Buchvorstellung des Verlags

Rainer Eggebrecht gibt mit diesem Buch Anregungen, wie es in Zeiten permanenten gesellschaftlichen Wandels und medial verunsichernder Überinformation weiterhin gelingen kann, unser immer komplexeres Leben mit schöpferischer Energie und Lebensfreude sinnvoll zu bewältigen.
In diesem Buch werden wichtige psychologische Sichtweisen verständlich und auf das Wesentliche konzentriert dargestellt und in kleinen Übungen vertieft. Dabei blicken wir über den Tellerrand klassisch psychologischer Forschungsmethoden hinaus in eine lebenswürdige Zukunft, in der wissenschaftliche, psychologische und spirituelle Erkenntnisse integral zusammenwirken.
Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, unterschiedlichste Informationen auf einer individuellen wie kollektiven Ebene zusammenzufügen. Statt zu fragen, welcher Ansatz richtig und welcher falsch ist, berücksichtigen wir aus integraler Sichtweise, dass (fast) jeder Ansatz einen gewissen Wahrheitsaspekt aufweist, dieser aber oftmals einseitig übertrieben wird. Wir versuchen daher zu verstehen, wie diese Teilwahrheiten zusammenpassen und wie wir sie integrieren können, statt uns für eine Sichtweise zu entscheiden und die anderen zu verwerfen.
Wir stehen vor der Aufgabe, uns zu erinnern, dass unser Leben ein kreativer Ausdruck des Lebens als Ganzes ist. Schon die Antike unterschied verschiedene Sichtweisen von Wirklichkeit, die sich gegenseitig bedingen und zusammenwirken:

Das Wahre: Naturwissenschaft, Technik, messbare Daten.
Das Schöne: subjektives Erleben, Psychologie, Spiritualität.
Das Gute: Kultur, Sprache, Weltsicht, Ethik, Moral.
»Ich« (Selbsterleben), »Wir« (Kultur) und »Es« (Wissenschaft) stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander.
Systemische, soziologische und philosophische Facetten ermöglichen zudem ein tieferes integrales Verständnis unserer gesamten menschlichen »Körper-Geist-Seele«-Wirklichkeit.
Integrales Denken: Die Wissenschaft entdeckt zunehmend, dass das Universum verschränkt und verwoben ist auf eine Art und Weise, die wir rational nicht begreifen können. Moderne Astrophysik hat aufgezeigt, dass das Universum nur zu einem Sechstel (16 %) aus Materie besteht.
Fünf Sechstel (84 %) sind »dunkle Materie« (besser wäre: »unsichtbare Materie«!), die sich objektiver wissenschaftlicher Erklärung entzieht. Das Universum und die Wirklichkeit umfassen also wesentlich mehr, als es die materialistische Vorstellung nahelegt.
Es gibt Dimensionen der Wahrheit, die von den Naturwissenschaften nicht berührt werden können. Daher werden wir neben naturwissenschaftlich-quantitativen Methoden zunehmend auch qualitative Sichtweisen mitberücksichtigen. Wir sollten beide Perspektiven gleichzeitig wertschätzen! Wenn wir eine gegenseitige Wechselwirkung zulassen, dann verwerfen wir nicht die Wissenschaft an sich, sondern erweitern ihre Perspektive und erhalten so ein besseres Verständnis der gesamten Wirklichkeit. Damit können wir unserem objektiven Geist, der Daten will, Genüge tun und zugleich unsere subjektiven Erfahrungen von Einheit und ganzheitlicher Wahrnehmung der Wirklichkeit integrieren. Eine solche erweiterte integrale Sichtweise ermöglicht einen Zugang zu Informationen über unsere Wirklichkeit, die wir nicht alleine durch unsere fünf Sinne gewinnen können.
Durch zunehmende Schulung eines Empfindens von Mitgefühl und Verbundenheit mit unseren Mitmenschen, der Natur und dem Kosmos – ohne irgendeine Form von doktrinärer Ideologie –könnten wir bereits in jungen Jahren in der Erziehung und in den Schulen beginnen, eine Haltung zu kreieren, die beide Seiten dieses Verständnisses, das materialistische und das post-materialistische, auf eine wundersame Weise integriert.
Das Grundkonzept dieses Buches basiert auf dieser integral-umfassenden Anwendung.
Besonders betont werden hierbei die Grundhaltungen von Kongruenz, Akzeptanz und Empathie, wie sie von Carl Rogers (humanistische Psychologie) und seinem Nachfolger Eugene Gendlin (Focusing) klar formuliert wurden. Wissenschaftlich-psychologische Erkenntnisse werden im Folgenden in ihren Grundzügen fundiert dargestellt, wobei die qualitativ-verstehende Komponente für die eigene Sinnfindung stets den umfassenderen Rahmen bildet.
Buchauszüge
Auszüge aus Kapitel 13:
Das Ich in der personzentrierten Psychologie: Carl Rogers
In der klientenzentrierten Therapie wird die subjektive Wirklichkeit des Einzelnen empathisch und wertschätzend zurückgespiegelt und wahrnehmungspräzisierend verdichtet. So kann das Ich zunehmend auch abgedrängte, negativ bewertete oder verzerrte Aspekte in sein sich erweiterndes und veränderndes Selbstbild integrieren. Rogers betont in seinem Spätwerk auch Intuition als wichtiges Merkmal. Damit können tiefreichende Wachstums- und Heilungskräfte energetisch zum Tragen kommen.
Eugen Gendlin
Auch er betont das Vertrauen in die eigene Person, in die eigenen Empfindungen und die intuitiven Wahrnehmungsprozesse. Wenn das Ich dieses innere Geschehen in Bezug auf ein gerade anstehendes Thema unmittelbar erlebt, macht es bedeutsame Erfahrungen auf sinnhafte Art und Weise: Verweilt es achtsam-absichtslos bei der inneren Resonanz, kommt es zu einer direkten Bezugnahme mit dem Felt Sense (= gefühlter Sinn). Aus diesem zuerst meist vage und diffusen Erleben können sich sprachliche, bildhafte oder körperliche Bedeutungen entfalten, die ein unmittelbares Gefühl der Stimmigkeit auslösen.
Ich und Ichlosigkeit im spirituellen Sinne
Hat die kognitive Wissenschaft auf der Suche nach dem »Ich« die Grenze immer weiter nach innen verschoben, bis anscheinend gar kein »Innen« mehr übrigblieb (»Das Ich ist nirgendwo«), so kommt die östliche Philosophie zu dem Resultat: »Das Ich ist überall.« Für einen Weisen dürften die beiden Formulierungen jedoch nahezu das Gleiche bedeuten.
Schon im vierten Jahrhundert vor unserer Zeit hat Lao Tse das Ich als eine »Leihgabe des Alls« verstanden, »das kein Besitz ist, sondern eine zeitweilige Übernahme von etwas, das uns mit anderen um, vor und nach uns verbindet«. Indem das Ich nicht mehr reines Individuum sein muss, hat es Anteil am All-Einen.
Am achtzigsten Geburtstag des impressionistischen Malers Claude Monet (1840–1926) kam ein Kameramann aus Paris und wollte ihn fotografieren. Monet antwortete gelassen: »Kommen Sie im nächsten Frühjahr und fotografieren Sie meine Blumen im Garten, die sehen mir ähnlicher als ich.«
Diese gleichsam mystische Antwort zeigt auf, dass transzendente Spiritualität nicht mit Überich-Forderungen oder esoterischen Reinigungsritualen beginnen muss – sondern im staunenden Teil des einen Lebens, das in allem ist.
Auszüge aus Kapitel 14: Spiritualität aus integraler Sicht
Integrale psychologische Berater unterstützen den persönlichen Veränderungsprozess und untersuchen die Methoden, die diesen Prozess ermöglichen und fördern. Psychische Probleme können damit auch in ihrer Sinnhaftigkeit und ihrer spirituellen Dimension wahrgenommen werden und einen Weg zu einer spirituellen Erfahrung jenseits formulierter Meditations- und Glaubenswege öffnen.
Ein transzendenter Wachstumsprozess kann, muss aber nicht unbedingt einen Gott oder eine höhere Macht beinhalten. Viktor Frankls Sinnhaftigkeit, etwas, das über uns hinausweist, das mehr ist als wir selbst, kann in der Familie, in stärkerer Selbstfindung oder im Dienst für andere als spirituell erlebt werden.
Dabei zentrieren wir die Aufmerksamkeit auf das, was der nächste Schritt ist, der notwendig ist, dass sich das entwickeln kann, was gerade ansteht, das, was sich im Moment mit erster Priorität meldet. Damit haben wir im Focusing den passenden Rahmen für eine gesunde Spiritualität vor uns, die sich gleichzeitig innerhalb eines Kontextes gesunder Psychologie entwickelt.
Wir lassen den Klienten immer selbst herausfinden, was für ihn der stimmige nächste Erkenntnisschritt ist und ob eine bestimmte Erfahrung für ihn spirituell ist oder nicht.
Gemeinsamkeiten integraler Psychologie und Spiritualität:
Bedingungslose Wertschätzung – diese Haltung ist auch im Spirituellen grundlegend. Was uns bedrängt, sollten wir schlicht und einfach wahrnehmen, ohne es zu beurteilen.
Spiegeln (verdichtetes Zurücksagen) – eine grundlegende klientenzentrierte Technik – hat auch in der spirituellen Innenschau einen bedeutenden Stellenwert: Der innere Zeuge spiegelt alle Gedanken und Empfindungen zurück, ohne ihnen nachzugehen, ohne sie zurückzuweisen – ganz so, wie ein Spiegel die Dinge, die vor ihm auftauchen, genau zurückspiegelt.
Ich, Selbst und Seele: Das Ich-Konzept der Psychologie wird in der Spiritualität nochmals vertieft und ausgeweitet: Das spirituelle Ich ist dasselbe Ich, das in jedem Neugeborenen erwacht, das Ich, das aus den Augen unserer Vorfahren blickte und das aus den Augen unserer Nachfahren blicken wird. Spiritualität betont also den transpersonalen Aspekt unseres Selbst.
Der Sufi-Meister Alfredo zeigt den spirituellen Weg anschaulich kurz in vier Schritten:
1. Man betet zu Gott.
2. Man betet mit Gott.
3. Man betet in Gott.
4. Man betet nicht mehr – dann ist es Gott, der in dir »betet«.
Eine solchermaßen »Fully functioning integral Person« wird auch die Antworten auf Lebens- und Sinnfragen nicht mehr vorwiegend im sprachlichen Diskurs suchen, sondern diese als tief vorsprachliche Antworten der Seele immer wieder ganzheitlich und neu erfahren.
Spiritualität in der Psychotherapie: Spirituelle Fragen werden in der klassischen Psychoanalyse und in den kognitiven und Verhaltens-therapien oft als Symptom einer psychischen Fehlentwicklung bzw.
als eine die Therapie behindernde Ideologie betrachtet. Humanistische Therapieformen zeigen dagegen eine größere Bereitschaft gegenüber religiöser Spiritualität.
Psychisch gesunde Menschen weisen in ihrer Spiritualität und in ihren Glaubensvollzügen eine größere Reife der Persönlichkeit auf, wodurch sie auf projektive Mechanismen und magische Kontrolle in der Außenwelt weitgehend verzichten können. Gesunde Spiritualität verfügt über ein stabiles Selbstwertgefühl und ein tragfähiges Urvertrauen.
Es gibt gewisse Übereinstimmungen zwischen den Grenzerfahrungen im Spirituellen und dem Beginn einer Psychose, vor allem im Zustand ekstatischer Verzückung. Wichtiges Unterscheidungskriterium ist hierbei die Autonomie und Integrität der Persönlichkeit. So ist im Zen-Buddhismus der »Zen-Koller« bekannt und gefürchtet: Nach oft wochenlangen intensiven Trainingsperioden kommt es immer wieder vor, dass Übende unter einen so großen psychischen Druck geraten, dass sie es nicht mehr aushalten und psychisch dekompensieren. Bei dieser negativen Ich-Auflösung – im Gegensatz zu der angestrebten positiven Ich-Transzendenz – kann es zu verschiedenen Reaktionen kommen, von desorientiertem Weglaufen über psychotische Schübe bis hin zum Selbstmord.
Integrale Berater und Therapeuten benötigen daher ein feines Unterscheidungsvermögen, um die unterschiedlichen Energiefelder wahrzunehmen: Ist eine Depression ein evtl. spiritueller Schritt nach vorne, indem die Wirklichkeit als »göttliche Komödie« erlebt wird, an der man immer weniger teilnimmt – um dann umso freier wieder in sie einzutauchen? Oder eine neurotische Dekompensation im pathologischen Sinne?
Ein wirklich kongruenter Mensch wird auch humorvoll sein. Mit zunehmender Akzeptanz und Empathie weitet sich auch das Spektrum dessen, was wir noch tolerieren und liebevoll belächeln können.
Wolf Schneider (»Auf der Suche nach dem Wesentlichen«) schreibt, wir sollten auch lachen können über Heiliges, über Beängstigendes, vor allem über uns selbst – wer das kann, ist frei von engen Ideologien und Selbstkonzepten.
Ein weiser Mensch wird an seinem entspannten Lachen zu erkennen sein, mit dem er den »kosmischen Witz« unserer Existenz durchschaut. Denn das Leben testet uns immer wieder, ob wir genügend Humor haben, uns als oft komische Figur in dieser »göttlichen Komödie« zu sehen. Wer sich so sehen kann, als »Narr« (Europa) oder als tanzenden Shiva (Indien), ist auch in vielen anderen Dingen gelassener und freier. Der Hofnarr des Mittelalters und der absolutistischen Höfe verkörperte – wie auch der Narr aus dem Tarot und der europäischen Esoterik – den Niemand, den Weisen, der als Einziger alle Wahrheiten – auch die unbequemen – aussprechen durfte. Auch heute noch kann er als Joker im Kartenspiel jeden Platz einnehmen und ist damit die stärkste Karte im Spiel.
Hier noch eine kleine spirituell-ironische Anekdote:
Der Engländer Reshad Feild – der später in London das erste westliche Sufi-Zentrum gründete – folgte in jungen Jahren dem geheimnisvollen Türken Hamid in das Hochland von Anatolien, um sich dort in das Wissen der Derwische einführen zu lassen (R. Feild: »Ich ging den Weg des Derwisch«). Eines Tages begegnete Reshad seinem Meister in einem Café, vor sich eine Flasche Raki auf dem Tisch. Reshad entsetzt: »Meister, Ihr trinkt Alkohol – am helllichten Vormittag!« Der Sufimeister hielt ihm die noch viertelvolle Flasche hin mit der deutlichen Aufforderung: »Trink! Trink sie in einem Zug aus!« Reshad tat verstört, wie ihm geheißen wurde, ging dann angetrunken in sein Hotel, voller Zweifel an sich, an seinem Meister und am ganzen Sufismus. Als er am Abend Hamid wiedertraf, wollte er wissen, warum – um Himmels willen – er den Raki austrinken musste. Hamid lächelnd: »Sag mal, tust du eigentlich alles, was man dir sagt??«
Zeitgemäße Spiritualität erfordert, dass wir uns unser eigenes Leben realistisch vergegenwärtigen. Es bedeutet, sich an den Platz im eigenen Leben zu stellen, an dem man eben steht, mit all seinen Eigenschaften, seiner Geschichte, seinem Sosein, seinem Bewusstsein und einem Aufwachen in diesem Fluss des eigenen Lebens: wie es sich anfühlt, in dieser Zeit, auf diesem Planeten, in dieser Familie, in dieser Kultur geboren zu sein und als Mensch in dieser Form zu leben.Wirkliche spirituell offene Therapie führt zu einer vertieften Wahrnehmungsklarheit und schafft neben der Aufarbeitung individueller Themen einen akzeptierend empathischen Raum für spirituelle Präsenz. Heilung kommt nicht vom Therapeuten und auch nicht vom Guru, sondern immer aus dem Menschen selbst heraus. So bestätigt auch Pater Anselm Grün die Bedeutung, liebevoll in den Körper hineinzuspüren und der eigenen Sehnsucht zu trauen.
Lao-Tse schrieb vor 25 Jahrhunderten über einen guten Führer: „Von einem guten Führer, der wenig darüber spricht, wenn seine Arbeit getan ist und sein Ziel erreicht ist, werden alle sagen: »Wir haben es selbst getan.«“
Autoren-Biogafie
Rainer Eggebrecht ist Gründer und Leiter des »Instituts für integrale Gesprächs- und Focusingtherapie« (igf). Er ist als Therapeut und Supervisor tätig und bildet Trainer, Coaches und Therapeuten in Gesprächstherapie und Wahrnehmungsschulung (Focusing) aus.
Beruflicher Werdegang: Diplom-Studium Soziologie, Psychologie und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, dreijähriges Max-Planck-Stipendium und Promotion zum Dr. phil. (Dissertationsarbeit über interkulturelle Kommunikation).
Therapeutische Qualifikationen: Therapeutenzertifikate in Gesprächstherapie (GwG), Focusing und Focusingtherapie (Eugene Gendlin); sowie Fort- und Weiterbildungen in Psychosynthese, Logotherapie, Psychodrama, systemischer Therapie, u.a.
Berufstätigkeit: Trainings, Supervisionen, Ausbildungen und Coachings an diversen sozialen Einrichtungen, Unternehmen und Instituten, an der BW-Universität Neubiberg, der Evangelischen Stadtakademie München, u.v.a.

Dr. Eggebrecht hat sein Ausbildungskonzept immer methodenoffener weiterentwickelt und vertritt heute eine kritisch-integrale Perspektive. Als offizieller Focusing-Koordinator für Deutschland leitet er Fortbildungen in integralem Denken und Focusing, Achtsamkeitsschulung und Entschei-dungsfindung. Er wurde 2013 in die Liste der »Top Excellent Trainers« (Deutschland, Österreich, Schweiz) aufgenommen. In diesem Buch verbindet er empirisch-wissenschaftliches Denken und geistig-spirituelle Erkenntnissuche zu einer ganzheitlich-integralen Sichtweise, um aktiv zur Förderung eines positiven empathischen Bewusstseins beizutragen.
Hinweis der Online-Redaktion: Diese Buchvorstellung mit Buchauszügen ist aktuell frei zugänglich.