Boomeritis und Boomeritis Buddhismus

Gesellschaft

Boomeritis und Boomeritis Buddhismus

Ken Wilber, aus dem Erstentwurf zu Integrale Spiritualität – Die Rolle der Spiritualität in der modernen und postmodernen Welt

Boomeritis als Phänomen an sich ist zwar wichtig, weist jedoch auf ein sehr viel umfangreicheres und wichtigeres Thema hin, nämlich die Wellen oder Linien-Pathologie (oder Fehlfunktion der Linienentwicklung,  FLE – engl. DLD: developmental-line dysfunction).

Jeder Aspekt der Psyche – oder, was das anbelangt, von Realität – kann Störungen aufweisen. Ich kann eine Pathologie, ein „Un-Wohlsein“ in jedem Quadranten haben, auf jeder Ebene, in jeder Linie,  in jedem Zustand, bei jedem Typ… und so weiter. Alles, was beweglich ist, kann auch zusammenbrechen.

Um jedoch eine Pathologie zu erkennen, muss man wissen, wohin man genau schauen muss. Wir haben gesehen, dass die meditativen Traditionen vorwiegend  Zone 1-Methodologien anwenden. Als solche verfügen sie über kein wirkliches Verständnis oder Erfassen von Entwicklungsstruktur-Stufen. Boomeritis ist eine gravierende Störung, die in den Entwicklungsstrukturen eines Individuums auftreten kann, eine Fehlfunktion, die weder von christlichen noch buddhistischen Meditationstraditionen gesehen oder diagnostiziert werden kann. Das ist KEIN Fehler der Zone 1-Methodologien, von denen man nicht erwarten kann, Zone 2-Probleme zu erkennen. Es ist jedoch der Fehler des Individuums, wenn es nur eine Methode benutzt.

Boomeritis selbst wurde zum ersten Mal bei den Studentenprotesten gegen den Vietnamkrieg in den 60er Jahren sichtbar. Die Studenten behaupteten gegen den Krieg zu protestierten, weil er unmoralisch sei. Tests zur moralischen Entwicklung ergaben, dass einige der Studenten tatsächlich moralisch sehr hoch entwickelt waren – in einigen Studien waren viele der Protestierenden postkonventionell und sagten „Nein !“ zu einem Krieg, von dem sie wirklich überzeugt waren, er sei falsch, und außerdem taten sie das von post-konventionellen Ebenen aus. Aber viele der Kriegsgegner waren prä-konventionell und ihr Protest kam aus einer egozentrischen, narzisstischen Haltung: „Go, fuck yourself, nobody tells me what to do!“ (Verpiss dich, niemand sagt mir, was ich tun soll!)

So kam es, dass auf derselben Friedensdemonstration, unter dem gleichen Dach, mit denselben Slogans, wo alle skandierten „Hell, no, we won’t go !“ (Zur Hölle, nein, wir werden nicht (nach Vietnam) gehen), beide Haltungen  – sowohl PRÄ- als auch POST-konventioneller Art  – ­vertreten waren. Wenn man nicht wusste, was abging, sah es aus, als würden alle Demonstranten dasselbe meinen und vom selben inneren Standpunkt aus agieren. Der Protest gegen den Krieg – der sich stark gegen den konventionellen Standpunkt richtete – zog deshalb sowohl postkonventionelle als auch präkonventionelle Reaktionen an. Alle mit derselben hochfliegende Rhetorik ausgestattet, sodass unter dem postkonventionellen Dach das Präkonventionelle blühte und gedieh. Dass eine postkonventionelle Situation präkonventionelle Reaktionen anzieht, unterstützt und ermutigt, ist eine klassischer Prä/Post-Verwechslung und Boomeritis ist eine spezielle Version dieser Prä/Post-Verwirrung.

Genauer gesagt, war die Boomer-Generation die erste mit einem bedeutenden Prozentsatz der Bevölkerung auf der grünen Entwicklungswelle – pluralistisch, post-modern und relativistisch. Eswar der Standpunkt „Ich mach’ mein Ding und du machst deins“, der jedoch von einem ziemlich hohen Entwicklungsniveau ausging – postkonventionell, weltzentrisch, global. Aber diese pluralistische Offenheit und Nichtbewertung reaktivierte und ermutigte sehr egozentrische und narzisstische Impulse, und unter dieses postkonventionelle Dach kam die präkonventionelle Parade, und jeder narzisstische Impuls wurde in pluralistisch umbenannt. Die Ich-Generation (Me generation) war geboren.

Boomeritis ist eine Infektion postkonventioneller/weltzentrischer Ebenen durch präkonventionelle/egozentrische Ebenen oder, einfach und am häufigsten, mit rot infiziertes Grün (diese Farben werden hier selbstverständlich nur dazu verwendet, die Höhe in den einzelnen Linien zu beschreiben und sind nicht spezielle Spiral Dynamics vMemes). Dieser grün/rot Komplex nahm oft ziemlich niedrige, egozentrische Gefühle und Impulse, benannte sie mit Hilfe hoher, postkonventioneller, weltzentrischer Begriffe um und war dann allmählich davon überzeugt, dass die eigenen egozentrischen Gefühlen sehr hochstehend, sogar spirituell seien. Was dazu führte, je härter man sein Ego ausdrückte, dem Ego freien Lauf ließ und sein Ego wirklich und unmittelbar fühlen konnte, desto spiritueller war man. In diese Atmosphäre hinein kam nun der Buddhismus und auf diese Weise wurde aus der Religion der Egolosigkeit eine Religion, die vor allem das Ego ausdrückte. Ein ziemliches Kunststück zwar, aber „Willkommen im Amerika der Boomeritis!“

Viele amerikanische Buddhisten dieser Generation waren als Boomer die Pioniere der grün-pluralistischen Entwicklungswelle, was für sich selbst genommen eine ziemlich außergewöhnliche Errungenschaft ist. Einige von ihnen begannen auch eine Meditationspraxis und konnten tatsächlich echte und tiefe meditative Zustände erzielen (weil alle Zustände auf so ziemlich allen Entwicklungsstufen immer zur Verfügung stehen). Aber wie immer werden diese meditativen Zustände entsprechend der Stufe interpretiert, auf der man sich befindet. Und so kam es, dass meditative Zustände sehr schnell dazu verwendet wurden, die pluralistische Weltsicht der grünen Ebene zu untermauern.

An diesem Punkt besteht in diesem speziellen Fall nicht notwendigerweise eine Dysfunktion in der AQAL Matrix. Es gibt jedoch  zwei potenzielle Probleme. Das erste ist, dass viele der großen kontemplativen Texte, Sutras und Tantras in der kognitiven Linie von mindestens der türkisen und oft auch von der indigo oder violetten Ebene aus geschrieben wurden. So wurden indigo Texte herunter übersetzt in grüne Texte, einfach,weil beide von ähnlichen meditativen Zuständen und Errungenschaften getragen wurden. Wie wir gesehen haben, kann man aus einem nichtdualen Gewahrseinszustand herauskommen, und wenn man grün ist, wird man Nichtdualität mit grünen Begriffen beschreiben; wenn man indigo ist, mit indigo Begriffen. Derselbe Zustand kann dazu verwendet werden, eine beliebige Anzahl von Stufen zu unterstützen.

Das zweite Problem jedoch ist, dass man diese meditativen Zustände dazu verwenden kann, Grün zu unterstützen, und da grüner Pluralismus nun einmal roten Narzissmus aktivieren und aufrecht erhalten kann, kann der gesamte meditative Korpus dazu verwendet werden, grün/rote Persönlichkeitsstrukturen abzustützen. Daher Boomeritis Buddhismus. Das ist das Herunterübersetzen buddhistischer Texte in gestörtes Grün oder pathologischen Pluralismus. Der Gebrauch von Buddhismus, um sowohl „den Narzissmus der Gefühle“ (als auch pathologischen Pluralismus) zu ermutigen und zu unterstützen, ist eine der wirklich schwierigen Situationen, die als im Westen verwurzelte Dharma-Kämpfe ziemlich grassieren. Und extrem hohes Training meditativer Zustände wird dazu verwendet, gestörte Entwicklungsstrukturen (ELD) abzustützen.

Speziell wenn nichtduale Zustände – die, soweit sie beschreibbar sind, vom Typ „Alles in Einem, Eins in Allem, Eins inEinem, Alles in Allem“ sind (z.B. die vier Prinzipien der Hua Yen Schule, die fünf Stufen des Tozan) – in Worte übersetzt werden, können sie sich sehr wie die pluralistische Welle anhören, des „alles durchdringt sich gegenseitig“;  mit dem seltsamen Resultat, dass Ego von Ati abgestützt wird.

Das wirkliche Problem ist, nichts davon kann mit den Werkzeugen des Buddhismus erkannt werden. Buddhismus spezialisiert sich auf Zone 1-Techniken aber das alles ist eine Zone 2-Krankheit. Sie kann einfach nicht in einem buddhistischen Geisteszustand gesehen oder entdeckt werden. Indem das Selbst-Gefühl wächst und sich von roter Egozentrik zu bernsteinfarbener Konformität, zu orangefarbener Rationalität, zu grünem Pluralismus, zu türkisem Integralismus, zu indigo und höher entwickelt, kann auf jeder dieser Stufen etwas schiefgehen – auf jeder dieser Stufen bestehen potenzielle Pathologien. Aber wenn man die Stufen selbst nicht wahrnehmen kann, kann man auch die Pathologien nicht erkennen.

Amerikanische Buddhisten, gesegnet sei jeder Einzelne von ihnen (und wir auch), haben keine Idee davon, dass diese Zone 2-Stufen existieren; sie haben keine Ahnung davon, dass Individuen ihre meditativen Erfahrungen von einer bestimmten Stufe aus interpretieren; sie haben keine Idee davon, dass jede dieser Stufen gestört sein kann und dass diese Störung jedoch nicht notwendigerweise das Training meditativer Zustände unterbrechen würde; sie haben keine Idee davon, dass diese Pathologie deshalb für ihre Radarschirme unsichtbar ist, jedoch tatsächlich das gesamte System infiziert. Und deshalb hat sich diese unsichtbare Pathologie in den amerikanischen Buddhismus eingeschlichen, weil sie nicht entdeckt werden kann – ein stilles Virus im Betriebssystem, fähig das ganze System abstürzen zu lassen, was es oft genug auch tut.

Bleiben Sie dran! Bis jetzt gewinnt zwar das Virus, aber wir werden sehen. So wichtig das auch ist, es deutet nur auf einen größeren Zusammenhang hin: Wenn irgendein System auf der Spezialisierung in einer der 8 Methodologien basiert, dann könnte ich unfähig sein, Störungen in einer der anderen 7 Dimensionen meines Seins zu entdecken. Ein integral informierter Ansatz kann genau in dieser schwierigen Situation hilfreich sein und eine AQAL Diagramm-Analyse kann dem System helfen, damit zu beginnen, sich in umfassenderer Weise selbst zu korrigieren und zu organisieren. Das würde sicher für jede Integrale Spiritualität gelten.

2005, Übersetzung Rainer Weber/Monika Frühwirth

(aus: IP 03, 2006)

Ähnliche Beiträge