Michael Habecker
Ken Wilber bezeichnet ihn als den “wahrscheinlich größten Psychologen Amerikas” und widmet ihm in Integrale Psychologie im Kapitel 7 Einige wichtige moderne Pioniere” einen eigenen Abschnitt. Dieser Abschnitt beginnt mit den Sätzen:
Von diesen vieren [James Mark Baldwin, Jürgen Habermas, Sri Aurobindo und Abraham Maslow] ist James Mark Baldwin der zentralste, und es kann gut sein, dass die Geschichte ihn einmal als Amerikas größten Psychologen sehen wird. Baldwin, ein Zeitgenosse von James und Peirce, schuf eine integrale Psychologie und Philosophie, deren Weite ihres Horizontes und deren Tiefe man erst jetzt erkennt. Er war der erste Entwicklungspsychologe der modernen Geschichte. Er war der erste, der klar eine Entwicklungsstufe definierte. Er wollte introspektive Phänomenologie und wissenschaftliche evolutionäre Wissenschaftstheorie integrieren. Er glaubte, dass die drei großen Formen der Erfahrung die ästhetische, die moralische und die wissenschaftliche sind (die Großen Drei!), und er erkannte detaillierte Entwicklungsstufen in jedem dieser Bereiche (mit anderen Worten, er war einer der ersten, der Entwicklung in allen Quadranten beobachtete) … (97)
In den Telefondialogen zum Buch Integrale Spiritualität erwähnt Wilber Baldwin bei der Entdeckung der Entwicklungsstrukturen der menschlichen Psyche[1]:
Diese Strukturen können jedoch nur dann gut gesehen werden, wenn man einen Schritt zurücktritt, und Gruppen von Menschen über längere Zeiträume beobachtet, Fragen stellt und schaut, was passiert. Diese evolutionären Studien nahmen ihren Anfang mit den deutschen Idealisten, die damit begannen evolutionäres Bewusstsein zu studieren, und damit meine ich speziell Fichte, Schelling und Hegel. Darwin und Wallace wendeten diese Ideen auf die Biologie an, und der erste große Entwicklungspsychologe war der Amerikaner James Mark Baldwin. Er beschrieb erstmals Bewusstseinsstrukturen …
James Mark Baldwin, einer der Gründer von Entwicklungsstudien, sah die Entwicklungsstufen nicht so starr und streng, nicht nur als ein Zugeständnis an den Postmodernismus, sondern weil Stufen tatsächlich Wahrscheinlichkeitswolken sind, und eine technische Beschreibung sie mehr als Wolken oder Wellen definieren würde, und nicht als Ebenen. Daher zögere ich immer, wenn ich von Leitersprossen spreche, weil das so leicht falsch verstanden wird … James Mark Baldwin hatte 5 oder 6 multiple Intelligenzen [Entwicklungslinien], einschließlich derer, welche diesich auf das Wahre, das Gute und das Schöne beziehen. Er hat Ästhetik mit aufgenommen, kognitive Studien und moralische Entwicklung, und alle diese Linien entwickeln sich bei ihm durch sechs oder sieben Ebenen, bis hin zu etwas, was einem kosmischen Bewusstsein entspricht, und das sind seine Worte: ‚kosmisches Bewusstsein’. Er war ein Genie, doch er wurde, wie auch sein Zeitgenosse William James, durch den Behaviorismus in diesem Land [USA] verdrängt. In seinen letzten Jahren lehrte Baldwin in Paris, und einer seiner Studenten war Jean Piaget. Die Entwicklungsforscher im Gefolge von Piaget und Kohlberg hatten dann jedoch ein besseres Verständnis davon, was Strukturalismus wirklich bedeutet, und wie man Entwicklung weniger starr und streng betrachten kann – Forscher wie Carol Gilligan, Howard Gardner, Robert Kegan, Clare Graves, Kurt Fischer, Jenny Wade …
Wer war oder ist James Mark Baldwin, und worüber hat er geschrieben? Die Suche bei einem großen Internetbuchhändler nach deutschsprachigen Ausgaben seines Werkes verläuft ergebnislos. Die Suche bei einem Internet Antiquariat ergibt einige wenige deutschsprachige Ausgaben, welche jedoch nur antiquarisch (und zu entsprechenden Preisen) erhältlich sind.
Erfreulicherweise hat ein amerikanischer Verlag (Kessinger Publishing) einige der Bücher von Baldwin als Reprints herausgebracht, so dass diese zumindest auf Englisch zugänglich sind. Die Titel sprechen bereits Bände:
- Dictionary Of Philosophy And Psychology
- Fragments in Philosophy and Science Being. Collected Essays and Addresses
- Genetic Theory Of Reality
- Handbook Of Psychology: Feeling And Will
- Handbook Of Psychology: Senses And Intellect
- History Of Psychology, A Sketch And An Interpretation
- Mental Development In The Child And The Race: Methods And Processes
- Social And Ethical Interpretations In Mental Development: A Study In Social Psychology
- The Psychological Review, July 1901
- The Psychological Review, May 1901
- The Story Of The Mind
- Thought And Things: A Study Of The Development And Meaning Of Thought, Or Genetic Logic (1906) V1-3
Wir möchten im Rahmen des Online Journals durch die Besprechung von Teilen seiner Arbeit einen Beitrag leisten, das Werk dieses bedeutenden Autors im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen, und beginnen in dieser Ausgabe mit seinem Buch The Story Of The Mind. Zuvor noch ein paar Daten aus seinem Leben[2].
James Mark Baldwin (* 12. Januar 1861 in Columbia, South Carolina;
† 8.November 1934 in Paris) war ein amerikanischer Philosoph und Psychologe. Er studierte an der Princeton University, u. A. bei dem schottischen Philosophen James McCosh. Er leistete wichtige Beiträge zu den Anfängen der Psychologie, zur Psychiatrie und zur Evolutionstheorie und richtete 1898 das erste psychologische Labor im englischen Sprachraum ein.
Biografie
Baldwin erhielt ein Forschungsstipendium der „Green Fellowship“, das er für einen Studienaufenthalt in Deutschland benutzte (1884–85). Er studierte bei Wilhelm Wundt in Leipzig und bei Friedrich Paulsen in Berlin.
Im Jahr 1885 wurde er Lehrer für Französisch und Deutsch am Priesterseminar in Princeton. In dieser Zeit übersetzte Baldwin “La psychologie allemande contemporaine” von Théodule Ribot in die englische Sprache und verfasste seine erste Veröffentlichung: “The Postulates of a Physiological Psychology”. Die Arbeit führte von den Ursprüngen der Psychologie bei Immanuel Kant über Johann Friedrich Herbart, Gustav Theodor Fechner, Rudolf Hermann Lotze bis zu Wilhelm Wundt.
Während seiner Zeit als Professor für Philosophie am Lake Forest College (1887) heiratete er die Tochter des Seminar-Präsidenten, Helen Hayes Green. Hier veröffentlichte er den ersten Teil seines “Handbook of Psychology (Senses and Intellect)” und verbreitete damit die Ergebnisse der aufkommenden experimentellen Psychologie von Weber, Fechner und Wundt.
Im Jahr 1889 erhielt Baldwin den Lehrstuhl für Logik und Metaphysik an der University of Toronto. Dort gründete er das erste Labor für Experimentelle Psychologie in Kanada, das sein Nachfolger später auf 16 Räume erweiterte. In dieser Zeit wurden seine Töchter Helen (1889) und Elisabeth (1891) geboren. Seine Beobachtungen an den Säuglingen inspirierten ihn zu quantitativen und experimentellen Forschungen über die Entwicklung des Kindes, die er 1894 unter dem Titel “Mental Development in the Child and the Race. Methods and Processes” veröffentlichte. Die Ergebnisse dieser Forschungen hatten nachhaltige Einflüsse auf Jean Piaget und Lawrence Kohlberg.
Der zweite Teil des “Handbook of Psychology (Feeling and Will)” erschien 1891. Seine beiden Handbuchbände standen im Wettbewerb mit William James „Principles of Psychology“ 1890.
Während dieser schaffensreichen Jahre reiste Baldwin 1892 nach Frankreich, um die bedeutenden Psychologen Jean-Martin Charcot vom Hôpital Salpêtrière, Hippolyte Bernheim in Nancy und Pierre Janet zu treffen.
Princeton
Im Jahr 1893 wurde Baldwin auf den Lehrstuhl für Psychologie an der Princeton Universität berufen. Gleichzeitig erhielt er die Möglichkeit, ein neues psychologisches Labor zu gründen. Hier erreichte Baldwin 1903 mit der Veröffentlichung seines Werkes “Social and Ethical Interpretations in Mental Development. A Study in Social Psychology” den Höhepunkt seiner Karriere. Mit dieser Arbeit legte er eine kritische Überarbeitung seiner frühen Veröffentlichung “Mental Development” vor, die den Russischen Psychologen Lev Vygotsky und über dessen Werk auch Alexander Luria stark beeinflusste. Eine Synthese dieser Wirkungskette findet sich schließlich bei Alexej Leontjew.
Baldwin vervollständigte sein psychologisches Werk mit Philosophie, insbesondere mit Erkenntnistheorie, wie er sie 1897 vor der Amerikanischen Psychologen Vereinigung präsentierte. Bei dieser Veranstaltung gab er auch die Arbeit an seinem “Dictionary of Philosophy and Psychology” bekannt. In der Folgezeit hatte er intensive philosophische Korrespondenzen mit den 60 Teilnehmern dieses Projekts, das 1902 abgeschlossen wurde. Ein besonders wichtiger Teilnehmer des Projekts war Conway Lloyd Morgan. Er war vielleicht der einzige, der den sogenannten “Baldwin-Effekt” verstand.
Im Jahr 1899 begleitete und überwachte Baldwin die Herausgabe des “Dictionary” in Oxford. In diesem Zusammenhang wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford verliehen.
Während seiner Zeit in Princeton gründete Baldwin mit J. McKeen Cattell und anderen die Zeitschriften Psychological Review, Psychological Bulletin und Psychological Index.
Auf Grund eines Streits mit dem Präsidenten von Princeton, Woodrow Wilson und wegen eines günstigen Angebots der Johns Hopkins Universität, das bessere Bezahlung und weniger Lehre versprach, wechselte Baldwin 1903 als Professor für Philosophie und Psychologie dort hin. Das hier von Stanley Hall im Jahre 1884 erstmals gegründete Experimentallabor wurde von ihm wieder eröffnet.
In Baltimore begann Baldwin die Arbeit an “Thoughts and Things: A Study of the Development and Meaning of Thought. Or Genetic Logic” (1906, eine kurze Darstellung seiner Ideen, die in ”Genetic Theory of Reality. Being the Outcome of Genetic Logic as Issuing in the Aesthetic Theory of Reality called Pancalism” (1915) zur Reife gelangten.
Seine Karriere in Amerika endete 1908 durch die Verwicklung in einen Sexskandal, der durch die Razzia in einem Bordell herbeigeführt wurde. Baldwin war gezwungen, die Johns Hopkins Universität zu verlassen. Er lebte von jenem Jahr an bis zu seinem Tod in Paris.
Paris
Durch seine Verbundenheit mit Frankreich wuchs bei Baldwin die Überzeugung, Amerika müsse seine neutrale Haltung im Ersten Weltkrieg aufgeben. Deshalb veröffentlichteer 1916 die Schrift “American Neutrality, Its Cause and Cure”. In diesem Jahr überlebte er während einer Schiffsreise zu William Osler einen Deutschen Torpedo-Angriff auf die Sussex im Ärmelkanal und er schickte daraufhin ein offenes Telegramm an den Amerikanischen Präsidenten, das in der New York Times veröffentlicht wurde. Nach dem Kriegseintritt Amerikas im Jahr 1917 wurde Baldwin Vorsitzender der Amerikanischen Marineliga, er übte dieses Amt bis 1922 aus. Im Jahr 1926 erschienen seine Memoiren unter dem Titel “Between Two Wars (1861-1921)”.
Wirkungen
Das bedeutendste theoretische Vermächtnis Baldwins ist sein Konzept der Evolution – der Baldwin-Effekt. Baldwin postulierte gegen Lamarck, dass es einen Mechanismus gibt, der das Genom durch epigenetische Faktoren in gleichem Maße – oder noch stärker – gestaltet als es die natürliche Selektion vermag. Insbesondere über Generationen entstandene und nachhaltige menschliche Verhaltensmuster als Satz kultureller Praktiken sollten mögliche Faktoren sein, die das menschliche Erbgut formen.
Einfluss
Baldwin’s Werk steht inmitten der aktuellen Auseinandersetzungen in der Entwicklungspsychologie und im weiteren Sinne auch der Soziobiologie. Es ist hauptsächlich Robert Wozniak, Professor für Psychologie am Bryn Mawr College zu verdanken, dass James Mark Baldwin für die Ideengeschichte wiederentdeckt wurde. In seinem Buch Integrale Psychologie bezeichnet Ken Wilber Baldwin als einen Vorreiter seiner Theorie einer integralen Psychologie.
Buchbesprechung
James Mark Baldwin The Story Of The Mind, 1898 Kessinger Publishing (reprint)
Ken Wilber bezeichnet ihn als den “wahrscheinlich größten Psychologen Amerikas”, doch außer einigen wenigen antiquarischen Exemplaren gibt es von James Mark Baldwin keine deutschsprachigen Ausgaben am Markt.
Mit dieser ausführlichen Besprechung zu The Story Of The Mind soll ein Eindruck vom Genius dieses Autors vermittelt werden.
Ken Wilber hat meines Erachtens keineswegs übertrieben, wenn er auf die Größe von Baldwin hinweist. Bei der Lektüre von The Story Of The Mind, geschrieben in einer klaren und modernen Sprache, muss man sich immer wieder daran erinnern, dass dieses Buch von der “Geschichte des Geistes” vor über 100 Jahren geschrieben wurde[3]. Man wird auf jeder Seite an die großen Phänomenologen, an die Entwicklungspsychologen, die Psychoanalytiker, die Verhaltensforscher und auch an die modernen Kognitionsbiologen erinnert, und wenn man, wie ich, diese vor Baldwin gelesen hat, dann entsteht manchmal der bizarre Eindruck Baldwin hätte von ihnen abgeschrieben, doch Baldwin war natürlich vor ihnen da, und er ist ihnen allen vorangegangen.
The Story Of The Mind hat folgenden – bereits programmatischen – Inhalt:
I Die Wissenschaft vom Geist – Psychologie
II Was unserem Geist gemeinsam ist – Introspektive Psychologie
III Der Geist des Tieres – vergleichende Psychologie
IV Der Geist des Kindes – die Psychologie des Kindes
V Die Verbindung von Körper und Geist – physiologische Psychologie – Geisteskrankheiten
VI Wie wir den Geist untersuchen – experimentelle Psychologie
VII Beeinflussung [suggestion] und Hypnose
VIII Geistesschulung – die Psychologie der Bildung und Erziehung
IX Der individuelle Geist und die Gesellschaft – soziale Psychologie
X Das Genie und seine Umgebung
Schon die Gliederung bildet wesentliche Elemente des Wilber’schen integralen Ansatzes (AQAL[4]) ab, und man versteht, warum Wilber Baldwin als einen integralen Pionier bezeichnet. Psychologie wird von Baldwin als Geisteswissenschaft gesehen (und nicht auf Materielles reduziert, Kapitel I), und die introspektive Komponente (der obere linke Quadrant) unterstreicht dies in Kapitel II. Kapitel III und IV beschäftigen sich mit dem Entwicklungsaspekt des menschlichen Geistes, und Kapitel V verbindet – als physiologische Psychologie – den Geist mit dem Körper/Gehirn (die beiden oberen Quadranten), und schlägt zwischen beiden eine Brücke. Gleichzeitig wird die Möglichkeit von Störungen und Fehlentwicklungen als Geisteskrankheiten gesehen und angesprochen. Der wissenschaftlichen Untersuchungsmethode des Geistes widmet sich Kapitel VI, und in Abschnitt VII geht es um die Inhalte des Geistes und deren Beeinflussung durch “suggestion” und Hypnose. Erziehung und Bildung, als die herausragenden Methoden zur Geistesschulung, werden in Kapitel VIII besprochen, bevor sich Baldwin in den Abschnitten IX und X den unteren beiden Quadranten zuwendet, den gemeinschaftlichen kulturellen und sozialen Aspekten des menschlichen Geistes.
Zum Vorwort
Gleich im Vorwort macht der Autor klar, dass es ihm nicht um eine abstrakte Theorie geht, sondern dass er bei seinen Lesern eine gewisse “Vertrautheit im Umgang mit dem eigenen Geist [mind][5]” voraussetzt, und stellt damit die eigene Praxis im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand in den Vordergrund. Ebenso wichtig ist ihm ein Hinweis auf die Bedeutung der Evolutionstheorie für den “Geist”, wenn er schreibt:
Ich werde in mehreren Kapiteln die Theorie der Evolution auf den Geist anwenden. Auch wenn ich diese großartige Theorie in diesem Buch selbst nicht besprechen kann, möchte ich darauf hinweisen, dass meiner Meinung nach ihre Anwendung auf den Geist ebenso begründet ist wie die Anwendung in der Biologie, wo sie eine Grundvoraussetzung für eine wissenschaftliche Erklärung darstellt. Ich halte diese Theorie für einen großen Gewinn auch für die Psychologie, sowohl vom Standpunkt eines wissenschaftlichen Wissens, als auch von dem einer philosophischen Theorie. Jede bedeutende Gesetzmäßigkeit, die wir unserem Wissen hinzufügen, verstärkt auch unsere Überzeugung, dass das Universum von Geist durchdrungen ist. Selbst der so genannte Zufall, der als eine Erklärung für die natürliche Selektion verwendet wird, zeigt sich in den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit als eine Abwesenheit von Zufall … Wenn das Universum schwanger ist mit Absicht und Zweck, wie wir das gerne glauben möchten, warum sollte diese Absicht nicht als ein gesetzmäßiger evolutionärer Prozess in Erscheinung treten? (vi)
Damit macht er gleichzeitig klar, dass Materie und Geist für ihn zwar unterschieden, aber nicht zu trennen sind, sondern zusammen gehören.
I Die Wissenschaft vom Geist – Psychologie
“Psychologie ist die Wissenschaft vom Geist”, so beginnt das erste Kapitel des Buches. Wissenschaft bringt “Wahrheiten” hervor, und eine dieser Wahrheiten ist, dass
der Geist nicht allein zum Menschen gehört, sondern dass andere Wesen ihn auch besitzen … Ein großer Bereich der Psychologie beschäftigt sich mit dieser Fragestellung, und verfolgt die Entwicklung des Geistes in den Tieren und im Kind, und entdeckt dabei die Stufen dessen, was man ‚Evolution’ nennt.” ”. (1)
Was Baldwin unter Wissenschaft versteht, erläutert er auch gleich zu Beginn:
Es ist die Regel der Wissenschaft, Annahmen nur dann zu machen, wenn sie auf faktischen Gegebenheiten beruhen … Jede Wissenschaft hat ihre Untersuchungsmethoden undVerfahrensvorschriften, die viel genauer sind als das allgemeine Hörensagen oder der “gesunde Menschenverstand” … ‚Hier sind meine Ergebnisse, du kannst sie überprüfen, in dem du die gleiche Methodik anwendest, die ich angewandt habe. (2)
Bemerkenswert ist, wie Baldwin – wir sind im Jahre 1898 –, schon eine Innen- und eine Außenseite des Bewusstseins unterscheidet. Er spricht dabei von “introspektiver Psychologie”, bzw. “experimenteller” oder “physiologischer Psychologie”:
In der Erfüllung dieser Forderung [nach einem wissenschaftlichen Vorgehen] kennt der Psychologe zwei Vorgehensweisen. Er ist in der Lage den Geist auf zwei allgemeine Weisen zu untersuchen, die jedem in einem wissenschaftlichen Vorgehen ausreichend Geübten in die Lage versetzt, diese zu wiederholen und so die Ergebnisse zu bestätigen. Eine dieser Methoden ist die Introspektion. Sie besteht darin, den eigenen Geist wahrzunehmen, mit all dem, was darin stattfindet; Emotionen, Erinnerungen, Assoziationen usw., und all dies zu beschreiben. Andere können diese Beobachtungen bei sich anstellen und so die gemachten Erfahrungen überprüfen und vergleichen. Das Ergebnis derartiger Untersuchungen ist ein Wissen, welches man “introspektive Psychologie” nennt … Der andere Weg besteht darin, den Geist eines anderen Menschen zu erfahren. Wir können auf unsere Freunde und Nachbarn unterschiedlich einwirken, und sie zum Fühlen, Denken, Zurückweisen usw. bringen, und dabei beobachten, wie sie reagieren. Dieses zweite Vorgehen liefert uns Ergebnisse, die wir den zwei Überschriften “experimentelle” bzw. physiologische Psychologie” zuordnen können. (3)
Diese drei Überbegriffe erinnern sehr stark an die entsprechenden Zonen in Wilbers Methodenpluralismus: Introspektive Psychologie ist Zone 1 (bzw. kollektiv die Zone 3), wo es um Inhalte des Bewusstseins geht. Experimentelle Psychologie entspricht Zone 2 (bzw. kollektiv Zone 4), bei der es um Strukturen des Bewusstseins geht, und physiologische Psychologie ist die Verhaltensbeobachtung der Zone 6 (oder die der Kognitionsbiologie, Zone 5).
In einer Zusammenfassung des Buches stellt Baldwin die weiteren Kapitel vor. Er unterscheidet gesunden und pathologischen Geist (“Abnormale Psychologie”), und ordnet “Variationen” des Geistes unterschiedlichen Typologien zu (“Individuelle oder Variationspsychologie”). Des Weiteren spricht er von der Bedeutung der Geistesschulung durch Bildung und Erziehung (“Pädagogische Psychologie”) und weist auf die kollektiven Aspekte einer “Rassenpsychologie” bzw. einer “Sozialpsychologie” hin.
Dies ist auf eine beeindruckende Weise ein integrales Vorgehen:
Wir haben somit eine ziemlich vollständige Vorstellung dessen, was eine “Story Of The Mind” umfassen muss. Viele Menschen verbringen ihr Leben mit einer oder zwei dieser großen Fragen. Doch erst wenn wir die Ergebnisse all dieser Untersuchungen zusammenbringen, in einer integralen [consistent] Sichtweise dieses wundervollen Dinges, das wir Geist nennen, werden wir etwas darüber herausfinden. Wir müssen uns den Geist vorstellen als etwas, was wächst und sich entwickelt, mit aufsteigenden evolutionären Stufen schon bei den Tieren und beim Kind. Der Geist zeigt uns sein Wesen mit jeder Veränderung in unserem alltäglichen Leben, die wir erfahren und einander berichten, oder wofür uns auch manchmal die Worte fehlen. Geist ist auch Entdeckungs- und Untersuchungsgegenstand in den Laboratorien, wo er seine Spuren in den Gerätschaften der Wissenschaftler hinterlässt … Geist zeigt sich auch in der Entwicklung der Menschheit, von den ersten Versuchen des Feuermachens, den ersten Schutzmassnahmen, den ersten Inschriften, bis hin zu den modernen Erfindungen der Elektrizität und komplexen Regierungsinstitutionen. Er zeigt sich weiterhin in der klassischen Literatur und auch in den brutalen Aktivitäten eines Mob und den Verbrechen einer Lynchjustiz … (6)
II Was unserem Geist gemeinsam ist – Introspektive Psychologie
Ausgangspunkt einer Story Of The Mind sind für Baldwin die Inhalte des menschlichen Bewusstseins und deren Untersuchung durch eine “Introspektive Psychologie”.
Von all den Quellen, aus denen der Psychologe schöpfen kann, ist die so genannte introspektive Psychologie – also dasjenige, was sich in unserem Bewusstseins ereignet – die wichtigste. Dies ist aus zwei unterschiedlichen Gründen so und unterscheidet die Psychologie von anderen Wissenschaften. Nur durch die Methode einer introspektiven Psychologie können wir den Geist unmittelbar untersuchen und erfahren das, was sich in ihm in unmittelbarer Reinheit abspielt. Jeder von uns kennt sich selbst besser als irgendjemand anderen. Dieser Bereich, in dem sich jeder von uns mit seinem eigenen Bewusstsein aus erster Hand beschäftigt, ist zuverlässiger und fehlerfreier als alle anderen Bereiche, innerhalb derer wir im Rahmen einer Psychologie des Individuums andere Menschen untersuchen. Der zweite Grund besteht darin, das alle anderen Bereiche der Psychologie – und mit ihnen auch alle anderen Wissenschaften – bei allen Ergebnissen, welche sie durch andere Methoden erlangen, sich letztendlich auf die Introspektion stützen müssen. So können beispielsweise der Naturwissenschaftler, der Botaniker, oder der Physiker und derjenige, welcher die Elektrizität untersucht, Pflanzen oder elektrischen Strom, nicht ohne Verwendung der eigenen Introspektion untersuchen, welche diesen anderen Untersuchungen voraus geht. (8)
Nach dieser grundlegenden Feststellung, welche die Erkenntnis der Postmoderne vorweg nimmt, dass alle Erkenntnis immer auch durch das sie wahrnehmende Individuum mit-konstruiert ist (was eine umfassende Theorie der Psychologie zu berücksichtigen hätte), klassifiziert Baldwin die Bewusstseinsinhalte in unterschiedliche Kategorien wie “Denken und Verhalten” [thought and conduct] oder “Wissen und Leben”, wo der Geist entweder mehr nach innen oder mehr nach außen orientiert ist. Weiterhin unterscheidet er von diesen das Fühlen. Baldwin erkennt bereits unterschiedliche Entwicklungslinien innerhalb der menschlichen Psyche, die sich auch unterschiedlich entwickeln können.
Wir sprechen davon dass ein Mensch viel Wissen, aber wenig Gefühl hat, einen Kopf, aber kein Herz; oder dass er das Richtige weiß und fühlt, aber nicht danach lebt. (10)
Ausgangspunkt unserer Psychologie ist das, was wir durch unsere Sinne wahrnehmen.
Alles, was wir wissen, alle unsere Meinungen, Vorstellungen hängen absolut von dem ab, was uns unsere Sinne zu Beginn an Material liefern…. Dies ist die wesentliche Funktion der Wahrnehmung [Sensation]: das Material zur Verfügung zu stellen, mit dem der Verstand dann weiterarbeiten kann. (10)
Die unterschiedlichen Prozesse und Funktionen der Weiterverarbeitung erläutert Baldwin dann anhand der Begriffe von Erinnerung [Memory], Assoziation, Denken, Vernunft, und spricht dabei von “unterschiedlichen ‚Fähigkeiten’ der Seele”. Wie aus den Sinneseinzelwahrnehmungen eine bewusste Wahrnehmung [Apperception] wird, erläutert Baldwin am Beispiel der Wahrnehmung einer Orange durch ein Kind.
Bewusste Wahrnehmung ist das Prinzip mentaler Aktivitäten, bei dem Erfahrungseindrücke empfangen und verarbeitet werden. (13)
Baldwin zeigt sich in seinen Schilderungen als aufmerksamer Phänomenologe, aber auch als früher Strukturalist, der erkennt, dass sich in der Psyche Muster, Strukturen und Gewohnheiten bilden, die einen enormen Einfluss ausüben. Damit verweist er auf die Bedeutung der Entwicklungshistorie der Psyche.
Die vorübergehenden mentalen Zustände werden oft mit einem Strom verglichen, der ununterbrochen von Augenblick zu Augenblick kontinuierlich vorbeiströmt. Wir können daher niemals sagen, “Ich vergesse die Vergangenheit und fange ganz neu an, unbeeinflusst von meiner Geschichte.” So sehr wir uns das auch wünschen mögen, es ist uns nicht möglich. Dieser stattfindende Bewusstseinsstrom ist das, worauf wir uns als uns selbst beziehen, und wir können dabei die damit verbundenen Erinnerungen, Erwartungen, Enttäuschungen usw. vermeiden, die aus unserer Vergangenheit resultieren … Ein kleines Kind beispielsweise, nachdem es gelernt hat das Gesicht eines Menschen zu zeichnen, mit zwei Augen, Nase, Mund und zwei Ohren an jeder Seite, wird, wenn es gebeten wird ein Profil zu zeichnen, vorerst weiterhin zwei Augen und zwei Ohren darin malen. Die Strömung des aus der Erinnerung stammenden Gewohnheitsmäßigen wirkt in die Gegenwart, und dem kann man nicht entkommen” (14)
Baldwin fasst zusammen:
Wir finden in der allgemeinen Psychologie drei große Prinzipien ihrer Untersuchung und ihres Wissens. Zum einen die verbindenden Tendenzen des Geistes, das Zusammenstellen und in Beziehung Setzen mentaler Zustände und Dinge, was wir bewusste Wahrnehmung nennen. Zweitens gibt es bestimmte Beziehungen, die sich zwischen den unterschiedlichen Zuständen bilden, und die miteinander kombiniert werden; dies sind Assoziationen von Vorstellungen. Drittens gibt es die Tendenz des Geistes, alte Erfahrungen und Gewohnheiten als generelle Muster oder Netzwerke zur Sortierung und Bereitstellung von Informationen für das tägliche Leben zu verwenden, und das nennen wir Assimilation. (16)
Baldwin kommt dann, nach dem Wahrnehmungsaspekt, auf den Handlungsaspekt zu sprechen.
Wie gelangen wir von diesem oder jenem Gedanken zu dieser oder jener Handlung? Die einzige Antwort darauf ist: Weil wir auf die gleiche Weise handeln wie wir fühlen. Wir werden also wieder auf unser Bewusstsein verwiesen und müssen uns fragen, wie eine bestimmte Aktion zu einem bestimmten Gedanken in unserem Bewusstsein in Beziehung steht. (16)
Dabei spielt der Begriff einer motorischen Beeinflussung [6]
[motor suggestion] eine wichtige Rolle. Baldwins folgende Sätze wurden noch vor dem Durchbruch der Massenmedien geschrieben, und sind heute im Hinblick auf eine geistige (Medien)Praxis aktueller denn je:
Wir können den Einfluss unserer eigenen Gedanken auf unsere Handlungen nicht vermeiden … So beeinflussen und stimulieren beispielsweise der Zeitungsnachrichten über Verbrechen andere Menschen auf eine suggestive Weise, diese Verbrechen auch zu begehen; das Lesen des Berichtes verursacht bestimmte Gedanken in uns, und diese Gedanken tendieren dazu, in uns entsprechende Aktionsformen hervorzurufen. (17)
Das Denken in Entwicklungskategorien wird bei Baldwin deutlich, wenn er vom “abstrakten Denken” als ein “nächsthöheren Sphäre” spricht. Dies erinnert an die Unterscheidung zwischen konkret operationalem und abstrakt operationalem Denken seines Schülers Piaget. In Bezug auf diesen höheren Bereich erläutert Baldwin die Bewusstseinsfunktionen von Motiv und Willen, und zeigt bereits schon die Grenzen eines freien Willens auf.
Absichtliche Handlung oder Wille ist daher lediglich ein komplexer und sehr bewusster Fall des allgemeinen Gesetzes einer motorischen Beeinflussung; es ist die Form einer sich anbietenden [suggested] Aktion, bei der die bewusste Wahrnehmung auf ihrer höchsten Stufe ist. (19)
Nach einer Erörterung des kinästhetischen Erlebensmodus, “in unserem Geist befindet sich etwas Äquivalentes zu unseren Bewegungserfahrungen, … wobei Kinästhetik das Gefühl von Bewegung meint”, kommt Baldwin auf das Gefühl selbst zu sprechen.
Durch Introspektion finden wir eine weitere große Klasse von Erfahrungen, die wir machen, etwas, was den Geist von einer bloßen Theaterbühne bezugsloser Veränderungen in einen vitalen, interessierten, warmen und intimen Gegenstand unseres mentalen Lebens verwandelt. Dies ist der Bereich des Fühlens … Wir sind keine gleichgültigen Betrachter dieses Spiels eines Kommen und Gehens, wie sind unmittelbar davon Betroffene. Das Empfinden eines Selbst, eines Ego, eines mir-und-meins in jedem Bewusstsein resultiert aus der Tatsache, dass alles Kommen und Gehen persönliches Wachstum bedeutet … Dies ist die große Bedeutung des Fühlens; es ist der Geistessinn, der im Guten und Schlechten von dem beeinflusst wird, was in ihm vorgeht. Er steht zwischen Denken und Handeln. Wir fühlen bezogen auf das, was wir denken, und wir handeln, weil wir fühlen. Jede Handlung wird durch Gefühle gesteuert. (21)
Die Entwicklung unseres Gefühlslebens beschreibt Baldwin anhand zweier Entwicklungsstufen, der von Empfindung und Wahrnehmung, wo das Suchen von Angenehmem und das Vermeiden von Unangenehmem im Vordergrund steht, hin zur Ebene des Denkens, der Erinnerung und der Vorstellung, mit sehr viel differenzierteren Möglichkeiten der Wahrnehmung und des Ausdrucks, von Hoffnung und Verzweiflung, Freude und Trauer, Bedauern und Erwartung, bis hin zu einer “höchsten Manifestation des Fühlens” die Baldwin mit dem Wort “sentiment” bezeichnet. Er differenziert dabei schon unterschiedliche Wahrnehmungssphären.
Der Gedanke an Gott ermöglichst ein religiöses Empfinden [sentiment], der Gedanke an das Gute ermöglicht ein ethisch-moralisches Empfinden, und der Gedanke an das Schöne ermöglichst ein ästhetisches Empfinden. (23)
III Der Geist des Tieres – vergleichende Psychologie
Baldwin macht in einer Zeit der industriellen Technisierung und Ökonomisierung des allgemeinen Lebens klar, dass Tiere für ihn, ebenso wie Menschen, empfindende Wesen sind[7].
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das Schöpfungsgeschenk des Geistes auch die Tiere erhalten haben. Diese Einsicht setzt sich erst allmählich durch. Unter den Lehren einer dualistischen Philosophie und einer eifersüchtigen Geisteswissenschaft wurde das Tier als eine seelenlose Maschine, ein bloßer Automat betrachtet … Diese Sichtweise wurde aus zwei Gründen aufgegeben, was die Erkenntnisdisziplin der Tierpsychologie ermöglichte … Dereine Grund war das Auftauchen der Evolutionstheorie, die lehrt, dass es keinen kompletten Bruch zwischen dem Menschen und den höheren Tieren gibt, was die geistigen Fähigkeiten betrifft, und dass die Unterschiede dabei sich durch die Gesetze mentaler Entwicklung erklären lassen. Der zweite Grund ist, dass durch die Weiterentwicklung der Wissenschaften des menschlichen Geistes sich immer mehr zeigt, dass der Mensch mehr einer Maschine gleicht, als man das vorher gedacht hat. Der Mensch wächst und entwickelt sich nach unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten. Dieser Vorgang wird beeinflusst durch die Umgebung, in der der Mensch lebt, sowohl physisch als auch sozial; sein Geist ist ein Teil des natürlichen Systems der Dinge. (24)
Baldwin erläutert dann mit Beispielen die Prinzipien von Instinkt, Imitation, Variation, Assoziation, Experiment, Generalisierung, Assimilation, und Gewohnheit, und wendet auch das Prinzip von Intelligenz auch auf Tiere an.
Wo immer wir feststellen, dass ein Tier etwas tut, indem es sich auf ein mentales Bild bezieht, und dabei in irgendeiner Form auf Wissen und Erfahrung zurückgreift, sprechen wir von einer intelligenten Handlung. (37)
Er stellt auch Vergleiche zur menschlichen Entwicklung her.
Die Tendenz zur Verallgemeinerung, d. h. Objekte in Klassen einzuordnen und sie gleich zu behandeln nimmt beim Tier die Form einer Zusammenführung oder sogar Vereinheitlichung neuronaler Gehirnbahnen an. Das Tier ist strikt an seine Erfahrung gebunden. Es kann sich keine Vorstellung davon machen, was geschehen wird. Es verwendet keine seiner Erfahrungen als ein Symbol, welches sich auf zukünftige Dinge oder Ereignisse anwenden lässt. Es ist in gewisser Weise passiv; Stimuli treffen ein, und zwingen es zu bestimmten Haltungen und Reaktionen. So weit dieses Wissen “verallgemeinert” ist, wird es ein Rezept genannt … Im Menschen jedoch ist diese Entwicklung einen entscheidenden Schritt weiter gegangen. Das Kind lernt sehr schnell Symbole zu verwenden, mit Worten als den ersten wichtigen Symbolen. Es muss nicht, wie das Tier, auf weitere Erlebnisse warten, mit den daraus resultierenden Erfahrungen; es wendet sich möglichem Neuen zu, erwartet Ähnlichkeiten mit bereits gemachten Erfahrungen, und kann so durch Vorwegnahme entsprechend handeln … Das Kind hat Konzepte, während das Tier Rezepte hat. Damit einher geht die Entwicklung der Sprache, welche einige Psychologen als die Quelle der Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Tier betrachten. Worte werden zu Symbolen sehr abstrakter Klassen von Erfahrungen, und, darüber hinaus ermöglicht Sprache soziale Kommunikation, durch welche die Entwicklung des Individuums sich enorm beschleunigt. (41)
Bei dieser Entwicklung unterscheidet Baldwin zwischen individueller innerlicher und äußerlicher Entwicklung, den beiden oberen Quadranten bei Wilber:
Die Entwicklung der Fähigkeiten des Denkens und der Vernunft usw. machen den Menschen einzigartig. Auf der Seite des Gehirns erfordert das die Entwicklung spezieller Gehirnbereiche, welche die Sprachfunktionen ermöglichen, und auch eine Weiterentwicklung der grauen Gehirnmasse des cerebralen Kortex. (42)
Er weist dann noch auf einen weiteren zentralen Unterschied zwischen Tier und Mensch hin:
Die Tiere haben wahrscheinlich kein sehr hoch organisiertes Selbstempfinden [sense of Self] so wie der Mensch. Der Grund dafür liegt zweifellos darin, dass eine derartiges Selbst-Bewusstsein das Ergebnis eines Lebens und der Erfahrungen sehr komplexer sozialer Beziehungen ist, in denen das Kind aufwächst … (42)
Interessant ist auch Baldwins Behandlung des Themas Spiel im Hinblick auf die Entwicklung beim Tier und beim Menschen:
Psychologisch ist eine der interessantesten Charakteristiken des Spiels beim Tier und beim Menschen der “Als-ob”-Geisteszustand, in den man dabei eintritt. Wenn wir unseren Sport als ein Beispiel nehmen, dann stellen wir fest, dass wenn wir uns mitten in einem Spiel befinden, unser Bewusstsein gewissermaßen geteilt ist. Wir spielen das Spiel nach seinen Regeln, wie sie auch sein mögen, so als wenn es sich um eine reale Situation handeln würde, und sind uns dabei gleichzeitig der Tatsache bewusst, dass es sich um ein Spiel handelt. Wir unterschieden also Spiel und Wirklichkeit, doch wir treffen gleichzeitig mit unseren Spielpartnern die Vereinbarung, das Spiel während seiner Dauer so ernst zu nehmen, als wenn es real wäre … Der Hund spielt damit in die Hand seines Herrchens zu beißen, und nimmt sie zwischen die Zähne, doch er beisst nicht wirklich dabei zu, sondern durchläuft eine Reihe charakteristischer Haltungen, die zeigen, dass der Hund sehr klar zwischen dem spielerischen Zubeißen und dem wirklichen Zubeißen unterscheiden kann. (45)
Baldwin diskutiert unterschiedliche Theorien seiner Zeit zum Thema Spiel, in dem Versuch diese zu integrieren.
Auf der psychologischen Seite finden wir, dass der Geist des jungen Tieres oder Kindes die wichtigsten erzieherischen Impulse seines frühen Lebens durch die Spielsituationen erhält. Spiele haben einen außergewöhnlichen pädagogischen Einfluss. (50)
IV Der Geist des Kindes – die Psychologie des Kindes
Weit davon entfernt, Kinder lediglich als Untersuchungsobjekte zu sehen, betont Baldwin die Bedeutung eines wissenschaftlichen Vorgehens zur Erkenntnisgewinnung auch für die Geistesentwicklung.
Die Untersuchung des Kindes durch wissenschaftliche Methoden bringt in die Psychologie ein Verfahren ein, welches die Naturwissenschaften revolutioniert hat, und welches dazu bestimmt ist die ethischen Wissenschaften [moral sciences] zu revolutionieren, in dem sie diese in eine umfassendere Naturwissenschaft einbezieht. Die neue und wichtige Frage im Hinblick auf den Geist ist: Wie ist er gewachsen? Wie können wir seine Aktivitäten und sein Wesen verstehen, durch das Wissen über seine frühen Entwicklungsstufen und sein Wachstum? Dies führt uns augenblicklich zu einer anderen Frage: Wie verhält sich die Entwicklung des Kindes zu der des Tieres? – und wie, durch seine Herkunft und soziale Einflüsse, steht dies im Verhältnis zum Wachstum der Rasse und der Familie und der Gesellschaft, in der das Kind aufwuchs? All dies kann nur durch die Lehre der Evolution verstanden werden, welche die Wissenschaft vom Leben [sciences of life] einer Verjüngungskur unterzogen hat, und wir sind jetzt dabei etwas Ähnliches für die Wissenschaften des Geistes [sciences of mind] zu erleben. (54)
Baldwin erläutert das Vorgehen zur Untersuchung der kindlichen Entwicklung und der damit verbundenen generellen Problematik, von äußerlich sichtbarem Verhalten auf innerliche Vorgänge zu schließen.
Der einzige Weg den Geist eines Kindes zu studieren ist der über den Ausdruck des Kindes, seinen Gesichtsausdruck, seine Lautäußerungen, seine Stimme, seine Bewegungen. Der ersten Frage dabei “was hat das Kind getan?” muss sogleich die zweite Frage folgen, und zwar “was bedeutet das, was das Kind getan hat?” Die zweite Frage ist dabei die schwierigere Frage, und sie erfordert mehr Wissen und Einsicht. Es ist offensichtlich, dass je weiter sich das Kind von einfachem angeborenem Verhalten und den ersten Reflexen weiter entwickelt, desto komplizierter wird dieser Vorgang und die Schwierigkeit der Analyse und des Erkennens der mentalen Zustände, die sich hinter den Äußerungen verbergen. (61)
An konkreten Beispielen wie der Farbwahrnehmung, der räumlichen Wahrnehmung und der Ausbildung der Händigkeit (rechts- oder linkshändig) erläutert Baldwin die wissenschaftliche Vorgehensweise. Danach wendet er sich der allgemeinen mentalen kindlichen Entwicklung zu, und liefert erneut ein Beispiel für seine Fähigkeit das Wissen seiner Zeit zusammenzufassen.
Die tatsächliche Entwicklung des Kindes, so wie wir sie aus verschiedenen Quellen kennen, kann wie folgt zusammen gefasst werden. Es ist wahrscheinlich so, dass das früheste Bewusstsein in einer Ansammlung von Berührung und muskulären Empfindungen besteht, die teilweise schon vor der Geburt erfahren werden. Kurz nach der Geburt beginnt das Kind damit seine Eindrücke miteinander zu verbinden und sich an sie zu erinnern. Doch sowohl das Erinnerungsvermögen als auch die Fähigkeit zur Verbindung sind noch sehr schwach ausgebildet, und hängen von einer intensiven Stimulation ab, wie hellem Licht, lauten Geräuschen usw … Sein gesamtes Leben bis etwa zum vierten Lebensmonat dreht sich um organismische und vegetative Bedürfnisse. In den ersten drei Monaten vergisst das Kind seine Mutter oder Amme nach nur wenigen Tagen. Aufmerksamkeit [attention] beginnt sich am Ende der ersten drei Lebensmonate zu zeigen, zuerst als ein reiner Reflex … Neben Licht und Geräuschen reagiert das Kind auch schon sehr früh auf Bewegungen, und der Übergang von einer rein reflexiven Aufmerksamkeit hin zu einem ersten vagen Interesse scheint sich zuerst im Zusammenhang mit Bewegungen der Menschen um es herum zu zeigen. (76)
Baldwin setzt diese Schilderungen fort, bis hin zum Beginn des Empfindens eines Ichs bzw. einer Persönlichkeit.
Ich glaube, dass diese Unterscheidungen zwischen Personen und Dingen, zwischen Handelnden [agencies] und Objekten der allererste Schritt des Kindes ist hin zu einem Erleben von Persönlichkeit … Mit dem ersten Beginn eines Erlebens von Persönlichkeit finden wir auch den Beginn des Erkennens verschiedener Persönlichkeiten. Es ist klar, dass das Erleben einer anderen Person im Bewusstsein des Kindes, wie alle anderen Assoziationen auch, von Wiederholung und Regelmäßigkeit abhängt. (81)
Im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Selbstbewusstseins erläutert Baldwin auch den Erwerb eines Sozialempfindens, und fasst die Entwicklung, die zur Bildung eines Persönlichkeitserlebens führt, in 4 Schritten wie folgt zusammen:
1. Eine einfache Unterscheidung zwischen Personen und Dingen auf der Grundlage von bestimmten Schmerz-Bewegung-Lust-Erfahrungen. 2. Ein Empfinden von der Unregelmäßigkeit und Launenhaftigkeit des Verhaltens dieser Personen und deren persönlicher Agenz. 3. Nur vage empfundene, aber im Verhalten des Kindes gegenüber den persönlichen Charakteren unterschiedlicher Personen sich widerspiegelnde Differenzierungen. 4. Nachdem das Empfinden einer eigenen Agenz beim Kind durch den Prozess der Imitation aufgetaucht ist, bekommt das Kind eine wirkliche Selbstbewusstheit und ein Sozialempfinden. (87)
Die ersten Schritte der Ausbildung dieses Sozialbewusstseins, bei dem der Vorgang der Nachahmung wieder eine wichtige Rolle spielt, werden wie folgt beschrieben:
Indem das Kind andere nachahmt, versteht es sie immer mehr. Durch das Tun der gleichen Handlungen mit den anderen entdeckt es, was diese dabei fühlen, was ihre Motive dabei sind, und wie sie sich dabei verhalten … Durch die Imitation seines Vaters hat das Kind jetzt [im Beispiel] entdeckt, was in seinem Geist vorgegangen ist, den Schmerz und seine Motive für eine Handlung. (88)
Das Kind befindet sich immer mehr in einem “sozialen Kreis”, und
ist jetzt “für sich selbst ein Handelnder [agent] mit den Eigenschaften einer Person und eines Selbst. Es versteht jetzt von innen her all die persönlichen Eindrücke. Wenn es jetzt andere Menschen etwas tun sieht, ist dies nicht mehr nur “projektiv” – einfach nur da draußen, in der Außenwelt; es ist jetzt zu etwas “Subjektivem” geworden. Dies ist das, was wir mit Selbst-Bewusstheit bezeichnen. Es ist dem Kind nicht angeboren, sondern wird von ihm im Laufe seiner Entwicklung erlangt … So geht das unser Leben lang. Unser Selbstempfinden verändert sich laufend, und wird laufend bereichert, von Tag zu Tag sind wir ein anderes Selbst. (89)
Dabei spielt die Entdeckung anderer “Subjekte” eine entscheidende Rolle.
Wenn das Kind durch Nachahmung eine Handlung aufgenommen hat und dabei herausfindet, dass Persönlichkeit eine Innenseite hat, was mehr ist als der reine physische Körper, dann überträgt das Kind diese Erfahrung auch auf andere Menschen. Es sagt sich: “auch mein kleiner Bruder muss in sich ein Empfinden eines Ich [agency] haben wie ich auch. Auch er handelt durch Nachahmung, auch er empfindet Lust und Schmerz; er findet mich sympathisch, so wie ich ihn auch. Das gilt für alle Menschen, mit denen ich bisher vertraut geworden bin. Sie sind daher alle “Subjekte” so wie ich – und das ist mehr als lediglich etwas im Außen Wahrgenommenes [‚projects’] (90)
Die Entstehung eines Wir-Erlebens beschriebt Baldwin unter der Überschrift Das soziale und ethische Erleben [The social and Ethical Sense] mit folgenden Worten:
Wir können nun erkennen, was ein soziales Erleben ist. Es ist das Gefühl einer realen Identität, das in einem Kind oder Erwachsenen auftaucht, und seinen Ursprung in der Vorstellung hat, einem Gefühl aller möglich Selbst-Vorstellungen wie deines Selbst [yourself], meines Selbst [myself], oder das Selbst von irgendjemand anderem. Die Bindung zwischen dir und mir ist nicht künstlich. Sie ist so natürlich wie die Erkenntnis einer persönlichen Individualität. Dieser grundlegenden Tatsache wird Gewalt angetan, wenn die Sozialwissenschaften sagen, dass das Individuum natürlicherweise sich oder seine Interessen separiert von den Selbsten oder Interessen anderer. Im Gegenteil, das Individuum ist von Anfang an durch die Gesetze seines Wachstums mit anderen verbunden. Seine sozialen Handlungen und Gefühle sind etwas ganz Natürliches … Darüber hinaus entwickelt sich sein Empfinden von dem, was richtig und falsch ist, sein ethisches Empfinden, mit dem Empfinden sozialer Bindungen. (91)
Unter der Überschrift Wie Kinder beobachtet werden können, speziell ihre Nachahmung erläutert Baldwin dann konkret die Art und Weise, wie man zu Erkenntnissen der kindlichen Psychologie gelangen kann. Er zeigt sich dabei als einfühlsamer Beobachter, der, wie später auch sein Schüler Piaget, durch die Beobachtung seiner eigenen Kinder zu Aussagen kommt. Dabei warnt er vor einer “isolierten” Beobachtung.
Es ist ein sehr großer Fehler, Kinder [um sie besser beobachten zu können] zu isolieren … Gebt ihnen viele Spielgefährten und bringt Abwechslung in ihr Leben; Abwechslung ist die Seele der Einzigartigkeit und ihre einzige Quelle. (93)
Er beschreibt sehr klar das, was unter der Bezeichnung “Internalisierung” eine feste psychologische Größe ist, und zwar dass Kinder ihre Eltern oder Bezugspersonen in sich aufnehmen und diese “kopieren”, als ein Vor-Bild zur Lebensbewältigung. Dabei spielt die spielerische Nachahmung eine wichtige Rolle.
Hier in diesem Spiel erkennen wir, wie unsere Kinder Gebrauch machen von dem Material, das sie sich von dir und mir “kopiert” haben. Studiert und analysiert man diese Spiele geduldig bei seinen eigenen Kindern, erkennt man, wie im Bewusstsein des Kindes mehr und mehr ein Bild des eigenen Vaters auftaucht. Das Kind möchte so sein wie er, es verallgemeinert das, was er tut und wendet diese Handlungen selbst an … was wir ihm [dem Kind] geben, ist alles, was es bekommt. Vererbung endet nicht mit der Geburt, sondern beginnt dort erst … (95)
Am Beispiel seiner Töchter Helen und Elisabeth beschreibt und analysiert Baldwin ausführlich eine Spielsituation eines Mutter-Tochter Spiels, und schließt mit einer Empfehlung, die vor dem Hintergrund der heutigen Diskussion um Bildung und Erziehung immer noch aktuell ist:
Lassen sie mich zum Abschluss eine Empfehlung an alle Eltern aussprechen, die sich [für derartige Untersuchungen] interessieren. Eltern können nur dann eine psychologische Arbeit unterstützen – mal ganz abgesehen von dem Schaden, den sie Kindern zufügen können –, wenn sie ihre Kinder durch und durch kennen. Dies sage ich speziell an die Adresse der Väter gerichtet. Väter sind gut darin, alles Mögliche zu studieren. Sie sind mit jeder Ecke ihres Hauses gut vertraut, mit Ausnahme des Kinderzimmers. Ein Mann arbeitet für seine Kinder zehn Stunden am Tag, er schließt eine Lebensversicherung ab, um sie auch noch nach seinem Tod zu unterstützen, doch wenn es um ihre geistige Entwicklung geht, ihre Charakterbildung, die Evolution ihrer Persönlichkeit, dann erfolgt diese durch die Internalisierung [absorption] gewöhnlicher, vulgärer und oft wechselnder Aufsichtspersonen! Plato sagte, dass der Staat die Kinder erziehen sollte, und fügte hinzu, dass die weisesten Menschen den Staat leiten sollten. Das bedeutet nichts anderes, als dass die weisesten Menschen sich um die Kinder kümmern sollten. (100)
V Die Verbindung von Körper und Geist – physiologische Psychologie – Geisteskrankheiten
In diesem Kapitel schlägt Baldwin die Brücke zwischen Geist und Körper, zwischen Psyche und Soma, zwischen Bewusstsein und Gehirn, und nimmt damit vieles von dem vorweg, was sich heute als Neurophänomenologie oder Kognitionswissenschaft als eine eigenständige Erkenntnisdisziplin herausgebildet hat. Dabei ist für Baldwin klar, dass sich das eine nicht auf das andere reduzieren lässt. Diese “experimentelle Psychologie” skizziert er wie folgt:
Wir können durch Veränderungen im Körper Veränderungen im Geist bewirken, und zwar auf eine andere Weise als durch die normalen Sinneskanäle. Dies geschieht beispielsweise, wenn wir zu viel Tee oder Kaffee trinken, von großen Mengen von Alkohol oder anderen, giftigen Substanzen einmal abgesehen. Alle methodischen Mittel, durch die der Psychologe Wirkungen verursacht, in dem er die Funktionsweise des Körpers beeinflusst, gehören zur physiologischen Psychologie. (102)
Nach einer Beschreibung unterschiedlicher Methoden dieser “experimentellen Psychologie” seiner Zeit weist Baldwin noch einmal auf die Wechselseitigkeit von Geist und Gehirn hin, stellt sich damit gegen die Verabsolutierung jeweils einer Seite, und weist auch auf die Grenzen der Erkenntnisse seiner Zeit:
Die komplexeren Verwirrungen des Geistes, Wahnvorstellungen, Manien, Phobien kann ich an dieser Stelle nicht beschreiben. Zudem sind ihre Ursachen noch sehr im Dunkeln. Für den Psychologen gibt es jedoch bestimmte grundlegende Prinzipien, die auf Fakten basieren, die ich wie folgt zusammenfassen möchte: Alle mentalen Störungen sind auch Störungen des Gehirns, und können nur dadurch geheilt werden, dass auch das Gehirn geheilt wird. Daraus folgt natürlich nicht, dass in bestimmten Fällen nicht auch psychologische Interventionen wie Beeinflussung, Erwartungshaltungen, Glaube usw. helfen können, sofern sie sachkundig angewendet werden; was angestrebt werden sollte, ist sowohl eine physische als auch eine geistige Heilung. Der Psychologe weiß so gut wie nichts über die Gesetzmäßigkeiten des Einflusses des Geistes auf den Körper. (120)
Es ist beeindruckend, wie Baldwin die Probleme einer einseitig geistigen Heilung erkennt. Schon zu seiner Zeit gab es Bewegungen wie die heutige New Age Medizin, die alle Krankheitsursachen allein im Geist suchten und fanden, und sie auch allein durch den Geist beheben wollten (“Denke dich gesund”).
Die christliche Wissenschaft [christian science], spirituelle Heilung usw. tendieren dazu, die übliche medizinische Behandlung zu verneinen, sie zu diskreditieren, und sie werden so zu einer Gefahr für die öffentliche Gesundheit. Darüber hinaus führt dies zu einem hysterischen Subjektivismus, der ein gesundes Urteilsvermögen zerstört und den Realitätsbezug auflöst, den die moderne Wissenschaft in jahrzehntelanger Arbeit erarbeitet hat … Eltern, die ihre Kinderunter der Behandlung eines “Heilers der christlichen Wissenschaft” sterben lassen, handeln ebenso kriminell wie Eltern, die Kinder durch eine bestimmt Diät verhungern lassen … Lassen wir den Heiler heilen, was er oder sie heilen kann, aber lassen wir ihn nicht auf Leben und Tod experimentieren mit der Leichtgläubigkeit und dem Aberglauben von Menschen, die der Meinung sind, ein “Doktor” wäre so gut wie jeder andere. (120)
Baldwin weist erneut auf den Entwicklungsprozess sowohl bei Krankheit als auch bei Genesung hin.
Es ist interessant zu sehen, dass der Verlust von Geistesfähigkeiten in der Umkehr ihres Erwerbs erfolgt. Die komplexesten Geistesfunktionen, die am spätesten erlangt wurden, sind die, die [im Krankheitsfall] zuerst verloren gehen … Die Gesundung des Patienten zeigt die gleiche Stufenfolge, jetzt wieder in umgekehrter Reihenfolge. Sie folgt der Ordnung nach, in welcher die Fähigkeiten erlangt werden, ein Vorgang den die Ärzte mit Re-Evolution bezeichnen. (121)
VI Wie wir den Geist untersuchen – experimentelle Psychologie
In diesem Abschnitt erläutert Baldwin experimentelle Methoden zur Untersuchung von Bewusstsein und Geist. Dazu gehören Versuche zur Temperaturwahrnehmung, Experimente zur Reaktionszeit, optische Täuschungen, Erinnerungsvermögen und Beeinflussung. In einer bemerkenswerten Textstelle betont er die Bedeutung von Untersuchungen an einer Vielzahl von Menschen, um strukturelle psychologische Merkmale, die auf den Menschen allgemein zutreffen, festzustellen, und zeichnet dabei den Weg des (Entwicklungs)Strukturalismus vor.
Sehr oft besteht die einzige Möglichkeit Wahrheiten über ein Individuum festzustellen darin, eine größere Anzahl von Individuen zu untersuchen. Bei großen Klassen von Dingen, speziell wenn es sich dabei um Lebewesen handelt, gibt es große individuelle Unterschiede, und oft können dabei diese individuellen Variationen so groß sein, dass sie die wirkliche Natur des Allgemeinen verdecken … Dies ist die statistische Methode, sie kommt bei vielen praktischen Fragestellungen wie der Berechnung einer Lebensversicherungen zum Einsatz, aber ihre Anwendung auf die Tatsachen des Lebens, des Geistes, der Variationen, der Evolution usw. hat gerade erst begonnen. Sie in der Psychologie zu vernachlässigen ist eines der großen Mängel vieler derzeitiger Arbeiten. (143)
Baldwin beendet das Kapitel mit den Worten:
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sie [die experimentelle Psychologie] viele interessante Beiträge für unser Verständnis vom Geist liefern kann, und mit immer größerer Verfeinerung ihrer Methodiken und Anwendungen kann sie zur Grundlage einer Erkenntnisdisziplin werden, die zwischen den Naturwissenschaften und den Humanwissenschaften liegt, da sie Merkmale von beiden hat. Ihre Ergebnisse werden auch zu besseren Ergebnissen für die Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung führen. (147)
VII Beeinflussung [suggestion] bei Kindern und Erwachsenen – Hypnose
Den Begriff “suggestion” definiert Baldwin wie folgt:
Mit Beeinflussung meinen wir, dass alle Arten von äußeren Einflüssen die Überzeugungen und Handlungen des Individuums beeinflussen und stören. (148)
Bei seiner Beschreibung dieser Intervention beginnt Baldwin wieder – entwicklungsorientiert – bei der Geburt.
Physiologische Beeinflussung – Die Beobachtung eines Säuglings in den ersten Wochen oder Monaten nach der Geburt führt zur Überzeugung, dass sein Leben überwiegend physiologisch ist. (148)
Er beschreibt dann weiter, wie eine Kinderschwester durch einfache körperliche Handhabungen erste physiologische Konditionierungen setzt, um das Kind beim Einschlafen zu unterstützen. Unter der Überschrift Unterbewusste Beeinflussung bei Erwachsenen erörtert Baldwin dann Beeinflussungen durch Melodien, Auto-Suggestion, Sinnsensibilisierung, Kontrolle, und Gegenbeeinflussung (“das Gegenteil von dem zu tun, was einem nahegelegt wird”), und hypnotische Beeinflussung. Letztere erläutert Baldwin ausführlich, und geht auf zwei unterschiedliche Theorien zur Hypnose seiner Zeit von Charcot und Bernheim ein.
VIII Geistesschulung – die Psychologie der Bildung und Erziehung
Was wäre eine Untersuchung des menschlichen Geistes ohne einen Blick darauf, was mit den Ergebnissen derartiger Untersuchungen anzufangen wäre? Eine naheliegende Anwendung ist die von Bildung und Erziehung, als Möglichkeiten Menschen in ihrer geistigen Entwicklung zu unterstützen. Dies macht Baldwin in diesem Abschnitt seines Buches. Er unterscheidet dabei unterschiedliche Entwicklungsperioden und auch Typologien (extrovertiert und introvertiert – “Diese erste Unterscheidung bei Kindern ist die, dass manche aktiver oder beweglicher sind, und andere passiver oder empfänglicher”), und gibt eine Fülle von genauen Beobachtungen und praktischen Hinweisen. Das Wesen von Bildung und Erziehung sowie Entwicklung allgemein kennzeichnet Baldwin als die Bildung von “Gewohnheiten” [habits]; “alle Erziehung ist Bildung von Gewohnheiten”, und damit meint er sowohl innerlich-psychologische wie auch äußerlich-verhaltensorientierte Gewohnheiten. Psycho-somatische Betrachtungsweisen sind für Baldwin ebenso selbstverständlich wie die Betrachtung des Individuellen und des Kollektiven.
Der Grund dafür, warum ein Mensch motorisch ist, ist der, dass sein Geist sich leicht mit Erinnerungen oder Bildern von Zuckungen, Spannungen, Kontraktionen oder Ausdehnungen der Aktivitäten seines muskulären Systems füllt. Er ist ein motorischer Typ, weil sein innerer Gedankenstrom sich mit muskulären Wahrnehmungen oder Erinnerungsspuren davon beschäftigt. Die Art und Weise, wie dieser Mensch sich an Situationen, Ereignisse oder Pflichten erinnert, ist nicht die, wie diese Ereignisse ausgesehen haben oder sich angehört haben oder gerochen, gefühlt oder geschmeckt haben … sondern das Erinnerungsvermögen speist sich aus dem, wie sich sein Handeln in einer früheren Situation angefühlt hat. Diese Menschen haben die Tendenz, eine Tendenz die mehr und mehr hervortritt, das, was ihnen begegnet, muskulär in sich abzubilden. (179)
An anderer Stelle weist er bei visuell orientierten Kindern bei Sehstörungen sowohl auf die körperliche wie auch auf die psychische Seite hin, und auch auf Umweltfaktoren.
Baldwin widmet sich den unterschiedlichen Unterrichtsdisziplinen, wie beispielsweise dem Erlernen von Sprachen, und setzt sich kritisch mit dem Lateinunterricht auseinander.
Wie kann es gerechtfertigt werden, 10 oder 12 Jahre lang die Zeit eines Jugendlichen dem Studium einer toten Sprache zu widmen? … Bei diesem trockenen Sprachstudium trocknet das Interesse des Schülers völlig aus. Er wird mit Formeln und Regeln überfüttert, und es gibt keinen Raum für Kreativität und Entdeckungen. Lange Listen von Ausnahmen der Regeln zerstören die Überbleibsel seiner Neugier und seines Ansporns. Jedes analogische Denken wird strikt untersagt, er befindet sich von der Außenwelt abgeschlossen in einem Raum ohne Fenster. Sein Wörterbuch ist die absolute und endgültige Autorität für ihn, und ist ebenso flach und steril. Sein Fleiß wird mehr gezwungen als dass er sich spontan entwickeln kann, und das führt mental und physisch zu einer gebückten Haltung und zu Kurzsichtigkeit. Dies scheint einer der Fehler der Vergangenheit zu sein, verankert in Traditionen und Rivalitäten der Gesellschaftsklassen, bei denen wir die Gesundheit einer Gesellschaft auf eine künstliche Weise mit der Aufrechterhaltung des Bestehenden identifizieren. Doch es gibt keinen Grund, warum man sich dem Geist [spirit] der klassischen Kultur und der über ihre Zeit hinausragenden Elemente des griechischen und römischen Lebens nicht auch, und sogar besser, überdas Studium von Geschichte, Archäologie und Literatur aneignen könnte. Diese Art des Einpaukens von Spracherwerb ist kein Literaturstudium. Nicht ein einziger von hundert Schülern, der zu einem derartigen Spracherwerb gezwungen wird, erhält dadurch Einsicht in ästhetische Qualitäten oder erlangt irgendeine Art von Inspiration. (198)
Bei alle dem bleibt Baldwin ein leidenschaftlicher Vertreter des wissenschaftlichen Prinzips, doch Wissenschaft ist für Baldwin sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaft, und damit ist er weit all denjenigen voraus, die zu und nach seiner Zeit versucht haben, die Naturwissenschaften als die Wissenschaften zu erklären, unter Abwertung der Geisteswissenschaften[8].
Warum sollte man Vermutungen anstellen? Warum sollte man sich mit irgendeinem Eindruck schon zufrieden stellen? Warum auf irgendeine Art von “Sicherheit über dies oder jenes” verweisen, wenn diese “Sicherheit” in Wahrheit eine Unsicherheit ist? Dinge, die Wert sind aufgeschrieben zu werden, sollten so formuliert werden, dass sie klar verstanden werden können. Warum sich mit den persönlichen Reaktionen individueller Gefühle zufrieden geben? Unserer Jugend muss gesagt werden, dass bloße Vermutungen unmoralisch sind, dass Hypothesen der Diener der Forschung sein müssen, dass private Eindrücke ungeeignet sind andere zu unterrichten, dass Vorahnungen meist falsch sind, dass Wissenschaft das beste Gegenmittel bei Angst vor Geistern ist, und dass die Antwort, “ich vermute mal” ein Selbstbetrug ist, egal ob sie aus Wagemut, Feigheit oder literarischer Finesse formuliert wird! Ich denke, dass das, was wir wirklich für unser Leben brauchen, Ehrlichkeit ist, und dass das Bollwerk der Ehrlichkeit in Bildung und Erziehung aus dem exakten Wissen einer wissenschaftlichen Geisteshaltung besteht und darüber hinaus, dass das größte Hindernis demgegenüber die Unterlassung des Trainings der Fähigkeiten ist, das Wirkliche vom Vagen und Schattenhaften zu unterscheiden. (199)
IX Der individuelle Geist und die Gesellschaft – soziale Psychologie
Für Baldwin gehören individuelle und soziale Entwicklung zusammen. Diesen Zusammenhang erläutert er im 9. Kapitel seines Buches.
Eine Reihe von Fragen tauchen auf, wenn wir das Individuum als ein Mitglied einer Gesellschaft betrachten. Diese Fragestellungen behandelt die allgemeine Theorie von der sozialen Herkunft [Social Heredity] … Die soziale Herkunft ist all das, was ein Mann oder eine Frau als die akkumulierte Weisheit einer Gesellschaft vermittelt bekommt – alles das, was in den zurückliegenden Zeitaltern von Generation zu Generation weitergereicht wurde – die Literatur, die Künste, die sozialen Gewohnheiten und Regeln, die Erfahrung sozialer Krankheiten, das Umgehen mit Verbrechen, die Lösung von Spannungen, die Bildung und Erziehung der Jugend, die Versorgung der Alten. Alles dasjenige, wie auch immer es beschrieben wurde, was wir Heutigen unseren Vorfahren verdanken und auch unseren Eltern, deren Fürsorge uns vielleicht immer noch umgibt. Ihre Kämpfe haben uns unsere Freiheiten gebracht; so wird es uns gesagt, und wir treten das Erbe ihrer Gedanken, ihrer Weisheit und ihres Heldentums an. Dies ist wahr, das ist das, was wir tun. Wir alle atmen eine soziale Atmosphäre ein, und unser Wachstum ist dieses Einatmen der Traditionen und Beispiele der Vergangenheit. (200)
Doch dieser Prozess der Sozialisierung gelingt nicht immer. Damit stellt sich die soziale Frage einer jeden Gesellschaft, und Baldwin erinnert an
…die armen Menschen, welche dieses Erbe nicht mit uns teilen können. Diese Menschen bevölkern unsere Asyle, Besserungsanstalten, unsere Gefängnisse und Strafanstalten … Gesellschaften in ihrem weitesten Sinn besteht so aus zwei Klassen von Menschen – Menschen, die im Besitz des Erbes sind, und denjenigen, die es durch Geburt oder Verhalten verwirkt haben. (202)
Eine Nichteilhabe am Erbe einer Gesellschaft “durch Geburt” wäre ein rigides Kastensystem, bei dem die unteren Kasten von Geburt an chancenlos wären bei der Teilhabe bestimmter gesellschaftlicher Möglichkeiten. Mit einer für unser heutiges sensitiv-pluralistisches Empfinden ungewohnten unverblümten Sprache spricht Baldwin von einer sozialen “natürlichen Selektion”:
… in der organischen Evolution haben wir die natürliche Selektion des Angepassten [Darwins survival of the fittest]; im sozialen Fortschreiten finden wir die soziale Unterdrückung des nicht Angepassten. (204)
Baldwin behält dabei immer die Entwicklungsperspektive bei, und betont die Berücksichtigung der Entwicklungsstufe einer Gesellschaft bei ihrer Beurteilung:
Gesellschaft ist im Wesentlichen etwas Wachsenden und sich Entwickelndes. Veränderungen und Unterschiede bestehen zwischen den Zeitaltern und Ländern. Die Griechen hatten ihre sozialen Bedingungen und die Römer hatten andere. Auch das, was als kriminell betrachtet wurde, war unterschiedlich. In den niederen Stufen der Zivilisation können Dinge als normal betrachtet werden, welche in unseren Zeiten als rückständig bezeichnet werden würden. Dies macht es notwendig, dass der Beurteilungsmaßstab für eine Gesellschaft sich an dieser Gesellschaft [und ihrer Entwicklungsstufe] orientieren sollte, und verbietet es uns, allgemeine Maßstäbe aufzustellen. (206)
Erneut weist Baldwin in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Lernens hin:
Wir können daher sagen, dass der Mensch zum Lernen geboren sein muss, um ein erfolgreiches soziales Leben führen zu können. Diese Notwendigkeit des Lernens von Geburt an ist essentiell. Sprache ist die erste große soziale Funktion, die wir lernen müssen, und mit ihr alle Varianten verbaler Fähigkeiten – Lesen und Schreiben. Dies führt uns zur ganz großen Methode allen Lernens – die der Nachahmung. Um zu einem sozialen Wesen zu werden muss der Mensch nachahmen, nachahmen, und nachahmen. Er muss durch seine Handlungen die Formen, Konventionen, Anforderungen und Kooperationen seiner sozialen Gruppe lernen. Alles ist Lernen; dieses Lernen geschieht jedoch nicht isoliert und durch Zufall, sonder unter der Führung der sozialen Bedingungen, die den Menschen umgeben. (207)
Baldwin beschreibt schon das – wie Ken Wilber es nennt – “Wunder eines Wir”, und verwendet dafür den Begriff “Zeitgeist”:
Dort wächst und entsteht, in all dem Geben und Nehmen, in all dem Austausch und der gegenseitigen Beeinflussung um dich, mich und andere herum ein merkwürdiges Empfinden eines sozialen Verstehens unter uns allgemein – ein Zeitgeist, eine Atmosphäre, ein Geschmack oder auch nur ein Stil. Es ist ein sehr seltsames Ding, dieser soziale Geist [spirit]. Man versteht ihn am besten, wenn man in eine Umgebung gelangt, die anders ist. Das Bild vom “Fisch im Wasser” [der so sehr in das Wasser eingebettet ist, dass er das Wasser nicht kennt] ist hierfür ein gebräuchlicher Begriff. (208)
Ein weiteres wichtiges Element eines sozialen Erlebens und Empfindens sind die Wertevorstellungen einer Gesellschaft, auf die Baldwin eingeht.
Die Verbundenheit der Selbstwahrnehmung und der Fremdwahrnehmung in einem Wir beschreibt Baldwin mit folgenden Worten:
Seine Gedanken über sich selbst sind eine Interpretation seiner Gedanken über andere, und seine Gedanken über andere sind ein Ergebnis eines Anpassungsprozesses hinsichtlich seiner Vorstellungen eines Selbst (210)
Baldwin fasst zusammen:
Dies ist die Lehre der sozialen Herkunft: sie illustriert die Seite der Konformität, der persönlichen Einwilligung und Fügung des Individuums in die Regeln des sozialen Lebens. (211)
Hat Baldwin im Abschnitt 9 die zwei großen Entwicklungsebenen der Prä-Konventionalität und der Konventionalität beschrieben, mit dem Schritt der Sozialisierung, der aus einem nur auf sich selbst bezogenem Individuum ein soziales Wesen macht, lenkt er die Aufmerksamkeit im folgenden Kapitel auf Menschen, die er Genies nennt, und die in ihrer persönlichen Entwicklung dem sozialen Bewusstseinsschwerpunkt vorauseilen und diesbezüglich trans-konventionell sind[9].
Über eine weitere, gleichermaßen bedeutende Seite des Menschen, seine persönliche Initiative und seinen gesellschaftlichen Einfluss betreffend, sprechen wir im folgenden Kapitel. Soziale Herkunft betont Nachahmung; das Genie, über das wir jetzt sprechen werden, steht für Entdeckung und Erfindung.
X Das Genie und seine Umgebung
Die Fakten, das Genie betreffend, scheinen uns zu sagen, dass es außergewöhnlich ist und eine Klasse für sich darstellt. Die normalen Standards der Sterblichen sind voller Bewunderung ihm oder ihr gegenüber. Die Literatur darüber füllt die Regale unserer Bibliotheken … (211)
Baldwin stellt die Frage, warum das trans-konventionelle Genie, weil es ja die Grenzen der Normalität sprengt, dennoch kein gesellschaftlicher Außenseiter sein muss (im Unterschied zum prä-konventionellen Außenseiter), und erläutert dies wie folgt:
Er ist zu allererst ein Mensch von großer Gedankenkraft [power of thought], und einem großen “gestalterischen Vorstellungsvermögen” [constructive imagination], wie die Psychologen sagen. Gehen wir also davon aus, dass ein Genie ein Mensch ist, der von Zeit zu Zeit größere Gedanken hat als andere Menschen. Ist dies ein Grund ihn aus der Gesellschaft auszuschließen? Sicherlich nicht … (214)
Erneut bringt Baldwin den Entwicklungsaspekt ins Spiel und auf den Punkt[10]:
Dies ist, wovon alle Entwicklung abhängt, dieses Erreichen von etwas Neuem, welches das ältere Wissen bewahrt und es doch ergänzt und darüber hinausgeht. Doch nehmen wir an ein Mensch hat Ideen, die nicht wahr sind, die nicht das halten, was sie versprechen, die im Widerspruch stehen zu bestehendem Wissen …, diesen Menschen bezeichnen wir nicht als Genie sondern als Spinner, Agitator, Anarchist oder sonst wie. Der Test, der diese Unterschiede im menschlichen Geist aufzeigt [echtes Genie oder Spinner], ist der der Wahrheit und praktischen Anwendbarkeit – in einem Wort des “Passens” [fitness]. Jeglicher Gedanke, der leben und keimen möchte, muss passen, und das Gemeinschaftsempfinden dieses Passens eines Gedankens führt zu seiner Beurteilung durch die Gemeinschaft … Das Empfinden von Wahrheit durch eine Gemeinschaft ist gleichzeitig auch das Prüfkriterium für die Gemeinschaft. Wenn die [neuen] Gedanken eines Sozialreformers nicht auf irgendeine Weise auch zu dem passen, was das Ergebnis der bisherigen sozialen Entwicklung ist, dann ist er kein Genie, sondern ein Spinner. (215)
Das Thema, das Baldwin hier ausführt, hat nichts von seiner Aktualität verloren, im Gegenteil. Er betont dabei stark den Teil des Bewahrens und Aufnehmens desjenigen bei einer jeden Entwicklung, was bisher gewachsen und entstanden ist. Ohne Würdigung des Bisherigen lässt sich nichts Neues darauf aufbauen[11]. Alle großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts, von Hitler über Mao bis Pol Pot, waren keine wirklichen Reformer, sondern “Spinner”, weil sie nicht das Bestehende würdigten, sondern durch ihre spezielle Ideologie alles Gewachsene zerstörten, und so millionenfaches Leid verursachten. Und natürlich gab und gibt es auch wirkliche Reformer, die jedoch, wenngleich sie auf Bestehendem aufzubauen versuchten, dennoch von “ihrer” Gesellschaft entweder nicht erkannt, als verrückt abgestempelt, oder sogar in die Psychiatrie gesteckt wurden. Auch darauf weist Baldwin hin.
Ohne den Konsens der Gesellschaft sind die Gedanken unseres Helden,sei es ein Genie oder ein Dummkopf, praktisch wertlos. Die Zeit muss dafür reif sein. Ein Genie vor seiner Zeit wird als solches nicht erkannt. Seine Gedanken mögen großartig sein, so großartig. dass Gesellschaften Jahrhunderte später dies als tiefgründige Ergebnisse und Intuitionen betrachten; doch vorher erkennt man darin nur sinnlose und bizarre Fantasien eines Verrückten. (216)
Damit rückt erneut das kulturelle und soziale Umfeld für die Entwicklung des Individuums in den Vordergrund:
Der Mensch ist immer auch das Ergebnis der sozialen Verhältnisse. Die Aufnahme, die er erhält, ist ein Maß, inwieweit er diese Bewegung angemessen repräsentiert. Bestimmte Variationen sind möglich – Menschen, die dem Legitimationsprozess der Gesellschaft voraus sind, und diese Menschen sind die wahren und einzigen Genies. (217)
Diese sozialen Prägungen durchdringen das gesamte individuelle Leben:
Wer ist frei von den sozialen Bedingungen bei der Wahl seiner Braut? (218)
Baldwin bildet dabei, wenn er vom Sozialen spricht, exakt die beiden unteren Quadranten von Wilbers 4 Quadranten Modell ab, mit der wichtigen Unterscheidung des innerlich kulturellen und des äußerlich-systemischen, in dem er von “Beurteilung” [judgement] und “Passen” [fitness] spricht. Die Beurteilung ist der gemeinschaftlich-innerlich-kulturelle Aspekt eines Wir, das Passen der systemisch äußerliche.
Die Sozialisierungsleistung von Gesellschaften formuliert Baldwin wie folgt:
Soziale Entwicklung reduziert Exzentrisches, und nivelliert persönliche Besonderheiten. Alle, die in Berührung mit einem sozialen Erbe kommen, durchlaufen die gleiche große Serie von Lektionen der Vergangenheit, und alle erhalten dabei die gleiche Art von Urteilsvermögen, die für das soziale Leben notwendig ist, zu Hause, in der Schule, und im weiteren Verlauf ihres Bildungsweges. (223)
In einem Satz fasst Baldwin das zentrale Thema seines Zeitgenossen Freud zusammen:
Hier liegt die Quelle von Konflikten – der Kampf zwischen Impulsen und sozialen Beschränkungen. (223)
Auf den Unterschied zwischen einem prä-konventionellen und einen trans-konventionellem Außenseiter kommt Baldwin immer wieder zurück:
Der Spinner, der Exzentriker, der Enthusiast – sie alle reiben sich am gesunden sozialen Urteilvermögen; das Genie jedoch führt die Gesellschaft zu seinem eigenen Gesichtspunkt hin und interpretiert die gesellschaftliche Bewegung derart angemessen, einfühlend und mit großer Einsicht, so dass Kraft seiner Persönlichkeit seine Inspirationen besser aufgenommen werden können. Kommen dann noch eine große Initiativkraft und konstruktives Denken hinzu, dann haben wir unser Genie, unseren Helden, jemanden, den wir wirklich verehren können! … Er muss vielleicht auf seine Anerkennung warten, vielleicht wird er auch eingesperrt, vielleicht wird er auch mundtot gemacht. Er mag sterben und mit ihm die Wahrheit, die er still zur Welt gebracht hat. Doch die Welt folgt ihm, in einem langsamen Prozess, auf dem Weg, den er vorausgegangen ist, seine Gedanken werden exhumiert, aufgeschrieben und zu neuem Leben erweckt. (225)
Das Buch schließt mit den Worten:
Zu wissen, dass die größten Menschen der Erde Menschen sind, die wie ich denken, nur tiefgründiger, und sehen, wie ich auch sehe, nur klarer, und für die gleichen Ziele wie ich arbeiten, nur schneller, und der Menschheit dienen wie ich auch, nur besser – das mag ein Ansporn für meine Bescheidenheit sein, doch es ist auch eine Inspiration für mein Leben. (232)
[1] Im Rahmen von Wilbers integralem Methodenpluralismus ist dies die Zone 2.
[2] Quelle: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/James_Mark_Baldwin
[3] The Story Of The Mind erscheint ein Jahr vor Freuds erstem Buch ”Die Traumdeutung”.
[4] AQAL: alle Quadranten, alle Ebenen, alle Linien, alle Zustände, alle Typen.
[5] Das englische “mind” wird in dieser Besprechung, sofern nicht anders angegeben, mit dem Wort “Geist” übersetzt.
[6] Den Begriff “suggestion” verwendet Baldwin im Sinne von dem, was sich im Bewusstsein anbietet oder auch aufdrängt, von innen oder von außen her. Es ist das Beeinflussende oder Einfluss nehmende im Bewusstsein. Daher wird der Begriff mit dem Wort “Beeinflussung” übersetzt
[7] Wurden in der Ursprungsversion des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), welches am 1.1.1900 innerhalb des Gebietes des damaligen Deutschen Reiches in Kraft trat, Tiere noch als “Sache” behandelt (im zweiten Abschnitt des ersten Buches “Sachen”), über die der Eigentümer nach Belieben verfahren konnte, so ist heute der Tierschutz in vielen Gesetzen rechtlich verankert. 1990 (!) wurde auch das BGB entsprechend geändert, und Tieren wurden durch die Einfügung des § 90a juristisch vom Status einer Sache befreit. §90a BGB: “Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt. Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.”
[8] Ein aktuelles Beispiel dazu ist die Zeitschrift GEOkompakt Ausgabe Nr. 14, in der “Die 100 größten Forscher aller Zeiten” alle ausnahmslos Naturwissenschaftler sind. Siehe dazu auch die Diskussion im GEO Forum unter http://www.geo.de/forum/showthread.html?t=22929.
[9] Diesen Aspekt greift Ken Wilber in seinen Exzerpten zum Band zwei der Kosmos Trilogie wieder auf. Ausgehend von einer einfachen Dreigliederung der Entwicklung in prä-konventionell, konventionell und trans-konventionell erläutert Wilber, dass es – von der Sicht der konventionellen Bewusstseinsstufe aus – zwei Arten von gesellschaftlichen Außenseitern oder “outlaws” gibt, (die beide nicht-konventionell sind, und aus der Perspektive der Konvention aus nicht unterschieden werden können), und zwar prä-outlaws und trans-outlaws. Die prä-outlaws hinken gewissermaßen in ihrer persönlichen Entwicklung dem gesellschaftlichen Bewusstseinsschwerpunkt hinterher, wohingegen die trans-outlaws ihm vorauseilen. Die trans-outlaws unterscheiden sich von den prä-outlaws dadurch, dass sie die Konventionen der Gesellschaft (an)erkennen, jedoch Denk- und Verhaltensweisen haben und äußern, die über diese Konventionen (und manchmal auch Gesetze) hinausreichen.
[10] “transzendiere und bewahre.”
[11] Ein weiterer, groß angelegter Versuch Neuerungen einzuführen unter Verzicht auf das notwendig konservative Element des Bewahrens von Gewachsenem waren die extremen Auswüchse der 68 Bewegung (“macht kaputt, was euch kaputt macht”), intellektuell gestützt durch die Philosophie der Dekonstruktion.
Quelle: Online Journal