Ken Wilber
Einleitung der IntegralesLeben Redaktion
China hat über 1,6 Milliarden Einwohner. Als ein Ergebnis der Globalisierung findet in China eine Explosion industrieller und kapitalistischer Produktion statt. Dadurch wurden mehr Menschen in kurzer Zeit aus der Armut herausgeführt als jemals zuvor. Diese Entwicklungen tragen jedoch auch zur ökologischen Krise bei. Es gibt Analysen, die sagen, dass sich die Verschmutzung in China in den nächsten 15 Jahren mehr als vervierfachen wird, wenn der Energieverbrauch und das Autofahren nicht reduziert werden. Wie kann eine gesunde Globalisierung stattfinden, die mehr und mehr Menschen aus der Armut herausführt, ohne negative Einflusse auf die Umwelt?
Und wie kann die chinesische Spiritualität diese Modernisierung überleben und auch die sich daran anschließende unvermeidliche Postmodernisierung?
Frage: Ich bin gerade aus China zurückgekommen und hatte dort mit Nachhaltigkeitsprojekten zu tun. Mein Empfinden in der Sprache des Enneagramms ist, dass China sich von einer 9 zu einer 3 bewegt, einer explodierenden 3, mit einer Kombination aus Kapitalismus und Kommunismus. Kannst du etwas über China sagen?
KW: Bei China dreht sich viel um die enorme Konsum- und Kaufkraft dieser großen Bevölkerung, und wie sie damit umgehen werden.
Jeder, der eine Wertschätzung für östliche Spiritualität hat, schätzt und würdigt China. Früher oder später stößt man auf die Bewegung des Daoismus, Lao Tse, Chuang Tse, usw., eine ganz erstaunliche Tradition [lineage], die seit Jahrtausenden existiert, wirklich erstaunlich. Wir haben es hier mit einer der Wiegen der menschlichen Zivilisation zu tun. Die Theorien schwanken hin und her, die vorherrschende Theorie ist, dass die Wiege der Menschheit in Afrika stand, dass dort der Mensch herkommt. Doch es gibt auch Hinweise, dass auch in China eine Wiege der Menschheit stand. Wie auch immer, China war ganz früh mit dabei. Wir finden dort eine der ganz frühen Entwicklungen der Zivilisation. Im 13. und 14. Jahrhundert hatte China wahrscheinlich die am weitesten entwickelte Zivilisation der damaligen Welt. Sie waren nicht weit von dem entfernt, was wir heute als moderne Wissenschaft bezeichnen, und es gab viele chinesische Pioniere in dieser Richtung. [Joseph] Needhams [Buch] Science and Civilization in China, ein Werk, welches in 9 oder 10 Bänden erschienen ist, und durch das ich mich vor zwanzig Jahren hindurchgearbeitet habe, ist einfach brillant, und zeigt uns, wie weit diese Kultur wirklich entwickelt war. Die Ironie dabei ist, und das erschüttert mich als jemand, der aus dem Westen stammt, dass wir an die Chinesen eine total verdrehte Version marxistischen Denkens exportiert haben, und ihre Kultur damit infiltrierten, und dies auf diese wirklich anspruchsvollen chinesischen Weisheitstraditionen draufgestapelt haben. Ausgerechnet diese Art von Marxismus! [Lachen]. Haben wir ihnen wirklich nichts Besseres anzubieten? Eine Welle nach der anderen unterdrückte die alten Weisheiten dieser Kultur, Weisheiten die wirklich erstaunlich sind.
Das ist das Positive. Das Negative ist, dass wir uns daran erinnern sollten, dass jede Kultur zu jeder Zeit sich von egozentrisch zu ethnozentrisch zu weltzentrisch zu kosmozentrisch entwickelt, und dass eine Kultur sehr ethnozentrisch sein kann, und extrem misstrauisch gegenüber jeder anderen Kultur, und manchmal auch barbarisch, auch wenn die gleiche Kultur in anderen Bereichen hoch entwickelt ist. All das geschieht jetzt. Was noch hinzu kommt, ist die militärische Herausforderung, der sich China gegenüber sieht. Doch sie haben aufgehört weiter ihr Militärbudget zu erhöhen, und das aus einem sehr vernünftigen Grund. Die Kriege, die wir jetzt haben, sind Auseinandersetzungen mit Terroristen und die eigentlichen kriegerischen Auseinandersetzungen verlagern sich in den Cyberspace. Da geht es um Wirtschaft. Thomas [L.] Freedman hat dies sorgfältig untersucht: Nimmt man die Anzahl von Menschen in Indien und China, die in den zurückliegenden ein bis zwei Jahrzehnten aus der Armut befreit wurden durch eine Teilnahme an der Ökonomie des Internet, dann wurden noch nie so viele Menschen in der Geschichte der Menschheit in so kurzer Zeit aus der Armut herausgeführt. Daher ist es nicht richtig, wenn das grüne Mem oder die Postmoderne sagen, dass die Globalisierung Menschen ausschließlich schade. Dies ignoriert völlig das unvorstellbare Ausmaß an Leiden, das durch die Globalisierung schon beendet wurde. Es ist eine sehr selektive Sicht, wenn gesagt wird, dass die Globalisierung ausschließlich schlecht ist. Versteht mich nicht falsch, ich denke, dass die Globalisierung auch schlechte Seiten hat, aber dieses Entweder-Oder-Argumentieren, bei dem die Globalisierung nur wunderbar oder nur schrecklich ist – das fällt jemandem, der integral denkt, sofort auf. Wenn man auf etwas Derartiges stößt, auf gegensätzliche Standpunkte, weiß man genau, wo der eigene Standpunkt dabei ist. Beide Seiten haben uns etwas Wichtiges zu sagen. Es geht darum eine Perspektive oder einen „Raum“ zu finden, in dem alle Argumente Platz haben.
Die Schattenseite dabei ist – und das sind keine Schattenseiten des Vorgangs der Globalisierung selbst, auch wenn es diese auch gibt –, dass das, was globalisiert wird, nicht wirklich tiefergehend und anspruchsvoll ist. Es ist sehr dürftig, was durch die Globalisierung transportiert wird, der kleinste gemeinsame Nenner, und das gleiche gilt für den Cyberspace. Das ist schon problematisch, und all das findet seinen Weg auch nach China. Doch was ist dein Eindruck?
Frage: Ich mag das Bild von der marxistischen Schicht, die sich über die tiefgründige und ehrwürdige chinesische Kultur gelegt hat, und die verhindert, dass etwas davon durchdringt. Und oben drauf auf der marxistischen Schicht gibt es noch eine Schicht orangen Kapitalismus. Es ist wie ein Drink mit unterschiedlichen Flüssigkeiten, und es geht nun darum diesen Drink zu mischen, damit etwas von dem wertvollen alten Erbe nach oben kommt.
KW: Siehst du eine Chance, dass das geschehen kann?
Frage: Das ist meine Frage an dich. [Lachen]
KW: Das habe ich mir gedacht. [Lachen] Ich möchte noch eine Schwierigkeit erwähnen, die dem entgegensteht. Es gibt immer noch keine wirklich ausreichende Unterscheidung zwischen authentischen kontemplativen Formen von Spiritualität und prärationalen magischen und mythischen Formen. Das ist das Problem. Selbst Joe Campbell sagte, dass 99% Mythen so betrachten als seien sie buchstäblich wahr und bezeichnete dies als eine Perversion der Mythen. Wenn jedoch 99%eine Perversion darstellen, und wir keine Sprache haben die 1% zu erkennen, die transrational, kontemplativ und esoterisch sind und die nach wahrer Tiefe streben, dann wird es sehr schwer. Das finden wir auch hier bei uns [in den USA]. Ist es nicht eigenartig, dass wir nur ein Wort dafür haben, wir sagen Religion oder Spiritualität, und darin ist alles enthalten, von den Südstaatenbaptisten bis zu Krishnamurti. Was geht da eigentlich vor? Ich erwähne dabei auch gerne die „liberal“ Medien, für sie gibt es nur zwei Kategorien, wenn es um das Thema geht. Entweder sind es New Age Spinner oder fundamentalistische Spinner. Und wir gehören natürlich in die Kategorie der New Age Spinner, falls ihr das noch nicht gewusst habt. [Lachen]
Es ist unglaublich, wir können reden und schreiben, was wir wollen, über einen integralen Ansatz, der prärationalen Formen von Religion einen Platz gibt, und auch transrationalen Formen von Religion, als Möglichkeiten der Befreiung und des Aufwachens, Möglichkeiten herauszufinden, wer und was man ist – wo es nicht darum geht seine Rolle auszufüllen, die sich ein mythischer Gott für einen ausgedacht hat. Um Letzteres geht es in den meisten Religionen: darum die eigene Rolle im Verhältnis zum großen Anderen auszufüllen. Wenn ich diese Rolle einnehme, werde ich belohnt und komme in den Himmel. Anderenfalls landet man in der Hölle. Ihr kennt all die Witze darüber – wo möchte man wirklich hin? In der Hölle finden all die Partys statt, wo ich gerne hin möchte! All die coolen Leute treffen sich dort, einschließlich derer, die nicht an einen fundamentalistischen Jehova glauben. Wer will schon in alle Ewigkeit mit jemandem wie Pat Robertson[1] zusammensein? [Lachen] Das macht einfach keinen Sinn. Die Kontemplativen waren sich auch einer Hölle bewusst und was dies ist, und es war ihnen klar, schon im 3., 4., 5. und 6. Jahrhundert, dass es sich dabei um psychologische Zustände handelt.
Was für ein Thema …
[1] A. d. Ü.: Marion Gordon „Pat“ Robertson ist ein einflussreicher konservativer Fernsehprediger in den Vereinigten Staaten und Gründer der fundamentalistischen Christian Coalition.
(Quelle: IntegralLife.com, Globalization, Spirituality, and a Sustainable China, aufgenommen am 14.9.2006)
(aus: IP 14, 2009)