Quantenwirklichkeit und Aufstellungen

Gesellschaft

Quantenwirklichkeit und Aufstellungen

Michael Habecker

Einleitung der Online Journal-Redaktion

Seit Ken Wilbers Quantum Questions, erschienen 1985, haben diejenigen, die den Versuch unternehmen, die Gesetze der Quantenwirklichkeiten auf etwas anderes zu übertragen als auf die Quantenwirklichkeiten selbst, einen schweren Stand – vorausgesetzt, sie nehmen Wilbers Argumente zur Kenntnis[1]. 

Diese Kenntnisnahme ist kürzlich durch die Zeitschrift praxis der systemaufstellung erfolgt, nachdem in dieser Zeitschrift (2/2007), herausgegeben von der Gesellschaft für Systemaufstellungen, ein Artikel zum Thema abgedruckt wurde[2].

Der Artikel wird von der Redaktion der Zeitschrift wie folgt vorgestellt (s. 15):

Die Redaktion hält den folgenden Artikel von Michael Habecker für sehr lesenswert, auch wenn er sich kritisch und ablehnend zu Punkt drei unserer Leitlinien und dem Vorhaben äußert, die repräsentierende Wahrnehmung im Licht der Quantenphysik zu betrachten. Habecker argumentiert unter Berufung auf Ken Wilber klar, verständlich und einleuchtend. Unserer Meinung nach macht aber seine Gedankenführung weder den Versuch überflüssig, in Bezug auf das Verstehen des Aufstellungsphänomens bei der Physik und in ihr bei der Quantenphysik als einer Grundlagenwissenschaft für das Verstehen von Wirklichkeit nachzufragen, noch betrifft sie die entscheidenden Aussagen der Quantenphysik (die allerdings auch unter Physikern sehr unterschiedlich in ihrer Reichweite und Konsequenz gedeutet werden).

Nachfolgend der Artikel zum Thema.

Quantenwirklichkeit – Systemische Aufstellungen – Mystik

In seinem 1985 erschienenen Buch „Quantum Questions“ hat der amerikanische Autor Ken Wilber das seinerzeit sehr populäre Thema einer Ähnlichkeit oder gar Gleichheit der Aussagen der Quantenphysik mit den Aussagen der spirituellen Traditionen („Das Tao der Physik“) aufgegriffen und dargelegt, dass derartige Gleichsetzungen oder Vergleiche auf eine katastrophale Weise verkehrt sind und sowohl der Quantenphysik als auch der Mystik erheblichen Schaden zufügen.

An der Aktualität dieser Thematik hat sich seither nichts geändert. Ein aktueller „Fall“ aus dem deutschsprachigen Raum ist die Ausgabe 1/2007 der Zeitschrift Praxis der Systemaufstellung, die einen weiteren Versuch in einer langen Reihe von Versuchen unternimmt, Quantenphysik und – in diesem Fall – Aufstellungsarbeit (und Spiritualität) zusammenzubringen. 

So heißt es auf S. 5 unter der Überschrift Unsere Leitlinien für die „Praxis der Systemaufstellung“ unter Punkt 3:

Eine Wissenschaft kollektiver Phänomene [als Leitlinie], die sich unter anderem auf Feldtheorien der Biologie und der Quantenphysik (zum Beispiel das Konzept nonlokaler Verschränkungen) stützt und die diese Theorien in ihrem Potenzial auch für menschliche Systeme untersucht und nutzt. Diese Wissenschaft kommt in ihren Befunden denen der Spiritualität nahe. Systemaufstellungen kommen über das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmungen mit solchen Theorien in Verbindung. 

In einem Beitrag über das „Phänomen der repräsentativen Wahrnehmung“ schreibt der Autor auf S. 10:

Warum suchen wir für die Frage nach dem Aufstellungsphänomen ausgerechnet bei der Quantenphysik nach einer Antwort, die doch auch wissenschaftlich gesehen eher weitab von dem zu liegen scheint, womit wir es im helfenden Umgang mit Menschen zu tun haben? … Der Blick auf die Theorien und Ergebnisse der Quantenphysik scheint mir deswegen auch für uns sehr lohnend, weil diese ein neues ganzheitliches Verständnis von Wirklichkeit erlauben und damit … auch neue Sichtweisen auf Bewusstsein und Unbewusstes, auf Seele und Geist eröffnen.

Soweit ich das beurteilen kann, gibt es derzeit kein anderes wissenschaftliches Modell, das der „seelischen Teilhabe“ ohne Informationsübermittlung, wie wir sie über Aufstellungen häufig erfahren, derart entgegenkommt.

Und in einem Beitrag über Die Aufstellungsarbeit im Licht der Quantenphysik wird ausführlich über Quantenmechanik, Nichtlokalität, verschränkte Teilchen und „Quantenphysik als Erklärung von Bewusstsein“ diskutiert, mit Bezug zu systemischer Aufstellungsarbeit.

Was geht hier vor?

Ebenen der Wirklichkeit und Emergenz 

Ein wesentliches Merkmal der manifesten Wirklichkeit ist das der Entwicklung. Aus einfachsten materiellen Anfängen („Am Anfang war der Wasserstoff[3]“) hat sich in einer Folge immer komplexer werdender materieller Formen das, was wir heute um uns herum sehen und aus dem wir selbst bestehen, ausgebildet – eine äußerliche Komplexität, deren Innenseite wir z. B. als Bewusstsein erleben und beschreiben. Diese evolutionäre Abfolge kann unterschiedlich fein beschrieben und unterteilt werden, eine sehr einfache Unterteilung wäre:

Ebene 1: Quantenwirklichkeiten/Quarks/Strings
Ebene 2: Atome
Ebene 3: Moleküle
Ebene 4: Zellen
Ebene 5: Pflanzen
Ebene 6: Tiere
Ebene 7: Menschen

Die Evolution schreitet dabei nach dem Prinzip von „transzendiere und umfasse“ immer weiter fort, was zweierlei bedeutet: 1. Die niedrigeren Ebenen werden in die höheren Ebenen mit aufgenommen und sind für diese buchstäblich grundlegend („umfasse“). 2. Die höheren Ebene fügen jeweils eine neue Qualität oder Emergenz hinzu, die in den niederen Ebenen nicht vorhanden ist und sich aus diesen auch nicht erklären lässt. Ein Atom lässt sich nicht restlos aus den Quantenteilchen erklären, ebenso wenig wie sich ein Molekül restlos aus den Atomen erklärt usw. Dies bedeutet jedoch auch, dass die Gesetzmäßigkeiten einer niedrigeren Ebene niemals das Geschehen einer höheren Ebene beschreiben können. Wenn sie es doch zu tun versuchen, müssen sie das Höhere auf das Niedrigere reduzieren, was dazu führt, dass die gesamte Vielfalt der Erscheinungsformen auf Elementarteilchen oder Prozessse n–dimen­sionaler Räume reduzieret wird, eine neue, „brutale“ Variante des Atomismus, diesmal jedoch noch eine Ebene tiefer angesiedelt. Die gesamte Vielfalt und Emergenz oberhalb der Quantenebenen wird damit ignoriert, und die Gesamtheit aller Entwicklung wird auf den Stand vor 15 Milliarden Jahren zurückgedreht, wo Quantenwirklichkeiten die einzig existierenden Wirklichkeiten waren.

Betrachtet man die obige Aufstellung, dann befindet sich die Quantenwirklichkeit auf Ebene 1, die systemischen Aufstellungen als eine menschliche Aktivität auf Ebene 7 – und die Anwendung der Gesetzmäßigkeiten der Ebene 1 auf die Ebene 7 ist schlicht falsch. Das wäre etwa das Gleiche, als würde man sagen: „Gleichnamige elektrische Ladungen (Ebene 2) stoßen sich ab, also haben wir eine wissenschaftliche Erklärung dafür, warum es Aggression und Abstoßung unter Menschen (Ebene 7) gibt“. Oder: „Elektronen haben auf den Schalen um einen Atomkern jeweils ihren Platz, was die wissenschaftliche Erklärung dafür ist, warum auch in einer Aufstellung am Ende alle(s) seinen Platz hat“. Diese Art des Denkens, wie wissenschaftlich sie auch immer formuliert wird, entstammt einer magischen Bewusstseinsstruktur, wo aufgrund von Ähnlichkeit Gleichheit festgestellt wird: „Weil eine Walnuss die Gestalt eines Gehirnshat, ist der Verzehr vom Walnüssen gut fürs Denken.“

Bereiche und Perspektiven der Wirklichkeit

Eine von vielen Möglichkeiten, Erkenntnisweisen und Dimensionen des in-der-Welt-Seins zu klassifizieren, ist die Unterscheidung von Subjektivität, Intersubjektivität und Objektivität. Praktisch alle Sprachen der Welt haben unabhängig voneinander Personalpronomina oder vergleichbare grammatikalische Konstruktionen entwickelt, mit Pronomina einer ersten Person (ich, mir, mein – subjektiv), Pronomina einer zweiten Person (du, dein, wir[4] – intersubjektiv) und Pronomina einer dritten Person (es – objektiv). Typische Erkenntnismethodiken einer ersten Person (subjektiv) sind beispielsweise Phänomenologie, Meditation und Kontemplation, typische Erkenntnisweisen einer zweiten Person sind dialogische Methodiken wie Hermeneutik, und typische Erkenntnisweisen einer dritten Person sind die objektivierenden Naturwissenschaften. Jede dieser Erkenntnismethodiken und -bereiche hat ihren/seinen eigenen Erkenntniswert, und keine/r lässt sich auf eine/n andere/n reduzieren.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Quantenphysik, dann wird klar, dass wir es hier mit einer objektivierend-beschreibenden Methodik einer Es-Perspektive zu tun haben. Daran ist nichts verkehrt, die Ergebnisse dieser Methodiken der Untersuchung allerkleinster Phänomene sind atemberaubend, aber eben nur in ihrem Geltungsbereich. Und die Reichweite dieser Erklärungen ist die von – mithilfe von Instrumenten – objektiv beobachtbaren Phänomenen der Ebene 1 (siehe oben). Damit ist aber auch klar, dass derartige Erkenntnisse

  • nichts über die höheren Ebenen aussagen können, jedenfalls nichts, was die spezifischen und in Bezug auf die Quantenwirklichkeiten emergenten Charakteristiken dieser Ebenen betrifft (siehe oben), und
  • dass sie nichts über intersubjektive und subjektive Wirklichkeiten und Gesetzmäßigkeiten aussagen können. Diese sind jedoch ganz entscheidend für ein Verständnis dessen, was bei einer Aufstellung passiert. (Weil nicht Elementarteilchen aufeinander prallen, sondern Menschen zueinander stehen und sich bewegen, äußerlich, aber vor allem innerlich).

Das ist kein Fehler der Quantenphysik, sondern dafür ist sie schlicht nicht ausgelegt. Das wäre etwa so, als würde man versuchen, durch subjektive Meditation die (objektive) Länge eines Tisches in Zentimetern angeben zu wollen. Daraus folgt, dass das oben zitierte „ganzheitliche Verständnis von Wirklichkeit“ durch die Quantenphysik eine Illusion ist, und zwar sowohl in Bezug auf die Erklärungsebene als auch auf den Erklärungsbereich. Daraus folgt weiterhin, dass man in der Quantenphysik vergeblich sucht nach Erkenntnissen über menschliche Psychodynamik mit Verdrängung, Projektion und Übertragung; Intersubjektivität, Einfühlungsvermögen und gegenseitigem Verstehen; kulturellen Dynamiken; individuell und kollektiv Unbewusstem; Genealogie, Strukturalismus und Hermeneutik usw. (die eine enorme Bedeutung für das Verständnis der Aufstellungsarbeit haben). So etwas geben Quarks oder Strings einfach nicht her.

Natürlich spielt die Quantenphysik im Rahmen einer Aufstellung mit, wie beispielsweise auch die Gravitation oder der Elektromagnetismus, weil die Quantenebene eine der grundlegendsten Ebenen ist und überall da, wo etwas „ist“, auch die Quantenwirklichkeit vorkommt. Doch das ist nur der allgemeinste der allgemeinen Nenner, der nichts zum Spezifischen einer Aufstellungssituation betragen kann. Die Dramatik einer verdrängten Unversöhnlichkeit, die Schönheit der Vollendung einer unterbrochenen Hinbewegung, die Herzensöffnung bei einer Gegenüberstellung, die Kraft einer ausgesprochenen Versöhnung, der Schmerz einer bewusst gewordenen Lebenssituation, die plötzliche Erkenntnis einer bisher unbewussten Denk-, Fühl- und Handlungsstruktur – all dies wird man vergeblich in der Quantenphysik suchen (Ebene 1), und – in dieser Reichhaltigkeit – auch nicht auf den Ebenen 2-6 finden. Dies sind spezifisch menschliche Qualitäten, die erst mit der Ebene 7 emergiert sind, und um sie zu sehen und zu gestalten, braucht es ein Verständnis dieser Ebene.

Relative und absolute Wirklichkeit

Die spirituellen Traditionen sind sich einig in der Unterscheidung von relativer und absoluter Wirklichkeit (welche in der Nicht-Dualität „nicht-zwei“ sind), und sie sind sich auch einig darin, dass die absolute Wirklichkeit, das Unmanifeste, Tao, GEIST nicht beschreibbar ist (einschließlich dieser Beschreibung), wenngleich GEIST auch „erfahren“ werden kann. GEIST oder absolute Wirklichkeit ist daher auch niemals mit irgendeiner Quantenwirklichkeit gleichzusetzen, da die Quantenwirklichkeiten – im Unterschied zum GEIST – beschreibbare Qualitäten und Eigenschaften haben. Quantenwirklichkeiten sind Teil der relativen, manifesten, sich verändernden Welt. Um Quantenwirklichkeiten zu studieren, muss ich die Perspektive einer Beobachtung relativer Phänomene einnehmen und versuchen, diese mithilfe mathematischer Formeln in Es-Sprache zu beschreiben. Absolute Wirklichkeit hingegen ist ein – durch subjektive Praktiken unterstütztes – Erwachen ins „Hier und Jetzt“ in den zeitlosen und unveränderlichen Hintergrund aller wahrnehmbaren Phänomene, einschließlich der Quantenphänomene.

Durch die fatale Gleichsetzung eines Aspektes relativer Wirklichkeit (der Quantenphysik) mit dem unqualifizierbaren GEIST wird der Eindruck erweckt, man könne mit den auf dieser Ebene (Nr.1) und Perspektive (objektiv/mathematisch) gewonnenen Erkenntnissen alles erklären. Das ist jedoch ein Irrtum.

[1] Siehe hierzu auch das Interview mit Prof. Hans-Peter Dürr unter der Überschrift Am Anfang war der Quantengeist in der Zeitschrift P.M. 5/07.

(http://www.pm-magazin.de/de/heftartikel/ganzer_artikel.asp?artikelid=1944)

Darin wird eine Parallele zum Advaita hergestellt, d. h. die Einheit von Form und Leere („nicht-zwei“) wird gleichgesetzt mit bestimmten quantenphysikalischen Aspekten der Welt der Formen.

[2] http://www.iag-systemische-loesungen.de/?q=zeitschrift_inhalt

[3] Der Titel eines Buches von Hoimar von Ditfurth

[4] Wir ist technisch eine erste Person Plural, da aber die Voraussetzung eines „Wir“ Intersubjektivität ist, kann das „Wir“ diesem Bereich zugeordnet werden.

(aus: Online Journal 9)

Ähnliche Beiträge