Integral Spirituality

Buchbesprechungen

Integral Spirituality

Ken Wilbers Integral Spirituality

A Startling New Role for Religion in the Modern and Postmodern World
(Hardcover)

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Ken Wilbers Integral Spirituality: Buchbesprechung

Januar 2007 / Michael Habecker

Das Buch gliedert sich in 10 Kapitel und 3 Anhänge.

Die Einführung gibt einen Überblick über den integralen Ansatz, die integrale Landkarte, bestehend aus Quadranten, Ebenen, Linien, Zuständen und Typen, mit einer Anleitung zur konkreten Anwendung in der realen Welt.[1] Für Neueinsteiger ein Überblick in sehr konzentrierterForm, für diejenigen, die mit Wilbers Werk vertraut sind, eine (mehr oder weniger willkommene) Wiederholung.

Kapitel 1, Integral Methodological Pluralismus (IMP), bringt dann etwas Neues, einen Ansatz, der alle Erkenntnismethodiken der Menschheit (wie z. B. Phänomenologie, (Entwicklungs-) Strukturalismus, Hermeneutik, Autopoiesis, Empirizismus, Systemtheorie usw.) in einen Gesamtzusammenhang stellt, wobei die jeweiligen Größen wie auch die Grenzen der unterschiedlichen Methodiken sichtbar werden.

Dieser IMP basiert auf einer Verfeinerung des Modells der vier Quadranten als Perspektiven, und sollte es Wilber mit diesem Ansatz tatsächlich gelingen, die Erkenntnisweisen der Menschheit auf eine im besten Sinne wissenschaftliche Weise darzustellen, dann hätte er so etwas wie den Rosettastein der Erkenntnis gefunden[2]. Weiterhin wäre es dann möglich, daraus eine ?integrale Post-Metaphysik? abzuleiten, die nicht mehr auf metaphysischen Postulaten beruht (was die Religion und Spiritualität insgesamt bei der Moderne und der Postmoderne in Verruf gebracht hat), sondern auf ? wissenschaftlich nachprüfbaren ? Erkenntnissen perspektivischer Wahrnehmungen (ermittelt durch die unterschiedlichen Methodiken des IMP).

Im Kapitel 2, Stages of Consciousness, erläutert Wilber einmal mehr die Entwicklungsstufen des Bewusstseins, diesmal jedoch mit Betonung der Unterscheidung der Bewusstseinsphänomene einerseits, und den Bewusstseinstrukturen andererseits, durch welche die erfahrenen Phänomene interpretiert werden. Dies ist eine der wichtigsten (und neuen) Erkenntnisse im Hinblick auf eine integrale Spiritualität. Die Bewusstseinsstrukturen (wie z.B. archaisch, magisch, mythisch, rational, pluralistisch, integral), mit denen Menschen ihre Erfahrungen (auch ihre spirituellen Erfahrungen) interpretieren, werden z. B. durch Meditation nicht erkannt, (weshalb man sie auch in den Schriften der spirituellen Traditionen nicht findet), sondern erfordern, um wahrgenommen zu werden, einen Perspektivenwechsel. Durch diese Unterscheidung wird es möglich, die bedeutenden Einsichten der spirituellen (und letztlich aller) Erkenntnistraditionen zu würdigen, bei gleichzeitiger Darlegung der Bewusstseinsstrukturen, mit denen sie zum Ausdruck gebracht wurden, welche – aus heutiger Sicht – nicht mehr aktuell sind.

Ein Beispiel: Teresa von Avilas Klassiker Die innere Burg ist nach wie vor hochaktuell und einzigartig in der Beschreibung innerer Phänomene auf dem Weg der Bewusstwerdung durch die Hauptzustände (?Wohnungen? der Burg) des Bewusstseins. Diese authentischen Erfahrungen wurden von Teresa mittels der zu ihrer Zeit und an ihrem Lebensort vorherrschenden mythologischen Bewusstseinsstruktur zum Ausdruck gebracht, und konnten auch gar nicht anderes zum Ausdruck gebracht werden, weil die rationale Bewusstseinsstruktur ? als kollektive Struktur ? erst mit der Aufklärung allgemeine Verbreitung fand, und die pluralistische Struktur erst seit den 60ger Jahren des vorigen Jahrhunderts sich kulturell etablieren konnte. Dennoch finden sich logische Klarheit und universelles Mitgefühl schon bei Teresa, aber die Grundstimmung ihres wundervollen Berichtes ist ? unvermeidlich – durch die mythologische (katholische) Weltanschauung geprägt, die zur Zeit und am Ort ihres Wirkens vorherrschte.

In Kapitel 3 und 4, States of Consciousness und States and Stages unterscheidet Wilber, wie oben schon vorweggenommen, die Strukturen des Bewusstseins von den Zuständen des Bewusstseins, den gefühlten Erfahrungen, und differenziert ? meines Wissens erstmalig überhaupt ? einen Zustandsweg (Entwicklung der erlebten Phänomene) von einem Strukturweg (Entwicklung interpretierender Hintergrundstrukturen). Alle in den spirituellen Traditionen beschriebenen Wege sind praktisch ausnahmslos Zustandswege, von den 7 Wohnungen Teresas bis zu den 10 Ochsenbildern des Zen. Demgegenüber haben die Entwicklungsstrukturalisten der vergangenen 100 Jahre (wie z. B. Jean Gebser, Clare Graves, Laurence Kohlberg) die Entwicklung der Bewusstseinstrukturen beschrieben, durch welche diese authentisch erfahrenen Phänomene beschrieben werden. Die Gegenüberstellung der beiden Wege geschieht in einer rasterähnlichen Darstellung, dem Wilber-Combs Raster, mit der Erkenntnis, dass praktisch alle Zustände der Erleuchtung sich auf praktisch allen Ebenen des Bewusstseins ereignen können, was ein sehr unterschiedliches und sehr differenziertes Bild spiritueller Erfahrungen und Aussagen ermöglicht, und damit auch einen neuen Blick auf die überlieferten Erkenntnisse und Berichte der spirituellen Traditionen erlaubt.

Im 5. Kapitel, Boomeritis Buddhismus, wendet Wilber diese Erkenntnis dann gleich praktisch an, indem er den im Westen verbreiteten Zeitgeist von Boomeritis, einer durch einen Egoismus ?infizierten? pluralistischen Bewusstseinsstruktur, diskutiert, und deutlich macht, wie sehr der Buddhismus unter dieser (unbewussten) Pathologie und Verzerrung zu leiden hat, und was zur Heilung dieser Pathologie zu tun ist (im Wesentlichen das sich Bewusstmachen der unbewussten Strukturen, durch welche man die eigenen – nicht nur – spirituellen Erfahrungen interpretiert).

Damit ist bereits die Überleitung zu Kapitel 6 erfolgt, The Shadow and the Disowned Self, der Bedeutung von Schattenarbeit und Aufarbeitung verdrängter (individueller und kollektiver) Anteile[3]. Kurz gesagt bedeutet dies, dass mit der Praxis von Meditation oder Gebet nicht automatisch auch die eigenen Schattenanteile aufgearbeitet werden, und dass es hierzu einer eigenen psychodynamischen Praxis bedarf ? gewissermaßen einer Versöhnung von Freud und Buddha.

In Kapitel 7, A Miracle Called ?We?, erläutert Wilber die enorme Bedeutung der intersubjektiven Dimension des In-der-Welt-Seins, deren Erkenntnis einen erneuten Perspektivwechsel erfordert, den es so in den spirituellen Traditionen nicht gibt. Die sorgfältige Beschreibung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen einem ?Ich? und einem ?Wir? ist eine der Grundlagen für eine klare Erkenntnis darüber, was es einerseits bedeutet, ein Individuum zu sein, und gleichzeitig ein in Gemeinschaften eingebundenes kulturelles und soziales Wesen.

Nach dieser Erläuterung sowohl der subjektiven (?Ich?) als auch er intersubjektiven (?Wir?) Dimension des In-der-Welt-Seins schließt sich in Kapitel 8, The World of the Terribly Obvious, die Beschreibung der unterschiedlichen Methodiken der objektiven Erkenntnis an ? von Neurophysiologie über Kognitionswissenschaften bis zur Systemtheorie ?, ebenfalls etwas, das in den spirituellen Traditionen so noch nicht zu finden ist, aber für eine integrale Spiritualität wesentlich ist.

Im 9. Kapitel, The Conveyor Belt, kommt Wilber zu der erst einmal überraschenden  Erkenntnis, dass die Religionen der Welt ? wie keine andere Institution ? dazu prädestiniert erscheinen, die Bewusstheit der gesamten Menschheit zu fördern. Weil die Religionen ? wie kaum eine andere Tradition ? die Glaubenssysteme des größten Teils der Menschheit ?bedienen?, (archaisch, magisch, mythisch, rational), können sie die Menschen dort abholen, wo diese sich gerade befinden, und sind so in der Lage ? Wilber verwendet die Analogie eines Förderbandes ? die Menschen durch die Entwicklung der unterschiedlichen Ebenen (und Stationen) des Bewusstseins hindurch zu begleiten (anders als z.B. die Wissenschaft, welche ihre magische und mythische Vergangenheit hinter sich gelassen hat, und jeweils ?nur? den neuesten Stand anbietet). Dies erfordert von den Religionen ihrerseits natürlich auch eine Öffnung hin z.B. zu den Ideen wie sie Wilber mit diesem Buch vorlegt, und eine Weiterentwicklung zu den höheren Ebenen des Bewusstseins.

Kapitel 10,Integral Life Practice, bringt den Leser dann wieder ganz auf die Erde, hin zu dem, was er oder sie persönlich konkret mit den Inhalten einer Integralen Spiritualität anfangen kann, z.B. in Form einer integralen Lebenspraxis.

Appendix I, From the Great Chain of Being to Postmodernism in 3 Easy Steps, führt den  Leser in einer Parforcetour durch die Jahrtausende, vom Erbe der spirituellen Traditionen (der Grossen Kette des Seins) in die Gegenwart und auf den (postmodernen) aktuellen Stand.

In Appendix II, Integral Post-Metaphysics, legt Wilber die Grundlagen einer integralen Post-Metaphysik, und stellt damit die spirituellen (metaphysischen) Traditionen auf ein Fundament, auf dem sie vor der Moderne und der Postmoderne bestehen können, mit der spannenden Einführung einer ?kosmischen Adresse? (= Höhe + Perspektive), mit der es möglich ist, jede Aussage dem Hintergrund ihrer Bewusstseinsentwicklung und ihrer Erkenntnisperspektive (ich, wir oder es) zuzuordnen. Damit werden alle Aussagen von ihrer meta-physischen Lostgelöstheit ?befreit?, und in der Erkenntnisebene und Perspektive ?geerdet?, in der sie ? so weit sich das rekonstruieren lässt ? entstanden sind und formuliert wurden.

Schließlich befasst sich Wilber im Appendix III, The Myth of the Given Lives On…, mit aktuellen Veröffentlichungen bekannter Autoren (und deren Werken) wie z.B. A. H. Almaas, Byron Katie, Fritjof Capra, David R. Hawkins, Daniel Goleman, Ervin Laszlo, Deepak Chopra, What the Bleep Do We Know?, Rupert Sheldrake und Thich Nhat Hahn, und stellt, bei aller Würdigung dieser Autoren fest, dass sie alle ? mehr oder weniger ? noch im Mythos des Gegebenen stecken, d.h. sie geben wunderbare phänomenologische Beschreibungen (nicht nur) spiritueller Erfahrungen, berücksichtigen dabei jedoch nicht die diesen Erfahrungen jeweils zugrundeliegenden interpretierenden Bewusstseinsstrukturen, einschließlich ihrer eigenen. Diese Arbeit und Ergänzung ? so Wilbers Hoffnung ?, kann u.a. auch auf der Grundlage seines neuen Buches nun begonnen werden, zum Wohle einer Spiritualität, die auch und gerade uns modernen und postmodernen Menschen viel zu sagen und zu geben hat, und für ein Gesamtverständnis der Welt unverzichtbar ist.

[1] Wilber spricht, in Anlehnung an eine Computeranalogie, von einem ?Integral Operating System? (IOS), einem Integralen Betriebssystem.

[2] Rudolf Steiner verfolgte ? 100 Jahre früher ? mit seiner Philosophie der Freiheit meines Erachtens ein ähnliches Ziel wie Wilber. Siehe dazu auch meinen Diskussionsbeitrag Die Grundlagen der Erkenntnis bei Rudolf Steiner und Ken Wilber unter der Rubrik ?Integraler Dialog? auf der www.info3.de.

[3] Siehe hierzu auch meine Artikelserie in der Info3: Licht und Schatten, 12/2005, 4/2006 und 6/2006

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