahren werden kann, ohne selbst eine Erfahrung zu sein, die kommt und geht. Dabei handelt es sich erneut um keine theoretischen Überlegungen, sondern um „Erfahrungen“, die jedem Menschen offenstehen und deren Erleben durch eine entsprechende kontemplative Praxis unterstützt werden kann – nicht irgendwann und irgendwo oder gar erst im Jenseits, sondern hier und jetzt und in jedem Augenblick, weil jeder Augenblick und jeder Ort von dieser Absolutheit gesättigt oder durchdrungen ist.
Gott ist so nahe, dass keine Zeit für eine Suche und kein Raum für einen Weg bleibt.
Sri Nisargadatta
Was ist die Ewigkeit, sie ist nicht dies, nicht das,
Nicht Nun, nicht lchts, nicht Nichts: Sie ist ich weiß nicht was.Angelus Silesius
Doch damit nicht genug, es gibt noch eine dritte Kategorie mystischen Erlebens, die sich von den vorherigen klar unterscheidet, und zwar die Erfahrungen und Beschreibungen einer so genannten nichtdualen Wirklichkeit. Standen und stehen bei der ersten Kategorie von Mystik Inhalte und Formen der Wahrnehmung im Vordergrund und bei der zweiten Kategorie die Abwesenheit aller Inhalte und Formen, so spricht die dritte Kategorie von der Vereinigung beider, von einer Form, die Leere ist, und einer Leere, die Form ist.
Erscheinung ist nicht verschieden von Leerheit, Leerheit nicht verschieden von Erscheinung; was Form ist, ist leer, was leer ist, ist die Form.
aus dem Herz-Sutra
Oder:
Nie getrennt vom Hier und Jetzt fließt es ständig über. Suchst du es, so kannst du es nicht finden. Du kannst es nicht begreifen und doch kommst du nicht los davon. Weil du es schon hast, kannst du es nicht erlangen.
Vers 39 aus dem Shodoka von Yoka Daishi

Abbildung 6: Wirklichkeit ist nicht-dual
So weit, so gut. Doch was, so könnte man fragen, ist dieses mystisch-religiöse Erbe wirklich wert, wenn ein Ergebnis davon Unterdrückung und Elend ist? Warum sind die Religionen mit ihrem mystischen Erbe und den Lehrern der Liebe für so unendlich viel Leid verantwortlich? Wäre es nicht besser, auf dieses Erbe ganz zu verzichten und damit auch die damit verbundenen Grausamkeiten der Vergangenheit hinter sich zu lassen? Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass aus offenbar authentischen Einsichten guter oder zumindest nicht böswilliger Menschen schlimme Ideologien und menschenverachtende Herrschaftssysteme entstehen konnten? Dies ist eine der Fragen der Aufklärung.
Als eine erste, einfache Antwort darauf können wir festhalten, dass die (aus heutiger Sicht) vielen Fehlentwicklungen entgegen den guten Absichten und Einsichten der Mystik und Religion daraus resultieren, dass es neben den Inhalten des Bewusstseins noch viele andere Aspekte im Bewusstsein gibt, die auf diese Inhalte Einfluss nehmen. Und diese sind jemandem, der sich nur mit den Inhalten seines Geistes durch Innenschau beschäftigt, nicht automatisch bewusst, sondern zunächst einmal unbewusst. Dieses NichtBewusste oder Unterbewusste oder Unbewusste ist wie eine Brille, durch die auch der nach innen Schauende die Phänomene seines Bewusstseins wahrnimmt und sie interpretiert. Um die schrittweise und andauernde Entdeckung dessen, was (Bewusst-)Sein ist und wovon es abhängt, wird es im Folgenden gehen.
Was ist ein Bewusstseinsinhalt?
Obwohl wir zuweilen aus den Handlungen der Menschen ihre wahren Gedanken zu erraten imstande sind, so ist dies doch sehr schwer, wenn wir nicht dabei zugleich auf das achten, was in uns selbst vorgeht …
Thomas Hobbes
Wir haben von Erleuchtung und mystischen Erfahrungen gesprochen, und dies erscheint vielen Menschen als abgehoben, esoterisch oder auch versponnen, bloße subjektive Einfälle irgendwo zwischen magischem Wunschdenken und dem Glauben an den Weihnachtsmann. Doch die Dinge liegen erst einmal viel einfacher. Bewusstseinsinhalte sind das, was sich in einem menschlichen Bewusstseinsraum zeigen kann und zeigt, also beispielsweise in meinem Bewusstsein jetzt beim Schreiben und in Ihrem Bewusstsein jetzt, wenn Sie diese Zeilen lesen. Was sind die Inhalte Ihres Bewusstseins jetzt? Was erleben Sie gerade körperlich, wie fühlt es sich jetzt für Sie an, einen Körper zu haben? Was erleben Sie gerade gefühlsmäßig? Was erleben Sie gerade gedanklich, was „geht Ihnen durch den Kopf“?

Abbildung 7: Was ist ein Bewusstseinsinhalt?
Was immer das jetzt gerade sein mag, es sind zuallererst Bewusstseinsinhalte, so wie wir sie definieren wollen. An deren Existenz gibt es wohl keinen Zweifel. Jeder Mensch ist in der Lage, auf die Frage „Wie geht es dir?“ etwas „aus sich heraus“ zu antworten. Viele der Antworten berichten aus einem gefühlten Innenleben: ,,Es geht mir gut“ oder „Es geht mir schlecht“ – und mehr ist damit erst einmal nicht gemeint. Manche Menschen jedoch machen Erfahrungen, für deren Beschreibung sie eine bestimmte mystische oder religiöse Sprache verwenden. Was diese Erfahrungen wirklich beschreiben und ob sie nur für diesen einen Menschen Gültigkeit haben oder allgemeine „Dinge“ und Sachverhalte beschreiben, die andere auch erleben oder erleben können, steht auf einem anderen Blatt, denn auch bei der wissenschaftlichen Untersuchung von inneren Erfahrungen geht es wie bei jeglicher Wissenschaft um Injunktion, Praxis und gemeinschaftliche Überprüfung. Doch zuerst einmal gilt es, jedem Menschen das Recht auf eigene Erfahrungen zuzugestehen.
Die „Besetzung“ mystischer Erfahrungen durch Kirche, Mythos und Dogma
Der menschliche Geist besteht nicht nur aus Einzelinhalten wie Erfahrungen mystischer oder anderer Art, sondern er hat auch Strukturen, Muster oder Glaubenshintergründe. Dies ist eine der ganz großen Entdeckungen von Moderne und Aufklärung, auch wenn natürlich schon früher Menschen darauf aufmerksam wurden. Wenn wir sagen, ,,Dieser Mensch ist geizig“ oder „Sie ist eine Optimistin“, dann beziehen wir uns im Allgemeinen auf eine Charaktereigenschaft oder Persönlichkeitsstruktur eines Menschen, aus der heraus er oder sie die Welt betrachtet, denkt, fühlt, lebt und handelt, oft ohne dass es ihm oder ihr bewusst ist. Unser Bewusstseinshintergrund, als Individuen und als Gemeinschaften, hat sich entwickelt, ist geprägt und hat bestimmte Eigenschaften. Vor diesem Hintergrund interpretieren und deuten wir, oft unbewusst, was wir wahrnehmen, einschließlich unserer mystischen, religiösen oder spirituellen Erfahrungen. Vor der Zeit der Aufklärung war die kulturell vorherrschende Hintergrundstruktur eines Teils der Menschheit „mythisch“ oder „traditionell“ geprägt. So bezeichnen es Forscher, die sich damit beschäftigt haben, wie der Kulturanthropologe Jean Gebser. Damals gab es ein klar umrissenes und unhinterfragtes Gottes- und Weltbild, dem sich alles andere unterzuordnen hatte. In dieses Weltbild wurden alle Erfahrungen eingeordnet, die Erfahrungen des täglichen Lebens, die öffentliche Ordnung, Recht und Gesetz, außergewöhnliche Erfahrungen wie die der Mystiker, der künstlerische Ausdruck und die Wissenschaft der damaligen Zeit. Was nicht in diesen „Rahmen“ passte, wurde verdrängt oder geleugnet und verfolgt. Wer sich das nicht gefallen ließ, musste damit rechnen, vor Gericht gestellt zu werden, und musste um sein Leben fürchten. So geschah es, dass eine Mystik, die von der Befreiung des Menschen berichtete, entweder dogmatisiert oder verboten wurde. Die Dogmatisierung bestand darin, dass diese Befreiung nur im Rahmen der konkreten existierenden Religions- und Ordnungsvorstellung stattfinden konnte, bei den Christen durch Christus, bei den Mohammedanern durch Allah, bei den Juden durch Jahwe, bei den Buddhisten durch die Lehren des Buddha, so wie es in den heiligen Büchern beschrieben wurde, wortwörtlich und unwiderruflich.
Doch dann ereignete sich eine Revolution.

Abbildung 8: Was ist Dogmatisierung?
Über die Autoren

Michael Habecker, *1953, Gitarrenpädagoge, Musiker, Autor, Heilpraktiker und Seminarleiter. Beschäftigt sich seit 1985 mit dem Werk von Ken Wilber. Mitübersetzer von Wilbers „Integrale Psychologie“, Autor von „Ken Wilber – eine integrale ( R )EVOLUTION“ sowie von zahlreichen Artikeln zu Wilbers Werk.

Sonja Student, *1953, Journalistin, Kommunikationsberaterin und Sozialaktivistin. Engagiert sich für Kinderrechte und Demokratie. Beschäftigt sich seit 1996 mit dem Werk von Ken Wilber, Co-Gründerin und Vorstandsmitglied der DIA – Die Integrale Akademie.
Illustrationen: Uwe Schramm www.schramms.de
Veröffentlichungen (Buchauszüge) aus „Wissen, Weisheit, Wirklichkeit: Perspektiven einer aufgeklärten Spiritualität”:
- Buchauszug aus Wissen, Weisheit, Wirklichkeit von Michael Habecker und Sonja Student, Teil 1 – Einleitung: Die Aufklärung ist besser als ihr Ruf / Absolute und relative Fragen
- Die Entwicklung von Wissen, Weisheit und Wirklichkeit

Michael Habecker und Sonja Student:
Wissen, Weisheit, Wirklichkeit: Perspektiven einer aufgeklärten Spiritualität
Gebundene Ausgabe, 208 Seiten
Verlag: Kamphausen Media GmbH
ISBN-10: 3899013514
ISBN-13: 978-3899013511
Inhaltsverzeichnis:
Stimmen zum Buch
Vorwort
Einleitung: Die Aufklärung ist besser als ihr Ruf
Absolute und relative Fragen
Aufklärung und Erleuchtung: Warum wir beides brauchen
Vor der Aufklärung: Glauben statt Fragen, Forschen und Wissen
Was ist Wissenschaft?
Was ist Objektivität?
Das dreifache kostbare Erbe des mystisch-kontemplativen Wegs
Was ist ein Bewusstseinsinhalt?
Die „Besetzung“ mystischer Erfahrungen durch Kirche, Mythos und Dogma
Aufklärung: Etwas Ungeheuerliches
Fallende Steine – die Entdeckung der äußeren Welt und deren Gesetzmäßigkeiten
Was ist ein Mensch – von außen betrachtet?
Was ist ein Mensch – von innen betrachtet?
Bewusstsein hat Phänomene
Bewusstsein hat Strukturen
Bewusstsein hat Dynamik – Psychodynamik
Die Postmoderne und das Wir
Entwicklung: äußere und innere Evolution
Wie hängt das alles zusammen?
Da stehen wir nun
Integrale Aufklärung
Unser lebendiges Erbe
Die Karten auf den Tisch legen
Negative und positive Philosophie
Die Ordnung der Dinge
Ken Wilbers Integraler Methodologischer Pluralismus (IMP)
Perspektiven als persönliche Praxis
Die Entwicklung von Wissen, Weisheit und Wirklichkeit
Aufwachen und Aufwachsen: Die Versöhnung von Wissen, Weisheit und Wirklichkeit
Landkarten und Liebe
Wie geht es weiter?
Persönliche Beiträge
Gesellschaftliche Beiträge
Voll in der Welt, frei von der Welt
Über die Autoren
Anhang: Quellen- und Literaturhinweise zu Ken Wilbers Integralem Methodologischen Pluralismus (IMP)