Integral motivierte Entwicklungszusammenarbeit in Haiti

Gesellschaft

Integral motivierte Entwicklungszusammenarbeit in Haiti

von Sabine Uhlen

Der Zustand Haitis ist jetzt, nach dem Erdbeben, mehr denn jeein Alptraum, dessen Ende nicht abzusehen ist. DENNOCH, das ist das Motto von Peter Hesse und seiner Stiftung. Der Name „Solidarität in Partnerschaft für eine Welt in Vielfalt“ ist mehr als nur Logo.

Leitprinzipien lassen Visionen lebendig werden

Der Gründer und Vorsitzende der Stiftung, Peter Hesse, ist integral informiert, schätzt Ken Wilber, kennt persönlich viele internationale Integrale, vor allem Rupert Sheldrake. Als ein sich ständig entwickelndes, lernendes System auf verschiedenen Ebenen, so versteht der Gründer sich selbst, die Stiftung und die Welt. Er denkt und handelt aus einer ganzheitlichen Perspektive, was sich auch in folgenden Leitprinzipien aus seinem Buch „Vision works“ widerspiegelt:

  • TRANSPARENZ aller Entwicklungsziele, Absichten, Pläne und Aktivitäten
  • SUBSIDIARITÄT (Entscheidungsfindung auf der niedrigstmöglichen Ebene), Präferenz für die kleinstmögliche Einheit
  • PARTIZIPATION aller, die betroffen sind, für eine wahrhaft integrale Entwicklung, und
  • NACHHALTIGKEIT der natürlichen Umwelt, der Grundlage aller Existenz und unseres kulturellen Erbes.

Alle seine Prinzipien gelten für Peter Hesse auch in seinem nationalen und internationalen politischen Engagement.

Ich kenne Peter Hesse schon seit meiner Studentenzeit und habe den Aufbau seiner Arbeit interessiert und zunehmend auch engagiert verfolgt. Seit 2008 bin ich Vorstandsmitglied der Stiftung.

Schon vor dem Erdbeben hatten wir Flugtickets nach Haiti gebucht. Wir (mein Mann, Filmer, ein befreundeter Kameramann und ich) wollten der Stiftung einen Film über ihre Arbeit in Haiti schenken. Peter Hesse und Carol Guy- James Barrett, Montessori-Fachfrau und seit 25 Jahren „Seele“ des Projektes, organisierten die Reise und flogen natürlich mit uns zusammen.

Durch das verheerende Erdbeben kamen erhebliche zusätzliche Aufgaben auf uns zu, so z.B. die Bestandsaufnahme der Beschädigungen, Gespräche mit den betroffenenLehrerinnen, Planung des Neuaufbaues von Schulen und des Ausbildungszentrums, Beschaffung von Nahrungsmitteln und Medikamenten und Exploration traditioneller Stressbewältigungsstrategien sowie Planung und Integration moderner Trauma- (Stress)- Bewältigungstechniken in die Montessori-Ausbildung.

Persönliche Eindrücke einer bewegenden Reise

Die Reise hat uns alle tief bewegt. Besonders berührt war ich, intensiv, fast fröhlich singende und tanzende Menschen in Leogane, dem Zentrum des Erdbebens, zu erleben. Ich war bedrückt, beklemmt über das viele Elend, mit dem ich konfrontiert war. Zerstörte Häuser und Zeltstädte ohne Ende. Schilder an den Zeltstädten: „We need help.“

Befreiend zu tanzen, mitzutanzen, zumindest einige Minuten zu vergessen. Auch wir können von den Haitianern viel lernen – Leben im Augenblick.
In Liancourt, dort wo unser neues Ausbildungszentrum aufgebaut wird, hatte ich weitere intensive Erfahrungen. Abends zwischen 22 und 23 Uhr hörte man in der Nachbarschaft die Menschen singen. Kirchenlieder mit dem typisch karibischen Einschlag, sehr rhythmisch, bewegend. In der zweiten Nacht hatte die Musik gerade aufgehört, als ich ein Beben der Erde spürte, nicht so stark. Kurz darauf fing das Singen wieder an, diesmal hatte es eine völlig andere Qualität. Es war mehr ein Schreien, ein Rufen – Verzweiflung und Angst. Auch kam jetzt eine Trommel hinzu – die sonst verpönt ist, weil sie zum Voodoo gehörig angesehen wird. Alles war dunkel, der Himmel sternenklar und auch ich hatte Angst. Ich schaute zur Decke und überlegte, ob ich die Anderen wohl wecken sollte, aber alles blieb ruhig. Ich dachte daran, was wir in der Welthungerhilfe gehört hatten: Zwei Caritas-Mitarbeiter waren tags zuvor entführt worden, die Hilfsorganisationen wurden nervös. Hatte ich vielleicht falsch entschieden, doch zu fliegen? Nein, es war richtig, meine Kinder wussten um die Gefahr und trugen die Entscheidung mit.

Ich konnte nun meine Trauma-Bewältigungstechniken, Butterfly-Hug u. a., an mir selbst ausprobieren, und erfahren welche mich am meisten beruhigten. Als aber nach zwei Stunden die Erde erneut bebte, war es mit aller Technik vorbei. Wieder waren ca. eine halbe Stunde später das Schreien und die Trommel zu hören. Am Morgen wachten die Anderen auf, hatten gut geschlafen und glaubten mir zunächst nicht, dass es zweimal gebebt hatte – in Port au Prince waren es Stärken von 4,5 gewesen.

Als Psychiaterin war ich gewohnt, immer die Erde als das verlässlichste Element anzusehen: „sich erden“. Nun spürte ich in Haiti immer wieder ein leichtes Zittern der Erde, dreimal auch ein deutliches Beben, sah, wie Straßen Risse hatten, Gräben sich auftaten. Nichts scheint mehr verlässlich. In der Nacht, in der ich wach lag, das Singen hörte, die Angst der Menschen erlebte und selber Angst hatte, spürte ich, dass plötzlich etwas aus mir heraus explodierte, mein Körper und alle Grenzen sich auflösten in eine unendliche Weite.

Zurück hier in Deutschland brauchte und brauche ich lange Zeit, um die Erfahrungen zu verarbeiten. Insgesamt hat die Reise mich inspiriert, belebt, motiviert, mich noch weiter zu engagieren, in meinem „Haus am Kaiserberg“, im integralen Bereich und natürlich auch in der Stiftung.

Alle Quadranten, Linien und Ebenen berücksichtigen

Als „Wilber-Fan“ versuche ich, nachträglich die Stiftung in einen AQAL-Kontext zu setzen unter der Fragestellung, ob die Stiftung u.a. deshalb so erfolgreich arbeitet, weil sie schon viele Quadranten, Linien und Ebenen bedient:

Der Stiftungsgründung ging ein Bewusstseinssprung (im oberen, linken Quadranten) des Gründers voraus, der den „Geist/Spirit der Stiftung“ (unterer, linker Quadrant der Stiftung) ausmacht. Die Erkenntnis „Das Ganze wächst durch Lernen“ war eine der tiefen Intuitionen (OL) des Gründers, die er in einer differenzierten Lernspirale beschreibt – bis hinauf zur kosmischen Ebene. Diesem Bewusstsein entsprechen die Werte der Stiftung im unteren linken Quadranten – sie werden gelebt!:

  • Einheit in Vielfalt
  • Qualitatives statt quantitatives Wachstum
  • Undogmatische Spiritualität, die Liebe und Compassion ermöglicht

Diese Werte, die eingangs genannten Leitprinzipien sowie „action goal“ wie ERMÄCHTIGUNG (empowerment) aller, die keine Macht haben, KAPAZITÄTSENTWICKLUNG aller Selbsthilfe-Strukturen und EIGNERSCHAFT (ownership) all derer, die sich selbst entwickeln wollen, konkretisieren sich in den Projekten (von der Stiftung ausgebildete Montessori- Lehrerinnen eröffnen eigene Vorschulen in Armengebieten, d.h. funktionale Strukturen „unten rechts“) und bewirken die erstaunlichen Lernentwicklungen benachteiligter Kinder, die nach dem Montessori- Prinzip unterrichtet werden.

In der Montessoripädagogik werden nicht nur die 3- bis 6-Jährigen kindzentriert unterrichtet. Jedes Kind hat unterschiedliche Begabungen (Wilber spricht hier von den Talent-Linien), lernt verschieden schnell (unterschiedliche Kognitionsfähigkeit und typologische Unterschiede) in unterschiedlichen Bereichen (Linien). Durch Anerkennung und Anpassung der Pädagogik an dieses Wissen werden die Kinder optimal gefördert (in beiden oberen Quadranten).

Hilfe zur Selbsthilfe

Hilfe zur Selbsthilfe ist eines der Leitmotive von Maria Montessori (Ebene „grün“ im Sinne von Spiral Dynamics). Entwicklungsimpulse sind dem Menschen innewohnend (Wilber spricht hier von Eros als aufwärtsstrebender Kraft) und können sich entfalten, wenn man ihn nicht hindert, sondern eine förderliche Umgebung (materiell „unten rechts“ und atmosphärisch „unten links“) zur Verfügung stellt – so wie es bei der Montessori-Ausbildung Programm ist. Dies gilt nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Die von der Stiftung ausgebildeten Lehrerinnen werden ermutigt und unterstützt, sich weiter zu entwickeln, d. h. konkret „Mini“-Wirtschaftsunternehmen – eigene Schulen, unsere Partnerschulen – zu gründen für ihre nachhaltige Existenzsicherung. Getragen werden diese Schule durch ein geringes Schulgeld. Da die Lehrerinnen aus Dörfern kommen und dorthin zurückgehen, sind sie weiterhin in ihrem Familiensystem aufgehoben und benötigen nicht viel Geld für ihren Lebensunterhalt.

Durch das System der Transparenz, insbesondere der Geldvergabe, werden Entwicklungsanreize geschaffen. Nur die, die hoch motiviert sind und etwas einbringen (finanziell oder ideell), werden gefördert (keine ungesunde „grüne“ Gleichbehandlung).

Durch strikte Transparenz kann einem der großen Probleme Haitis – Korruption (eine Ausprägung der noch wahrscheinlich verbreiteten Bewusstseinsebene „Rot“) – zumindest teilweise der Boden entzogen werden. So entwickelte sich ein sich selbst tragendes und vervielfältigendes System (haitianische Lehrerinnen bilden selber wieder Lehrerinnen aus) in einem Land, welches schon vor dem Erdbeben chaotisch (die Ordnung und Sicherheit der „blauen“ Ebene ist noch nicht erreicht) und extrem arm war. Auch nach dem Erdbeben gilt: Es geht DENNOCH weiter. Montessori-Vorschulerziehung auf internationalem Niveau ist weiterhin in Armenvierteln Haitis möglich und wird noch ausgebaut.

Zur Peter Hesse Stiftung

Die Stiftung ermöglicht hochqualifizierte Montessori-Vorschulerziehung in Armutsgebieten, arbeitet vor allem in Haiti.
Mit jährlich 50.000 bis 60.000 Dollar wurden ca. 800 Lehrerinnen ausgebildet und ca. 50 Vorschulen initiiert, die sich alle stiftungsunabhängig in haitianischer Eigentümerschaft befinden.
Weitere Informationen: www.solidarity.org


Quelle IP 16 – 07/2010

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