Die Gewaltfreie Kommunikation (GfK)

Gesellschaft

Die Gewaltfreie Kommunikation (GfK)

Eine Praxis des Mitgefühls

Markus Sikor

Marshall B. Rosenberg, Jahrgang 1934, amerikanischer Psychotherapeut, erlebte in seiner Kindheit in Detroit die Rassenunruhen in seiner Nachbarschaft mit. Dabei starben 40 Menschen und seine Familie konnte das Haus tagelang nicht verlassen. Diese Gewalterfahrung hat ihn nachhaltig geprägt, und Fragen wie „Ist der Mensch gut oder böse?“ und „Wie entsteht Gewalt?“ haben sein weiteres Leben und Forschen geprägt. Das Ergebnis seines Schaffens und seiner international anerkannten Friedensarbeit ist eine Methode, die er „Nonviolent Communication“ nannte, inspiriert von Gandhis Vision der Gewaltfreiheit, und für deren Verbreitung er 1984 das „Center for Nonviolent Communication“ (CNVC) ins Leben rief.

„Das nächste Mal rufen wir die Polizei“

Ein Beispiel: Ich bin gerade umgezogen und nach ein paar Tagen fand ich einen Zettel in meinem Briefkasten: „Das nächste Mal rufen wir die Polizei.“ (keine Unterschrift). In der Gewaltfreien Kommunikation (kurz GfK) üben wir, zwischen Beobachtungen, bewertenden Gedanken, (Pseudo-) Gefühlen, authentischen Gefühlen und Bedürfnissen zu unterscheiden– und die aktuelle Situation gab mir reichlich Gelegenheit dazu.

Spontan hatte ich eine Mischung aus Schuldgefühlen, Angst und Wut (authentische Gefühle). Dazu kamen ziemlich wüste Bewertungen über meine Nachbarn („alles Blockwarte“) und Pseudogefühle („fühle mich kontrolliert“ ist kein Gefühl). Nach ca. 15 Minuten, in denen ich, so gut es ging, mit meinen Gedanken und Gefühlen in Kontakt war, kam langsam Klarheit über meine wesentlichen Bedürfnisse, die in mir ziemlich unerfüllt waren, nämlich „Klarheit/Verstehen“ und „Entspannung“.

Menschen tun nichts anderes, als sich ihre Bedürfnisse zu erfüllen

Der nächste Schritt in der GfK heißt, eine konkrete Handlung zu finden (oder eine Bitte zu formulieren), die meine Bedürfnisse erfüllen könnte. Durch die paar Minuten Selbstempathie war ich ruhiger geworden – was mir wieder mal zeigte, dass ich selbst für meine Gefühle verantwortlich bin. Der Zettel war nur der Auslöser, nicht Ursache meiner Gefühle. Ich war jetzt sogar ein bisschen neugierig darauf, herauszufinden, was es mit der Sache auf sich hat. Im Gespräch mit der Nachbarin stellte sich dann heraus, dass sie zu viel Angst hatte und sich schützen wollte. Und so wählte sie den Weg über den anonymen Brief. Ihre Worte haben mich berührt – und sie konnte auch verstehen, wie es mir damit ging. So haben wir die Situation geklärt und können uns jetzt wieder entspannter begegnen.

Was meine ich mit Selbstempathie? Die GfK schult unser Denken und Fühlen durch verschiedene „Schlüsselunterscheidungen“. Während der Phase der Selbstempathie habe ich versucht, diese vier Schritte innerlich klar zu bekommen:

  1. Beobachtung von Bewertung unterscheiden,
  2. Gefühle von Gedanken unterscheiden,
  3. Bedürfnisse von Handlungen unterscheiden,
  4. Konkrete (Handlungs-)Bitten von allgemeinen Wünschen unterscheiden.

Bedürfnisse verbinden uns Menschen

Gefühle sind immer mit Bedürfnissen verbunden, und der gleiche Auslöser (Beobachtung) kann völlig unterschiedliche Gefühle hervorrufen. Sinn dieser Selbstreflexion (Selbstempathie) ist es, wieder die Verantwortung für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu übernehmen und in einen verständnisvollen Kontakt mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu kommen.

Die „Vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation“ bringen Klarheit

Finde die Beobachtungen, die deine Gefühle auslösen – trenne sie von deinen Bewertungen.

Nimm deine Gefühle wahr – unterscheide sie von deinen Gedanken.

Verbinde deine Gefühle mit Bedürfnissen in Dir – statt mit Handlungen im Außen.

Formuliere konkrete Handlungen, die deine Bedürfnisse erfüllen – statt allgemeine Wünsche.

Bedürfnisse
Leben, Sicherheit, Identität, Zugehörigkeit, Sinn, Nähe, Intimität, Liebe, Verständnis, Beitragen, Vertrauen, Erholung, Autonomie, Transzendenz

Nach meiner Erfahrung entsteht diese mitfühlende Verbindung immer dann, wenn Menschen einen spürbaren Kontakt zu den Bedürfnissen – den eigenen und denen ihres Gegenübers – erleben. Dann fallen die Schranken im Kopf weg und wir können uns und andere Menschen wieder in ihrer ganzen Menschlichkeit sehen und anerkennen – was nicht heißt, dass wir alles gut heißen, was andere tun!

Die Stärken der GfK – die Praxis für „gelbe Integration“

Die Werteebene der GfK liegt nach Spiral Dynamics im „grün/gelben“ Bereich. Das gelbe vMeme wird oft mit Integration beschrieben und für mich sind die „Vier Schritte der GfK“ meine tägliche innere Arbeit, eine Art Dauermeditation, um diese Integration praktisch zu machen, um hinter Feindbildern und Schuldzuweisungen wieder das Menschliche zu finden, das uns alle verbindet.

Ich erlebe oft, wie Menschen dabei einen nachhaltigen Schritt zu mehr Mitgefühl und Verständnis machen. Auch Gruppen und Arbeitsteams erreichen mit Hilfe der GfK ein Arbeitsklima, in dem sich „orange“ Effizienz und „grüne“ Menschlichkeit vermählen und etwas von der synergetischen „Kraft des Wir“ erlebbar wird.

Ein Schatten der GfK: „weichgespülte“ Kommunikation – „nett statt echt“.

Dies geschieht allerdings nicht durch ein rein kognitives („kopfiges“) Studium der „Vier Schritte der GfK“. Die wesentliche Arbeit besteht in der emotionalen Transformation von emotionalen Erfahrungen und belastenden Überzeugungen („Glaubenssätzen“), um die Bedürfnisse hinter diesen Gefühlen wieder zu spüren.

Durch den authentischen Kontakt mit ihren Bedürfnissen erleben Menschen, dass sie besser für sich sorgen können. Sie erfahren, dass ihre innere Klarheit und Verbundenheit auch im Außen wirkt – meist sogar ohne Worte – und sie so zu einem positiven Wandel in ihren Beziehungen mit Partner/innen, Familienmitgliedern oder Arbeitskollegen beitragen können.

Blinde Flecken und Schattenseiten – auch in der GfK

Durch mein Studium der integralen Theorie habe ich die Stärken der GfK noch mehr schätzen gelernt, aber auch die „Verlockungen“ und Schattenseiten entdeckt. Einige der typischen blinden Flecken, die man dem grünen vMeme vorhält, sind:

  • „Weichgespülte“ Kommunikation („nett statt echt“)
  • Subtiler Dogmatismus („Wir sind besser, aber sagen es natürlich nicht.“)
  • Entscheidungsschwäche („ewige Diskussion, bis alle glücklich sind“)

Diese Schattenseiten kann man auch mit Menschen erleben, die behaupten, die GfK zu praktizieren. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass diese Probleme weniger in der Methode selbst, sondern im mangelnden Verständnis bzw. fehlender Integration liegen.

Natürlich besteht immer die Gefahr, dass man aus „Gewaltfreiheit“ einen Psycho- Perfektionismus und dogmatischen Anspruch macht – der dann schnell wieder zu neuer Gewalt führt. Ein ungesunder Psycho-Perfektionismus zeigt sich etwa, wenn Wut und Ärger unterdrückt oder zensiert werden. Anstatt sich ehrlich einzugestehen, dass man stinksauer ist, sagt man sich, man sei ja so „gewaltfrei“. Das ist nicht im Sinne des Erfinders. Wut und Ärger sieht die GfK, wie alle „negativen“ Gefühle, als wichtige Signale, die uns auf unerfüllte Bedürfnisse hinweisen.

Ein anderer blinder Fleck, ein unbewusster Dogmatismus, fühlt sich auch in der „GfK-Szene“ recht wohl und ist schwieriger zu „heilen“. So habe auch ich in meiner Anfängerzeit eine Weile „GfKPolizist“ gespielt, tiefblau sozusagen, streng darüber wachend, dass man „richtig GfK“ spricht. Der schreiende Widerspruch war sicher allen deutlich, nur mir nicht.

Aussagen wie „nicht verurteilen“ und „Bewertungen in Bedürfnisse übersetzen“ scheinen schnell missverstanden zu werden als „gar nicht mehr bewerten“. Heute halte ich das für ein (gefährliches) Missverständnis – und die Klarheit darüber habe ich erst in der Integralen Theorie gefunden.

Gewaltfrei kommunizieren heißt, „besser zu bewerten“ und nicht „nicht zu bewerten“. Als Menschen bewerten wir ständig. Schon die Feststellung, ob ein Bedürfnis erfüllt ist oder nicht, ist eine Bewertung. Darüber hinaus schätzen Anhänger der GfK Mitgefühl als besser ein als Gewalt. Ohne Bewertungen geht es also nicht, auch nicht in der GfK. Die „Übersetzung“ von Bewertungen in Gefühle und Bedürfnisse ist eine bessere Bewertung, weil sie die (Selbst-) Verantwortung fördert und zur Verständigung und Versöhnung zwischen Menschen beiträgt.

Ich habe durch die Gewaltfreie Kommunikation gelernt, zu meinen Werten zu stehen und diese täglich mehr zu leben, ehrlich(er) zu bleiben und einen verständnis- und liebevolleren Blick auf Menschen zu werfen. Sie ist mein Weg, einen Beitrag zu einem friedlicheren Miteinander aufdiesem Planeten zu leisten. Ich würde mich freuen, wenn ich Sie, liebe/r Leser/in, neugierig gemacht habe, diese Methode einmal kennenzulernen – das würde ein paar meiner Bedürfnisse erfüllen und Ihre hoffentlich auch.

Literatur:

Marshall B. Rosenberg: Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Ein Gespräch mit Gabriele Seils, Herder Verlag 2004

Webseiten:

www.cnvc.org

www.gewaltfrei.de
www.knotenloesen.info
www.markus-sikor.de/blog

Markus Sikor, Jg. 1967, seit 1997 selbstständig als Trainer, Ausbilder für Mediation (Bundesverband Mediation), seit 2003 als anerkannter Trainer für Gewaltfreie Kommunikation für das Center for Nonviolent Communication (USA).


aus: integrale perspektiven Nr. 18 – 03/2011

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