Ken Wilber
Einleitung von Core Integral
Kens Lehre beschäftigt sich viel mit einem „Integralen Zeitalter an der Spitze der Entwicklung“ [„an integral age at the leading edge“]. Er spricht oft von einer Welle oder Kultur des Bewusstseins, die auf etwas basiert, das man als integrale Prinzipien beschreiben kann. Dabei wird ihm manchmal vorgeworfen, dass er zu wenig über die schwierigen Hürden auf dem Weg in ein integrales Zeitalter spricht. Das folgende Gespräch von Ken beschäftigt sich mit einer dieser Schwierigkeiten.
Es wurde inspiriert von Daniel Jonah Goldhagens kürzlich erschienenem New Republic Artikel, der die Überschrift trägt „Ending Our Age of Suffering“ [Ein Ende für unser Zeitalter des Leidens]. Der Titel könnte die Notwendigkeit von Kontemplation nahelegen, doch worum es Goldhagen geht, ist das Thema Völkermord, das wahrscheinlich schwierigste Thema, dem wir uns auf dem Weg unserer kollektiven Evolution gegenübersehen.
Ken liest Passagen aus dem Artikel vor und kommentiert sie aus einer AQAL Perspektive. Zuerst wird das Ausmaß der Thematik erwähnt: 100 Millionen Menschen und mehr sind durch Völkermord gestorben, eine Anzahl von Opfern, die deutlich höher liegt als die Opferzahlen moderner Kriegsführung. Dann wird darauf hingewiesen, dass es als unsere kollektive Verantwortung nicht nur darum geht, den Völkermord zu stoppen, sondern überhaupt erst einmal grundlegend zu verstehen, was Völkermord ist und warum er sich auf so fürchterliche Weise weiter ausbreitet.
Die Interpretationen der Aussagen Goldhagens durch Ken verorten den Völkermord überwiegend im unteren linken Quadranten, wo wir die kulturellen Überzeugungen für die Vernichtung anderer Völker finden, und nicht vorrangig im unteren rechten Quadranten eines systematischen Tötungsverhaltens. Die Vorstellung der Vernichtung ist verwurzelt in den linksseitigen Quadranten und angetrieben durch Schattenprojektionen auf „die anderen“. Sie sind der Antrieb für eine Vernichtungsstrategie in fünf Schritten: erzwungene Veränderung, Unterdrückung, Vertreibung, Verhinderung von Fortpflanzung, Vernichtung. Jede davon drückt sich im kollektiven Verhalten des unteren rechten Quadranten aus, gründet sich jedoch in gemeinschaftlichen ethnozentrischen Überzeugungen.
Ethnozentrik ist unfähig, sich eine Welt außerhalb zweier antagonistischer Kategorien vorzustellen: schwarz versus weiß, wir gegen sie, Bosnier gegen Serben. Die entwicklungsbedingte Einschränkung macht alle, die nicht zu „uns“ gehören zu „anderen“, zu Untermenschen. Sie bereitet die Bühne für kollektive Projektionen und liefert die Begründung für deren Auslöschung. Machen wir uns dann noch klar, dass die meisten ethnozentrischen Vorstellungen von den Weltreligionen gestützt werden und dass Vernichtungsfeldzüge eine religiöse Basis brauchen, dann wird Völkermord schnell zu „Gotteswerk“.
An dieser Stelle unterscheidet sich Goldhagens Sicht von der von Ken, und es gilt beide Aspekte zusammenzubringen. Goldhagen argumentiert, dass Vernichtung und Völkermord zu einem Hauptanliegen der internationalen politischen Anstrengungen werden sollten, während Ken argumentiert, dass es darum geht, die Weltreligionen aus ihren absolutistischen Gefängnissen zu befreien. Beides zielt in die gleiche Richtung und führt zum gleichen Ziel.
Ken Wilber:
Das Thema heute ist Völkermord, und wie im Artikel beschrieben, wird dieses Thema oft missverstanden, sowohl was das Ausmaß und die Ursachen betrifft, als auch, was die Möglichkeiten betrifft, wie man dem begegnen und einen Völkermord aufhalten kann. Dieser Artikel öffnet einem die Augen, und weist auf etwas hin, was ich seit Langem sage, und zwar, dass die Hauptursache von Krieg in der jüngeren Geschichte nicht in Problemen aus der Perspektive des unteren rechten Quadranten zu sehen ist (Kriege um Nahrung, Güter, Frauen oder Sklaven), sondern dass sie in Themen der linksseitigen Quadranten ihren Ursprung hat. Es geht also vorrangig um unterschiedliche Wertewahrnehmungen, darum, was Werte sind und wie man andere Menschen sieht und behandelt. Solange wir hier nicht in irgendeiner Form ein Durchsickern von Zweiter-Rang-Bewusstheit [second tier] hineinbekommen, in der die Menschen eine Wertestruktur annehmen, die die Geringschätzung und Abwertung anderer Menschen beendet, die nicht die eigene Wertestruktur teilen, solange werden wir weiterhin mit diesen Problemen konfrontiert sein. Aus einem postmodernen Denken heraus scheint es so, dass wir von Völkermord nicht allzu viel sehen, doch er ist heute so verbreitet wie immer, und was die Opferzahlen angeht, scheint er sogar zuzunehmen. Dazu ein paar Bemerkungen [Ken liest aus dem Buch vor]:
Völkermord wird viel diskutiert und kaum verstanden. Er wird viel beweint, doch es wurde nur wenig getan, um ihn zu verhindern. Es scheint sich dabei um eines der schwierigsten modernen Geschehnisse zu handeln, um einen periodischen Kataklysmus, der aus dem Nichts aufzutauchen scheint, oft an weit entfernten Orten wie Indonesien, Guatemala, Kambodscha, Bosnien, Ruanda und Darfur, wo ethnische Konflikte oder Hass außer Kontrolle geraten, so dass wir offenbar wenig dagegen tun können. Bill Clinton sagte angesichts des Massakers an der bosnischen Bevölkerung durch die Serben:„Solange diese Leute nicht müde werden, sich gegenseitig umzubringen, werden solche schlimmen Dinge weiterhin geschehen.“
Die Betonung dabei liegt auf ethnozentrisch, das ist entscheidend. Hat man sich zur weltzentrischen Ebene entwickelt, dann gibt es das nicht mehr, auch wenn man sich immer noch im Ersten-Rang-Bewusstsein befindet. Das führt uns zu der Frage, woran sich die ethnozentrischen Vorstellungen dieser Welt, die 70% der Weltbevölkerung teilen, festmachen, wer sie beherbergt. Das sind die Weltreligionen. Die Weltreligionen könnten als ein Förderband fungieren. Denn sie können Menschen von ethnozentrischen Vorstellungen zu einer Entwicklung weltzentrischer Vorstellungen verhelfen. Das ist wahrscheinlich der bedeutendste Faktor, über den die Menschheit verfügt, um dieses fürchterliche Schlachten zu beenden. Die Zahlen sind schockierend.
Unser Versagen, den Völkermord zu verhindern, liegt nicht in einem Mangel unseres guten Willens und auch nicht daran, dass das Morden sich nicht stoppen lässt, sondern daran, dass wir das Wesen von Völkermord nicht verstehen. Würden wir Völkermord als das verstehen, was er ist, so würden die Lösungen dafür offensichtlicher werden. Es mag eine kühne Aussage sein, dass wir Völkermord noch nicht verstanden haben. Aber nachdem ich das Thema jahrzehntelang studiert habe, bin ich zu dieser Einschätzung gelangt.
Dem stimme ich zu. Auch nach meiner Einschätzung werden die meisten Untersuchungen dazu lediglich aus der Perspektive der rechtsseitigen Quadranten unternommen.
Völkermord ist so entsetzlich, so völlig außerhalb eines normalen sozialen Lebens, so bedrohlich gegenüber dem, was wir von uns und der Welt zu kennen glauben, scheinbar so ganz aus einer anderen Welt, dass wir die Dinge nicht klar sehen können. Wir müssen das Thema und jeden Aspekte davon noch einmal ganz neu betrachten und uns klar darüber werden, was Völkermord ist, wie er beginnt und wie und warum er endet, warum bestimmte Opfer ausgewählt werden, warum die Mörder töten, und, vor allem, was wir tun können, damit das aufhört. Selbst das unfassbare Ausmaß des Problems ist unbekannt. Seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts haben Massenmörder mehr, vielleicht sogar viel mehr als 100 Millionen Menschen umgebracht, eine viel größere Anzahl als die Opfer militärischer Auseinandersetzungen. Völkermord ist daher, wenn wir diese Zahlen zugrunde legen, schlimmer als Krieg. Darüber hinaus besteht bei den meisten Menschen die Vorstellung, dass Massenmörder und Massenmorde, wie die an den Armeniern, Juden, Kurden, Bosniern, Tutsis, in Darfur, ganz abgesehen von der langen Liste weniger bekannter Massenmorde der jüngeren Geschichte, einzelne und ungewöhnliche Ereignisse sind. Doch das ist falsch. Völkermord ist ein systemisches Merkmal moderner Staaten und des internationalen Systems.
An dieser Stelle sollten wir beginnen. Das heißt, dass wir Völkermord als einen systemischen und endemischen Bestandteil der Menschheit betrachten, als etwas, das in einem ethnozentrischen Denken wurzelt. Befindet man sich auf dieser Entwicklungsstufe, dann sieht man – per Definition – alle um sich herum [die nicht dazugehören] als andere, und diese anderen existieren nicht wirklich als Menschen. Sie haben keine Seele, sie sind ungläubig. In einer säkularen Sprache sind es Untermenschen, in einer religiösen Sprache sind es Ungläubige. Ihnen fehlt eine Seele. Es ist daher nicht nur in Ordnung, sie umzubringen, sondern sie zu töten ist eine Pflicht. Dies ist genau die Motivation, die wir bei den Massakern an den Bosniern finden, den Tutsis, den Armeniern. Es ist erstaunlich, und der Antrieb dazu kommt aus den linksseitigen Quadranten als einer ethnozentrischen oder darunter liegenden Entwicklungsstufe und Orientierung.
Das grundlegende Problem dabei ist nicht der Völkermord …
Und das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil Völkermord ein Verhalten im unteren rechten Quadranten ist, wo eine große Gruppe von Menschen versucht, eine andere große Gruppe von Menschen zu vernichten. Es ist eine Verhaltensaktivität, doch das ist nicht der Ausgangspunkt von Völkermord. Der Ausgangspunkt liegt in den linksseitigen Quadranten.
Völkermord, wie auch immer wir ihn definieren, ist Ausdruck eines umfassenderen und grundlegenderen Phänomens, und das ist Vernichtung [eliminationism]. Politische und soziale Konflikte zwischen Gruppen gibt es in allen menschlichen Gesellschaften. In vielen Gesellschaften werden Gruppen als schädlich für das Wohlergehen der Mehrheit gesehen. Manchmal ist es eine Minderheit mit Macht. Wie das entsteht, und wie bestimmte Eigenschaften auf diese Gruppen projiziert werden, ist sehr unterschiedlich. Aber wenn es geschieht, dann wird die Bedrohlichkeit dieser Eigenschaften als so stark empfunden, dass man diese Gruppe vernichten oder ihre Fähigkeit Schaden anzurichten zerstören möchte. Dabei wird jede der folgenden fünf Stufen und Möglichkeiten der Vernichtung angewandt: erzwungene Veränderung, Unterdrückung, Vertreibung, Verhinderung von Fortpflanzung oder Vernichtung. Welche dieser Maßnahmen auch zum Einsatz kommt, das Verlangen, andere Menschen oder Gruppen von Menschen zu vernichten, ist dabei das Kernproblem.
Unabhängig davon, was konkret bei einer Gruppe von Menschen im unteren linken Quadraten abgelehnt wird, haben alle fünf der genannten Maßnahmen das Ziel, die Bevölkerungsgruppe zu eliminieren, welche diese abgelehnten Merkmale, die man auf sie projiziert hat, den negativen Schatten, verkörpert. Um diesen Schatten loszuwerden, ist der einfachste Weg der, dass man die Menschen loswird, auf die man den Schatten projiziert hat. Daher liegt der Ursprung dafür in den linksseitigen Quadranten, und die daraus resultierenden Aktivitäten zeigen sich im unteren rechten Quadranten.
Weil die fünf genannten Maßnahmen zusammen eingesetzt werden können, werden sie typischerweise auch gleichzeitig angewandt. Die Türken haben das gegenüber den Armeniern gemacht, die Deutschen gegenüber den Juden, die Sudanesen haben das gegenüber ihren Opfern gemacht wie auch die Serben. Alisa Muratcaus, die frühere Präsidentin der Organisation der Überlebenden von Konzentrationslagern und Folter [The Association of Concentration Camp Torture Survivors] in Sarajevo sagt, dass es das Ziel der Serben war, „die bosnische Bevölkerung zu vernichten, unter Einsatz unterschiedlicher Mittel.“ Manche Menschen wurden in ein anderes westliches Land vertrieben, andere wurden umgebracht, wieder andere wurden versklavt für die persönlichen Bedürfnisse der Serben. Wo immer wir solchen groß angelegten Angriffen wie Vertreibung oder Einkerkerung in Verbindung mit Tötungen begegnen, sollten wir sie sofort als Vernichtungsangriffe erkennen, die zu noch sehr viel größeren Massenvernichtungen führen können. Wir sollten darauf mit all der Kraft und Entschlossenheit reagieren, die wir auch gegen einen Völkermord aufbringen. Was wir keineswegs tun sollten ist, untätig herumzusitzen, mit sinnlosen Diskussionen und Definitionen darüber, ob ein Ereignis bereits die Kriterien für einen Völkermord erfüllt oder nicht, wie wir das gegenüber dem früheren Jugoslawien und Darfur getan haben. Es gilt, zu erkennen, dass den nicht-tödlichen Aspekten eines Vernichtungsanschlages genauso entschieden begegnet werden sollte wie dem Töten.
Der eigentliche Ursprung, der linksseitige Ursprung der Vernichtungen, sollte, mit anderen Worten, erkannt werden als ein entscheidender Teil von allem, was nach einem Völkermord aussieht, anstatt das zu tun, was wir typischerweise tun – herumsitzen und reden, ob bereits genug Menschen umgebracht wurden, damit die Klassifizierung als „Völkermord“ gerechtfertigt ist, was uns erst das Recht gibt einzugreifen. Wir schauen zu, [wie in Ruanda geschehen] wie die Hutus die Tutsis umbringen, bis ein bestimmter Prozentsatz erreicht ist. Erst dann stellen wir fest: „Das ist Völkermord, wir können eingreifen.“ Doch das ist nicht der Ausgangspunkt des Völkermordes und das sollte einen Völkermord auch nicht definieren. [Daher noch einmal]:
Wir wollten erkennen, dass den nicht-tödlichen Aspekten eines Vernichtungsanschlages genau so entschieden begegnet werden sollte wie dem eigentlichen Töten. Dies zu erkennen macht deutlich, dass das Problem, dem wir uns gegenübersehen, viel größer und dringender ist. Völkermord und Vernichtung sollten nicht länger als drittrangige Probleme betrachtet werden, wie es derzeit der Fall ist. Sie sollten im Zentrum gegenwärtiger und zukünftiger Politik stehen.
Es wird noch einmal darauf hingewiesen, dass in der modernen Zeitepoche mindestens 100 Millionen Menschen vernichtet wurden aus Gründen, die nicht kriegsbedingt waren, sondern bei denen wir es im Wesentlichen mit Schattenprojektionen zu tun haben. Diese Vernichtung geschieht auf unterschiedliche Weise, doch die allem zugrunde liegende Ursache ist der projizierte linksseitige Schatten, der dazu führt, dass ganze Gruppen von Menschen eliminiert werden. Das geschieht immer und ausschließlich in ethnozentrischen Ländern, und das Ausmaß ist grauenhaft. Weil es so oft geschieht, wie im Beitrag erläutert, sollte das Thema ganz oben auf der Liste der internationalen Probleme stehen, anstatt dass wir uns einfach zurücklehnen und warten, bis ein neuer Völkermord beginnt. Es ist eine idiotische Debatte, anhand von Zahlen zu entscheiden, ob es sich bereits um einen Völkermord handelt. „Nein, es ist erst ein Drittel der Bevölkerungsgruppe tot, wir können noch nichts machen, wir warten, bis die Hälfte umgebracht wurde. Dann können wir eingreifen.“ So wird das derzeit gehandhabt.
Dies bringt uns auf die Ursache von Vernichtung, und das ist die Vernichtung des eigenen Schattens. Das treibt die vielen Arten von Vernichtung an, einschließlich von Völkermord und Holocaust. Eine Gruppe von Menschen hat bestimmte Eigenschaften, die ihnen verwerflich, dämonisch, fürchterlich, schlimm, schlecht, sündhaft usw. erscheinen. Die angemessene Weise zum Umgang mit diesen Schattenaspekten wäre ihre Integration in die Kultur hinein, die diesen Schatten erzeugt. Doch historisch wurde das Problem von Kulturen auf der ethnozentrischen oder noch darunter liegenden Entwicklungsstufen so gehandhabt, dass sie den Schatten auf andere projizierten, und dann diese anderen zu vernichten versuchten. Das ist sehr viel „leichter“ als die eigentliche Aufgabe der Rücknahme des Schattens und die Anerkennung der eigenen Urheberschaft, die dann seine Projektion auf andere Gruppen beendet. Dabei stehen ethnozentrische Kulturen im Mittelpunkt der Betrachtung, und die Tatsache, dass etwa 70% der Weltbevölkerung sich auf einer ethnozentrischen Entwicklungsstufe oder darunter befindet. Das bedeutet, dass etwa 70% der Weltbevölkerung ein Nährboden für Vernichtungen aller Art darstellen. Solange wir diese Kulturen nicht zu einer weltzentrischen Orientierung bringen, werden sie weiterhin eine Quelle von Vernichtung sein. Machen wir uns noch einmal die Zahl von 100 Millionen bisheriger Opfer deutlich, und stellen wir uns vor, dass diese Zahl noch viel größer wird, dann sind wir weit über der Anzahl von Opfern, die durch moderne Kriegsführung umgekommen sind. Moderne Kriegsführung geht ganz allmählich zurück, auch wenn wir sie immer noch haben, – die USA befinden sich gerade in einem Krieg- doch Vernichtungsprogramme scheinen noch zuzunehmen.
Was wir uns dabei anschauen müssen, ist die Art von Vorstellungen und Ideen, die typisch für diese ethnozentrischen Gesellschaften sind. Wir kommen dann zu den Organisationen, die ethnozentrische Ideen halten und haben, und das sind die Weltreligionen. Für fast jedes Vernichtungsprogramm oder jeden Völkermord gibt es eine religiöse Rechtfertigung. Sie kann darin bestehen, dass es eine auserwählte Gruppegibt, die über anderen steht, und die anderen können vernichtet werden. Mit Rechtfertigungen wie dieser verbreitet sich Völkermord. Dies ist einer der Gründe, warum eines der entscheidenden Bemühungen des Integralen Instituts und von „IntegralLife“ darin liegt, eine integrale Spiritualität zu schaffen, oder als das Mindeste, Spiritualität mit einem Verständnis von Entwicklung, das in der Lage ist, Religionen beim Schritt von der Ethnozentrik zur Weltzentrik zu helfen. Das verringert den Antrieb zur Vernichtung. Die Rechtfertigungen und die Motivationen fallen weg, und gleichzeitig wird auch anderen Dingen wie dem Terrorismus der Boden entzogen. Der Terrorismus der letzten Jahrzehnte wurde ganz überwiegend im Namen einer Religion verübt gegen ein modernes Land oder eine moderne Welt, die als gottlos wahrgenommen wird. Gegenüber einer gottlosen Welt besteht die Verpflichtung, diese in die Luft zu sprengen. Das ist die Motivation für die meisten Terroristen in den zurückliegenden Jahrzehnten.
Dies ist ein großes Thema, es ist einwesentlicher Teil der postmodernen Welt. Was die Probleme noch schlimmer macht, ist der Mangel der Postmoderne an einem echten Urteilsvermögen und an Werteunterscheidungen, in denen Gutes von Schlechtem unterschieden wird. Solange wir uns darum nicht kümmern, das bedeutet, dass wir uns um den ethnozentrischen Standpunkt vieler Kulturen kümmern, werden wir uns weiterhin diesem Problem von Vernichtung gegenübersehen. Die Beschleunigung und das Ausmaß derartiger Ereignisse waren mir bisher auch nicht bewusst, doch es ist schockierend. Und wenn man daran denkt, kommen einem all die Namen ins Gedächtnis und man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie es weitergeht. Es ist ein internationales Thema, das ganz oben auf der Tagesordnung stehen müsste und etwas, was wir unbedingt auf eine integrale Weise betrachten sollten. Wir sehen dabei nicht mehr nur das Verhalten im unteren rechten Quadranten, sondern machen uns Gedanken über Wertestrukturen und Schattenprojektionen im unteren linken Quadranten, weil das ausnahmslos den Antrieb liefert für all diese Probleme. Darüber sollten wir uns Gedanken machen.
(Quelle: coreintegral.com, the loft series, The source of genocide Nov. 2011)
(aus: Online Journal 33, 2012)