Sterbebegleitung auf Deutsch

Buchbesprechungen

Sterbebegleitung auf Deutsch

Zum Buch Das andere Totenbuch: eine praktische Anleitung zur Sterbebegleitung

Michael Habecker

Wulf Mirko Weinreich, der sich durch Seminare und sein Buch Integrale Psychotherapie – Ein umfassendes Therapiemodell auf der Grundlage der Integralen Philosophie nach Ken Wilber in der integralen Szene und darüber hinaus einen Namen gemacht hat, hat nun ein Buch zur Sterbebegleitung veröffentlicht.

Auf dem Buchumschlag steht dazu:

Nachdem ich wieder einmal mit dem Thema Tod konfrontiert worden war, suchte ich das „Tibetische Totenbuch“ in einer Übersetzung, die geeignet wäre, um Menschen, die keine Kenntnis vom Buddhismus haben, beim Sterben zu begleiten. Leider fand ich keine. Deshalb entschloß ich mich, ein solches Buch selbst zu schreiben. Ich habe versucht, die wichtigsten Stationen des „Bardo Thödol“ möglichst behutsam in unsere westliche Sprach- und Vorstellungswelt zu übertragen. Das Integrale Bewusstseinsmodell von Ken Wilber diente dabei als philosophischer Hintergrund.

Das Buch will vor allem eine praktische, leicht zu handhabende Anleitung sein, um Sterbende zu begleiten. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht auf der Vorbereitung des Sterbens oder der Arbeit mit den Hinterbliebenen, sondern dem Original folgend bei der Begleitung des eigentlichen Sterbeprozesses bis weit über den letzten Atemzug hinaus. Die Texte eigen sich aber auch zur Meditation und zur Erkundung des eigenen Innenraums.

Wir freuen uns, mit Genehmigung des Autors nachfolgend eine längere Passage aus der Einführung des Buches wiedergeben zu können. Das Buch stellt einen gelungenen Versuch dar, die ebenso schwierige wie wichtige Thematik des Sterbens und seiner Begleitung für den deutschsprachigen Raum zu erschließen.

Wulf Mirko Weinreich: Einführung zu Das andere Totenbuch

Jeder Mensch ist ein Versuch des einen Bewußtseins, sich seiner selbst gewahr zu werden.

Dieses Buch soll es Menschen auf einfache Weise ermöglichen, anderen Menschen beim Sterben eine gute Begleitung zu sein. Wir sind es heute gewöhnt, möglichst alles an „Fachleute” zu delegieren, auch das Sterben. Doch manchmal sind keine Fachleute vorhanden oder ein Mensch ist uns so nah, daß wir es nicht möchten, daß jemand anderes sich da einmischt. Und letztendlich werden auch wir eines Tages sterben, weshalb es eine gute Vorbereitung sein kann, andere zu begleiten. Aus diesem Grunde wurde das Buch so angelegt, daß es auch als Meditationshilfe genutzt werden kann.

Seit der Jugend spielt das Thema „Tod” in meinem Leben eine wichtige Rolle. Während der Gymnasialzeit habe ich in den Sommerferien immer in einem Bestattungsinstitut gearbeitet – ein Zufall, den ich erst Jahre später zu schätzen lernte. Danach wurde ich sehr oft mit dem Thema Suizid konfrontiert. Und wie jeder andere Mensch erlebte auch ich den Tod von Familienmitgliedern, wobei mich der Tod meiner Großmutter besonders beeindruckte, da sie sehr bewußt über die Schwelle ging. Eine mehrmonatige Mitarbeit auf einer Palliativstation brachte mir das Thema noch einmal von einer anderen Seite nahe. Und schließlich machte ich durch eigene außer­­gewöhnliche Bewußtseinszustände wichtige Erfahrungen in den Bereichen jenseits unseres normalen Tagesbewußtseins. Durch meine Beschäftigung mit Ken Wilber und den östlichen Auffassungen vom Tod wurde mir klar, daß bestimmte Bewußtseinsräume, die meditativ erfahren werden können, weitgehend den Zuständen des Todes gleichen.

Inzwischen gibt es gute Bücher, die Sterbende und ihre Begleiter unterstützen, sich auf den Tod vorzubereiten, bzw. die den Hinterbliebenen helfen, dieses Ereignis zu verarbeiten. Auch die Phänomene der Nahtoderfahrungen sind durch die Bücher von Elisabeth Kübler-Ross, Raymond Moody und einigen anderen recht gut bekannt. Doch wie geht es nach dem letzten Atemzug weiter? Nach meinen eigenen Erfahrungen ist das „Tibetische Totenbuch“, das „Bardo Thödol”, die beste Systematik all dessen, was danach kommt. Dieser Text benutzt allerdings eine sehr metaphernreiche, symbolische Sprache, die eigentlich nur vor dem Hintergrund des tibetischen Buddhismus verständlich ist. Nachdem ich wieder einmal mit dem Thema Tod konfrontiert worden war und etwas daran verzweifelte, daß es keinen Text gibt, um in einer leicht verständlichen Sprache auf das „Danach“ vorzubereiten, entschloß ich mich, ein solches Buch selbst zu schreiben. Dabei war es mein Anliegen, mit Hilfe meines psychologischen, religionswissenschaftlichen und philosophischen Wissens die wichtigsten Stationen des „Bardo Thödol“ in die heutige Sprach- und Vorstellungswelt zu übertragen. Allerdings ging es mir nicht um eine wissenschaftliche Neuinterpretation, sondern darum, eine in der Praxis leicht nutzbare Anleitung zu erstellen. Ken Wilbers Integrale Philosophie bildet den Hintergrund, doch habe ich mich bemüht, das Thema so aufzubereiten, daß man sein Modell nicht unbedingt kennen muß.

Zuerst gibt es eine längere Einführung, um zu verdeutlichen, was beim Sterben aus psychisch-spiritueller Sicht eigentlich passiert. Danach folgen Vorschläge, wie man einen sterbenden Menschen ganz praktisch unterstützen kann. Später wechseln sich erklärende Texte mit Passagen ab, die dafür gedacht sind, sie dem Sterbenden vorzulesen, um ihm eine Orientierung zu geben, wie es nach dem Tode weitergeht. In Tibet wird den Sterbenden bis zum 49. Tag nach dem Tod aus dem „Bardo Thödol“ vorgelesen („Bardo Thödol“ bedeutet wörtlich übersetzt „Von der Befreiung durch Hören im Zwischenzustand”) und diese Praxis ist meines Erachtens mit entsprechenden Texten auch in unserem Kulturkreis anwendbar.

Das Verständnis dieses Buches setzt bei Ihnen als Leser allerdings den Gedanken – besser: die Arbeitshypothese – voraus, daß Bewußtsein vielleicht doch nicht nur ein der Materie nachgeordnetes Phänomen ist, sondern mindestens parallel zu ihr existiert, vielleicht aber auch schon deren Grundlage bildet. Dabei meine ich mit Bewußtsein keine Gedanken, Erinnerungen, Bilder oder Gefühle – das sind Bewußt­seins­formen, so wie man sagen kann, daß Menschen, Tiere, Pflanzen und Steine Materieformen sind. Bewußtsein, das ich hier meine, ist „Bewußtsein an sich” im Wilberschen, bzw. „GEIST“ im Hegelschen Sinne. Im Buddhismus wird dieser Urgrund allen Seins als „Dharmakãya”, im Sanskrit als „Brahman” bezeichnet. Da „reines Bewußtsein“ frei von allen Eigenschaften ist, entzieht es sich jeder Beschreibung, woraus eine Paradoxie entsteht, die im folgenden Gedicht sehr schön illustriert wird:

… das Eine, das als Zwei erscheint,

Nichts, das als Alles erscheint,

das Absolute, das als das Relative erscheint,

Leere, dieals Fülle erscheint,

das Unverursachte, das als das Verursachte erscheint,

Einheit, die als Trennung erscheint,

das Subjekt, das als Objekt erscheint,

das Singuläre, das als Pluralität erscheint,

das Unpersönliche, das als das Persönliche erscheint,

das Unbekannte, das als das Bekannte erscheint.

Es ist Stille, die klingt,

Ruhe, die in Bewegung ist,

und diese Worte erscheinen als Hinweise

auf das Wortlose

… und dennoch geschieht nichts.[1]

Leider ist die „Kunst des Sterbens“, die „Ars moriendi”, in unserer Kultur ziemlich verloren gegangen. Wenige Menschen bereiten sich noch auf den Tod vor. Die meisten verdrängen ihn und von denen, die sich vielleicht doch einmal Gedanken machen, wünschen sich viele, daß er möglichst plötzlich kommen und schnell vorbei sein soll – möglichst so schnell, daß sie gar nichts davon mitbekommen. Dabei könnte man den Tod auch als Höhepunkt des Lebens betrachten, als sein Ziel, in dem alles kulminiert. Seit unserer Geburt bewegen wir uns nur auf diesen Punkt zu, den ich auch gerne als Exkarnation bezeichne, um deutlich zu machen, daß es ja eigentlich nur die Umkehrung der Geburt ist.

Das Sterben ist eine Zeitspanne, in der sich zeigt, wo ein Mensch in seiner Entwicklung wirklich steht. Gleichzeitig ist diese Phase eine Chance, weitere große Entwicklungsschritte zu machen. Das betrifft sowohl den bewußten Abschluß des eigenen Lebens, als auch die Erkenntnis der wahren Natur des eigenen Bewußtseins während des Sterbens. Letzteres zu unterstützen ist das Hauptanliegen des „Bardo Thödol“.

Es geht davon aus, daß sich der Mensch ständig in Zwischenzuständen bzw. Übergangsphasen befindet, die es „Bardos” nennt. Das einzige, was unveränderlich, unendlich und ewig ist, ist das leere, reine Bewußtsein, das während des Sterbens als extreme Helligkeit wahrgenommen wird, weshalb ich es in diesem Buch als „klares Licht des reinen GEISTes“ bezeichne. Durch die Übertragung in den integralen Kontext ergibt sich ein kleines sprachliches Problem: Die Wilberschen „Bewußtseinszustände” (manifest, subtil, kausal und nondual) sind zwar in ihrer Charakteristik weitgehend identisch mit den Zwischenzuständen des „Bardo Thödol“. Sie sollten aber trotzdem auseinandergehalten werden, weil in den tibetischen Bardos eine Zeitkomponente hinzukommt, also Angaben zu ihrer Dauer gemacht werden. In den erklärenden Passagen ergibt sich die Bedeutung aus dem Zusammenhang. In den Texten zum Vorlesen wurde auf die Wilbersche Begriffsverwendung völlig verzichtet, so daß mit „Zustand” immer der „Zwischenzustand” (Bardo) gemeint ist.

Das „Tibetische Totenbuch“ kennt insgesamt sechs Bardos, von denen drei das Sterben betreffen:

  1. der Augenblick des Todes (vom Sterbemoment bis zum 3. bis 4. Tag danach)
  2. das Erleben der subtilen Wirklichkeit (bis zum 14. Tag)
  3. die Vorbereitung auf eine neue Geburt (bis zum 49. Tag)

Mit den Zeitangaben ist allerdings vorsichtig umzugehen, da unsere lineare Zeit ja an die manifeste Welt gebunden ist. In den subtilen bzw. kausalen Bewußtseinszuständen wird die Zeit jedoch als „jetzt” oder abwesend („vor der Zeit“) erlebt.

Außerdem gibt es noch 3 Bardos, die das Leben betreffen:

4. das normale Tagesbewußtsein
5. den Schlaf
6. die Meditation

Aus integraler Sicht entspricht der 1. Bardo dem kausalen bzw. nondualen Bewußtseinszustand / Tiefschlaf, der 2. Bardo einem sehr subtilen Zustand / tiefen Traumschlaf und der 3. Bardo einem grob-subtilen Zustand / leichtem Traum (Wilber nennt diesen Bereich auch „astral“ oder „sensitiv“). Das heißt, daß wir diese Zustände grundsätzlich kennen, uns aber ihrer normalerweise nicht bewußt sind. Bardo 4 entspricht unserem normalen, manifesten Tagesbewußtsein. Sogyal Rinpoche betont, daß sich die verschiedenen Schlafphasen (5. Bardo) von den Todesphasen vor allem in ihrer Intensität unterscheiden – nicht umsonst wird ja der Schlaf als der „kleine Bruder” des Todes angesehen. Aus seiner Sicht ist Meditation (6. Bardo) die bewußte Wahrnehmung des Tagesbewußtseins – also das, was ich an anderer Stelle als „Hier und Jetzt” bezeichne. Allerdings können sehr tiefe Meditationen, wie die unten beschriebene Yangtik-Methode, auch in subtile, kausale und nonduale Bewußtseinszustände führen. Deshalb kann man auch sagen, daß Schlaf ein unbewußter Ausflug während des 4. Bardos in die subtileren Zustände hinein ist, wohingegen Meditation die gleichen Zustände bewußt erlebbar macht. Der Vollständigkeit halber muß ich hinzufügen, daß es sich beim Übergang vom manifesten zum nondualen um einen fließenden Prozeß handelt, der durch zunehmende Subtilität, Unkonkretheit und ICH-losigkeit gekennzeichnet ist: von der Welt der festen, materiellen Körper zur Leere des reinen GEISTes zur nondualen Einsicht, daß Materie und GEIST niemals getrennt waren. Viele spirituelle Schulen unterteilen den Weg vom manifesten zum nondualen Zustand statt in drei z. B. in sieben Bereiche(6), was der Wahrheit viel näher kommt. Doch ist diese Genauigkeit für unser Anliegen nicht wirklich wichtig.

An dieser Stelle sei noch etwas Grundsätzliches zum Sterben aus buddhistischer Sicht gesagt: Weil das irdische Leben laut ihrer Lehre unentrinnbar von Leid geprägt ist, streben die Buddhisten danach, im Leben, spätestens aber im Moment des Todes, „erleuchtet” zu werden – also das Spiel der relativen Formen (Samsara) zu durchschauen. Diese existentielle Erkenntnis, die auch als „Erwachen“, „Erleuchtung“ oder „Befreiung“ bezeichnet wird, unterbricht den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt. Das individuelle Bewußtsein überwindet seine Trennung und löst sich in einem leeren, unpersönlichen Gesamtbewußtsein auf: Der Tropfen fällt zurück in den Ozean. Aufgrund der Auflösung jeder individuellen Struktur endet die Linie der Seele, die man sich am ehesten als ein „Bewußtseinsfeld” vorstellen kann, in der obenstehenden Abbildung auch an der Grenze zur weiß dargestellten Leere des GEISTes. Die ursprüngliche Natur des ICHs und der Seele ist genauso leer und eigenschaftslos, wie das reine „Bewußtsein an sich”, ja ist mit ihm identisch. Jede sich daraus hervorhebende Form – sei sie nun materiell-manifest oder mental-subtil, ist nur eine vergängliche Mani­festation dieses reinen Bewußtseins. Eine Seelen­wanderung im eigentlichen Sinne – eine über den Tod hinaus stabile Identität – wird in Tibet eher als „Betriebsunfall“ angesehen: als die Unfähigkeit des Sterbenden, bis wenigstens in die Nähe des kausalen Zustandes gekommen zu sein. Dies deutet auf mangelnde Bewußtheit oder unbewältigtes Karma hin. In der Abbildung wird eine solche Möglichkeit durch die beiden punktierten Pfeile dargestellt. Der tibetische Buddhismus macht einzig mit seiner Institution der „Tulkus” eine Ausnahme davon – Menschen, die ihre wahre Natur als GEIST vollkommen realisiert haben, aber aus Mitgefühl bewußt(!) von Leben zu Leben weitergehen, um als „Bodhisattvas” anderen Lebewesen zu helfen, gleichfalls die Befreiung zu verwirklichen. Der bekannteste dieser Tulkus ist der Dalai Lama.

Die buddhistische Sterbebegleitung sieht ihre wichtigste Aufgabe darin, dem Sterbenden zu helfen, alle Identifikationen zu lösen – zuerst die mit dem Körper und danach die mit dem ICH und der Seele – und zu erkennen, daß er in seiner Essenz kausaler GEIST ist und daß Materie, Gedanken, Gefühle und Ereignisse nur vergängliche Manifestationen (Samsara) sind, die dieses reine Bewußtsein selbst erzeugt hat. Diese Erkenntnis kann ihm zur vollkommenen Befreiung verhelfen. In der letzten Phase wird der Sterbende zwar auch auf eine neue Inkarnation vorbereitet, doch geschieht dies eher widerwillig, da man eigentlich für den Toten hofft, daß er auf ewig in den kausalen Zustand eingeht. Einzige Ausnahme sind die oben erwähnten Tulkus.

An diesem Punkt bin ich etwas anderer Meinung. Wenn es nur die „Entwicklung zu mehr Wachheit” gäbe, wie sie durch die Erforschung der Innenwelt kultiviert werden kann, und die Erde nichts als ein Jammertal wäre, hätten die Buddhisten recht: Nichts wie weg hier! Für die tibetische Gesellschaft, die sich über Jahrhunderte kaum verändert hat und sich in einer lebensfeindlichen Umwelt behaupten mußte, war die Vorstellung einer „freudvollen Evolution” einfach undenkbar. Doch ist laut Wilber die „Entwicklung zu mehr Fülle” eine zweite, gleichberechtigte Richtung der kosmischen Evolution. Das heißt, daß die relative Welt der Erscheinungen (Samsara) sich zu immer neuen, komplexeren Formen differenziert und sich ihrer selbst immer bewußter wird, u. a. indem wir Menschen unsere Außenwelt erforschen und gestalten. Selbst wenn die gesamte manifeste Welt nur ein „Traum” des reinen GEISTes sein sollte, scheint es darin also so etwas wie eine gerichtete Entwicklung zu geben. Das ist in meinen Augen ein derart spannender Prozeß, der durchaus Grund genug sein kann, freiwillig neu zu inkarnieren. Es scheint sogar so zu sein, daß Reinkarnation ein wichtiger Mechanismus im Spiel der Evolution ist. Insofern sehe ich die Vorbereitung eines Sterbenden auf die anderen Bardos bis hin zur Reinkarnation also nicht unter dem Aspekt, daß dieser Mensch nicht reif genug war, dauerhaft in den kausalen Zustand einzugehen, sondern ich halte die Möglichkeit für wahrscheinlicher, daß er freiwillig weiter an diesem kosmischen Spiel teilnehmen möchte. Und da die Evolution laut Wilber vom Unbewußten zum Selbstbewußten zum Überbewußten voranschreitet, kann es ja kein Fehler sein, so bewußt wie möglich mitzuspielen – egal, auf welcher Seite der Tür man gerade steht.

Für die Zweifler an dieser Stelle ein kleiner Hinweis: Es ist ja ganz einfach zu behaupten, daß alles, was hier steht, Unsinn ist, weil es nicht bewiesen werden kann. Dem ist nicht ganz so: Im tibetischen Buddhismus hat man eine sehr einfache Meditationstechnik entwickelt, um die subtilen und kausalen Zustände zu erkunden: die Bardo-Klausur (Yangtik). Der Versuchsaufbau ist sehr einfach: Der Meditierende bleibt 49 Tage (so lange, wie auch die nachtodliche Sterbebegleitung in Tibet dauert) allein in einem völlig dunklen Raum. Das Wichtigste, was er in dieser Zeit zu tun hat, ist, sich selbst zu beobachten. Mit großer Sicherheit wird er die meisten der hier für den Sterbenden beschriebenen Phänomene erfahren – die Oberfläche mag kulturabhängig etwas differieren, die Tiefenstruktur wird identisch sein. Damit erfüllt diese Meditation alle Anforderungen, die an ein normales wissenschaftliches Experiment gestellt werden, vor allem auch das der Wiederholbarkeit. Da unsere westliche Zivilisation im allgemeinen Angst vor außergewöhnlichen Bewußtseinszuständen hat, wurdediese Methode in unseren Breiten früher als Foltermethode (Dunkelhaft in der Einzelzelle) verwendet. Ihre negative Wirkung beruht hauptsächlich darauf, daß die Menschen gegen ihren Willen in die Dunkelheit gesperrt wurden und daß natürlich niemand da war, der ihnen half, ihre Erfahrungen in ihr normales Tagesbewußtsein zu integrieren. Die Erfahrungen sind so außergewöhnlich, daß Menschen darauf leicht mit einer psychotischen Dissoziation reagieren. Das erwähne ich bewußt, um deutlich zu machen, daß die Yangtik-Meditation eine extreme Herausforderung ist!

Um die Einführung nicht über Gebühr in die Länge zu ziehen, gibt es im Anhang noch einige Hintergrundüberlegungen für diejenigen, die Genaueres über das Verhältnis der Bewußtseinszustände und Bardos zueinander wissen wollen.

Abschließend noch einige Hinweise für die praktische Verwendung des Buches: Die nachfolgenden Kapitel bestehen jeweils aus einführenden Kommentaren sowie ausTexten, die dafür bestimmt sind, dem Sterbenden vorgelesen zu werden. Letztere sind kursiv gesetzt. Um inhaltlich in sich geschlossene Themen voneinander abzugrenzen, habe ich jeweils die erste Zeile zusätzlich fett gesetzt. Wenn Sie dieses Buch als eine geführte Meditation durch die Bewußtseinszustände verwenden möchten, können Sie die Passagen, die mit einem breiten grauen Balken hinterlegt sind, weglassen, da sie spezielle Situationen beschreiben, die vor allem für die eigentliche Sterbebegleitung relevant sind. Dadurch entsteht eine Meditation von etwa einer Stunde. Diese läßt sich noch weiter verkürzen, indem zusätzlich die Abschnitte, die mit einem schmalen Balken hinterlegt sind, weggelassen werden, so daß nur noch die Kerntexte übrig bleiben. Wenn Sie die Meditation für mehrere Menschen vorlesen, können Sie statt des Namens wahlweise das Wort „Sterbende“ oder „Reisende“ als Anrede verwenden.

[Es folgen Beispiele für Vorlesetexte]

„Liebe / Lieber (Name des Sterbenden),

höre mir zu und sei mit Deiner Aufmerksamkeit ganz hier!

Du bist dabei zu sterben.
Dein Körper stellt schrittweise seine Funktionen ein,
seine Temperatur wird immer niedriger.
Deine Gefühle werden immer flacher,
bis sie ganz verlöschen,
und Dein irdischer Verstand hört auf zu arbeiten.

Sei entspannt und nimm bewußt wahr,
wie sich Dein Bewußtsein langsam vom Körper löst.
Achte darauf, den Kopf durch den Scheitelpunkt zu verlassen.
Du wirst sehr schnell eine Schwärze passieren,
die Dir vielleicht wie ein Tunnel vorkommt.
Danach wirst Du in ein gleißendes Licht eintreten:
Das ist der erste Zwischenzustand,
der „Zustand des reinen GEISTes“.
Dieser Zustand ist jenseits jeder Beschreibung,
so daß jedes Wort nur eine hilflose Andeutung ist,
um auf das Unnennbare hinzuweisen.
Du kannst ihn leer nennen,
doch alle Erscheinungen sind in ihm enthalten.
Du kannst ihn strahlend und klar nennen,
doch er ist auch der Hort der Dunkelheit.
Wenn Du dem Zustand des reinen GEISTes begegnest,
dann erinnere Dich an diese Worte
und Du wirst ihn erkennen
als das Unbeschreibbare.

Hab keine Angst vor seiner gewaltigen Dimension.
Hab keine Angst vor seiner Intensität.
Bewege Dich darauf zu.
Gehe hinein und verschmelze mit ihm,
wie ein Wassertropfen,
der zurück in den Ozean fällt
und sich in seiner unendlichen Weite auflöst.
Klammere Dich nicht aus Liebe oder Schwäche
an Deine alte Identität,
sondern überschreite die Grenzen Deines kleinen,
individuellen Bewußtseins
und löse Dich ganz
im allumfassenden reinen GEIST auf.

Erkenne, daß Du in Deinem wahren Wesen
dieses kristallklare Bewußtsein BIST,
daß Du und der reine GEIST nie getrennt waren.
Erkenne, daß Deine Identität nur ein Spiel,
eine endliche Manifestation
dieses einen umfassenden Bewußtseins ist.

Liebe / Lieber (Name des Sterbenden),

erkenne, daß dies die wahre Natur des GEISTes
– und also auch die Deine – ist:
unbeschreibbare Leere,
ohne Inhalt, ohne Eigenschaft,
ohne Anfang und Ende,
jenseits von Raum und Zeit,
ungehindert alles durchdringend.
Die Leere des GEISTes ist nicht das Nichtsein.
Diese Leerheit ist selbst Beginn
und Ende aller Erscheinungen.
Erkenne, daß alle Dinge, Phänomene und Prozesse
flüchtige Formen in der Leerheit des reinen GEISTes sind,
der durch keine Erscheinung je Veränderung erfährt.
Diese Leerheit ist kein Bewußtseinszustand
und auch keine Ebene,
denn alle Zustände und Ebenen
gehen aus ihr hervor
und sind in ihr enthalten.
Erkenne, daß das,
was Du die „irdische Welt“ nennst,
ein Materie gewordener Traum ist,
der in der Leerheit des reinen GEISTes stattfindet:
veränderliche Formen,
die sich entfalten und wieder verschwinden,
– wie die Wolken, die entstehen und vergehen
vor dem klaren Blau des leeren Himmels.
Erkenne, daß das, was Du Dein „ICH“ nanntest,
eine willkürliche Unterscheidung in der Leerheit war,
die Dich von der allumfassenden Einheit
des reinen GEISTes trennte,
damit Du das kosmische Spiel besser spielen konntest.
Doch nun, wo Du dieses Spiel durchschaust,
kannst Du auf die Trennung verzichten
und Dich als das erkennen, was Du wirklich bist:
Ein ICH-loses Selbst,
identisch mit dem reinen GEIST.

Liebe / Lieber (Name des Sterbenden),

höre mir zu und sei mit Deiner Aufmerksamkeit ganz hier!

Erkenne, daß der reine GEIST sich in zwei Aspekten offenbart:
Als Gewahrsein und als Liebe.
Jede Erscheinung, die sich in der Leere des GEISTes entfaltet,
ist willkommen und angenommen
als eine einmalige Kreation des reinen Bewußtseins.
Das ist es, was man die allumfassende Liebe nennt:
Kein Festhalten, keine Ablehnung.
Alle Dinge, Phänomene und Prozesse dürfen entstehen,
werden von der Liebe getragen und durchdrungen
und können wieder vergehen:
kein Urteil, keine Wertung,
alles ist,
was es ist
– das ist die Liebe.
Erkenne auch die Einheit aller lebenden Wesen:
Wenn jedes Wesen, genauso wie Du,
eine flüchtige Erscheinung in der Leerheit des GEISTes ist,
getragen von der Liebe,
dann trefft Ihr Euch in dieser Leere
– und Du warst nie getrennt von ihnen.
Wenn Du in Deiner wahren Natur reiner GEIST bist,
dann sind auch alle anderen Wesen
in ihrer wahren Natur reiner GEIST.
Dann ist dieses allumfassende Bewußtsein
wie ein Puppenspieler mit tausend Armen,
der mit sich selbst Theater spielt.
Nutze diese Einsicht,
um Liebe und Mitgefühl
für alle Wesen zu erlangen.

Liebe / Lieber (Name des Sterbenden),

erkenne nun den zweiten Aspekt des GEISTes
in seiner ganzen Konsequenz:
Das Gewahrsein, die Bewußtheit, den Zeugen.
Schau nicht auf die Bewußtseinsformen,
Schau nicht auf Erinnerungen, Gedanken,
Gefühle oder Wünsche
– sie sind nur flüchtige Erscheinungen,
endlich, wie alle anderen Formen auch.
Schau dahinter: Wer nimmt das alles wahr?

Ein formloses, ICH-loses Gewahrsein
– der reine GEIST.
Kein Gedanke, kein Gefühl,
kein Wunsch, keine Erinnerung,
kein Inhalt, keine Grenze,
kein Anfang und kein Ende,
leuchtend, glückselig und schweigend.

Liebe / Lieber (Name des Sterbenden),

nutze nun die ungetrübte Klarheit Deiner Bewußtheit
für die letzte Wahrheit, die höchste Einsicht:
Erkennende/r, Erkennen und Erkanntes sind eins.
Sie waren niemals getrennt.
Der/die Erkennende IST das Erkennen IST das Erkannte
– reiner GEIST, allumfassendes Bewußtsein.
Wenn Du diese Einsicht bewahren kannst,
wird sie Dich für ewig befreien.
Du wirst das vollkommene Erwachen verwirklichen,
– jenseits von Raum und Zeit –
und in Seligkeit und grenzenloser Liebe darin verweilen.”

[1] Parsons, Tony: Einfach nur Dies. (2008) Bielefeld: Kamphausen

WULF MIRKO WEINREICH (Jahrgang 59) arbeitete nach seinem Wehrdienst als Bausoldat aufgrund eines Studienverbotes in verschiedenen Berufen. 1985  gründete er ein Selbsterfahrungs- und Meditationszentrum in Leipzig. Nach der Wende studierte er Psychologie (Abschluß Dipl.-Psych.), sowie Religionswissenschaft, Ethnologie und Sinologie. Als Therapeut arbeitet er vor allem mit Interventionen der Humanistischen, Systemischen und Transpersonalen Psychotherapie sowie spirituellen Methoden. 2005 erschien das Buch „Integrale Psychotherapie” (Heiligenfelder Forschungspreis des DKTP). Seitdem hält er verstärkt Referate und Vorlesungen zu integralen Themen. Bis 2008 war er maßgeblich am Aufbau der Drogenabteilung in der „Fachklinik am Kyffhäuser” beteiligt. 2009 erschien „Das andere Totenbuch“. Aktuell ist er in eigener Praxis in Leipzig tätig.

www.integrale-psychotherapie.de

aus: Online Journal Nr. 21, 2009

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