Schatten, Licht & National-Seele

Gesellschaft

Schatten, Licht & National-Seele

Michael Habecker

Der Grundsatz der vergangenen Ichzeit, dass jeder, der Menschenantlitz trägt, gleich sei, zerstört die Rasse und damit die Lebenskraft des Volkes.

– Nationalsozialistisches Strafrecht, Denkschrift des Preußischen Justizministeriums, 1933

Wir müssen alle das Gleiche tun, was Deutschland versucht hat, müssen uns aber davor hüten, dass wir nicht in gleicher Weise handeln.

– Sri Aurobindo

In einem Beitrag Die Entdeckung der National-Seele formuliert der große Weise und Mystiker Sri Aurobindo seine Sicht auf den „teutonischen Fall“. Er geht dabei von dem „Streben nach eigener Selbstentwicklung“ als der „obersten Regel und Ursache des individuellen Lebens“ aus. Doch dieses Streben ist nicht nur individuell, sondern „gleicherweise … oberstes Gesetz, oberster Zweck der Gesellschaft, Gemeinschaft oder Nation.“ Aurobindo fährt fort: „Denn auch sie [die Nation] ist ein Wesen, eine lebendige Kraft der ewigen Wahrheit, eine Selbst-Offenbarung des kosmischen Spirits … Dem Individuum entsprechend hat die Nation oder Gesellschaft Körper, organisches Leben, moralisches und ästhetisches Temperament, ein sich entfaltendes Mentales, eine hinter all diesen Zeichen und Kräften verborgene Seele, um derentwillen diese existieren.“

Aurobindo spricht von einer „Gruppenseele“, und meint damit das, wofür im Bereich der vier Quadranten der untere linke Quadrant steht[1]. Dabei sieht er gleichermaßen Licht und Schatten. „Mehr noch, ihr inneres Wesen ist eine große gemeinschaftliche Seele mit allen Möglichkeiten und Gefahren der Gruppenseele“. Diese Gruppenseele ist ebenso kollektiv wie innerlich, und mit den Methoden äußerlich-objektiven Erfassens eines wissenschaftlichen (historischen) Materialismus buchstäblich nicht zu begreifen. Dies beschreibt Aurobindo wie folgt: „Dieses Übergewicht des Objektiven ist so groß, dass die meisten neueren Geschichtsschreiber und einige politischen Denker folgerten, die objektiven Notwendigkeiten seien dank Naturgesetz die einzig wirklich bestimmenden Kräfte und alles übrige nur ihre Folge oder oberflächliche Beigabe.“ Nach historischen Betrachtungen über Irland und Indien wendet sich Aurobindo dann Deutschland zu, das mit seiner großen „subjektiven“ Geistestradition einen „teutonischen Fall“ erlebte, „denn soll das subjektive Zeitalter der Menschheit seine besten Früchte tragen, müssen sich die Nationen nicht nur ihrer eignen, sondern auch der Seele der anderen bewusst werden und lernen, sich gegenseitig nicht nur wirtschaftlich und erkenntnismäßig, sondern auch subjektiv und spirituell zu achten, zu helfen und zu fördern.“ Denn, so könnte man hinzufügen, das Geistige, wenn es lediglich subjektiv und bei sich bleibt, kann ego- oder auch ethnozentrisch sein und bleiben, mit allen Arten von psychodynamischen Problemen, ohne dies selbst zu merken. Erst durch einen, wie wir heute sagen würden, interkulturellen Austausch und Dialog werden die eigenen strukturellen Begrenzungen und Mängel sichtbar.

Aurobindo fährt fort: „Die wirkliche Quelle dieser großen, doch in ihrer objektiven Tat so stark verunstaltete Kraft lag nicht in Deutschlands Staatsmännern und Soldaten … sondern in seinen großen Philosophen Kant, Hegel, Fichte, Nietzsche, in seinem großen Dichter und Denker Goethe, in seinen großen Musikern Beethoven und Wagner und vor allem in der deutschen Seele und Anlage, die diese verkörperten. Eine Nation, deren größter Erfolg fast ausschließlich auf den beiden Gebieten Philosophie und Musik lag, ist klar dafür vorausbestimmt, zum Subjektivismus hinzuführen und wesentlich Gutes wie Böses in den Anfängen eines subjektiven Zeitalters auszulösen.“ Doch einen Weg zurück gibt es für Aurobindo dabei nicht. „Der Missbrauch großer Kräfte aber ist kein Beweis gegen die Möglichkeit ihres richtigen Gebrauchs. Es ist unmöglich, umzukehren. Solcher Versuch ist tatsächlich immer eine Täuschung. Wir müssen alle das Gleiche tun, was Deutschland versucht hat, müssen uns aber davor hüten, dass wir nicht in gleicher Weise handeln.“ Aurobindo fasst zusammen: „Es gibt offenbar einen falschen wie einen richtigen Subjektivismus; und die Irrtümer, denen die subjektive Richtung unterworfen sein kann, sind ebenso gewaltig wie ihre Möglichkeiten und können sehr leicht zu großem Unheil führen. Dieser Unterschied muss klar erkannt werden, soll der Weg dieser Stufe der sozialen Entwicklung für die Menschheit gesichert werden.“ 

Dieser Irrweg, dieser fürchterliche „Subjektivismus“ persönlicher Vorstellungen, Ideen, Einsichten und Inspirationen vor einem unreflektierten Geisteshintergrund wird besonders deutlich an dem einflussreichen Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, geschrieben von Alfred Rosenberg 1930, einem NSDAP Politiker und einem führenden Ideologen dieser Zeit[2]. 

Rosenberg führt darin überwiegend deutsche Geistesgrößen aus Mystik, Philosophie, Kunst und Kultur an, und verknüpft deren Wirken und Werk mit einem fanatischen Antisemitismus und einer rassischen Ethnozentrik. Erwähnt werden unter anderem Meister Eckhart (102 mal), Kant (68), Hegel (6), Fichte (3), Konfuzius (19), Lao-tse (13), Buddha (7), Mohammed (10), Goethe (88), J. S. Bach (48), Hölderlin (13), Beethoven (23), Geist (359 in unterschiedlichen Wortzusammenhängen), Werte (222), Gott (330), Liebe (218), Bewusstsein (104), Seele (514). Dies ist bei Rosenberg kein rhetorischer Trick, sondern er war von dem, was er schrieb, überzeugt. Was uns heute völlig unfassbar und auch undenkbar erscheint, war zu dieser Zeit miteinander vereinbar: höchste spirituelle und idealistische Einsichten und Nationalismus und Rassismus. Eine starke Intuition von etwas Höherem, Größerem, Besserem, Richtigerem und Heiligeren, wie sie Rosenberg wohl hatte, verband ihn mit all denen, die er zitierte.

Das bewusstseinsmäßig phänomenologische Erleben, etwas Besonderes, Auserwähltes, Heiliges zu sein, das damals in Deutschland um sich griff, was auch die Erkenntnisgrundlage der deutschen Idealisten war, erfasste auch die nationalsozialistischen Bewegung. Der Unterschied lag nicht so sehr im zuerst subjektiven, und später kollektiven Erleben dieses Empfindens und Gefühls. Der Unterschied lag (und liegt heute immer noch) in den Strukturen des Bewusstseins und seiner Psychodynamik. Technisch gesprochen könnte man sagen, dass hinsichtlich der „3 S“ (Zustände, Strukturen und Schatten[3]), die Wilber als für das menschliche Bewusstsein wichtige Grundkategorien hervorhebt, bei alleiniger Berücksichtigung der Zustände die aus heutiger Sicht haarsträubende Übereinstimmung von Geistesgrößen wie Kant und Mystikern wie Meister Eckehart mit dem Nationalsozialismus möglich wurde: Eine „idealistische“ Begeisterung für und Erfahrung von etwas Höherem, wie wir sie auch heute erleben, wenn wir von einem neuen Zeitalter (New Age), einem höherem Wir, einer neuen Entwicklungsstufe im Bewusstsein, einem evolutionären Impuls, einer kleinen Schar von Menschen an der vordersten Bewusstseinsfront („leading edge“) usw. sprechen. Daher ist es so unglaublich wichtig, neben den subjektiven, aber auch kollektiven innerlich erlebten Bewusstseinsphänomenen, wie hoch oder spirituell oder absolut sie auch immer sein oder scheinen mögen, die Hintergrundstrukturen des Bewusstseins zu beleuchten, in dem diese Einsichten auftauchen. Noch einmal mit den Worten Aurobindos: „Dieser Unterschied muss klar erkannt werden, soll der Weg dieser Stufe der sozialen Entwicklung für die Menschheit gesichert werden.“ Um Unterscheidungen wie diese zu treffen, kommt eseinmal mehr auf die Qualität der Landkarte an, die wir dabei verwenden, insbesondere der Landkarten, welche die innerlichen Dimensionen des Lebens beschreiben.

Werden diese Unterscheidungen nicht vorgenommen, kommt es zu Vergleichen wie denen von Rosenberg in seinem Buch. Dazu vier „abschreckende“ Textbeispiele, die sich auf Meister Eckehart beziehen:

„Heute endlich beginnt ein grundsätzliches Erwachen aus der Gewalthypnose: nicht von einem Zwangsglaubenssatz, dazu noch jüdisch-römischer-afrikanischer Herkunft, treten wir an das Leben heran, sondern vom Dasein aus wollen wir das Sosein, wie einst Meister Eckehart es erstrebte, bestimmen. Dieses Dasein aber ist die Rassen gebundene Seele mit ihrem Höchstwert der Ehre und der Seelenfreiheit, der die architektonische Gliederung der anderen Werte bestimmt. Diese Rassenseele lebt und entfaltet sich in einer Natur, die gewisse Eigenschaften weckt und andere zurück dämmt. Diese Kräfte von Rasse, Seele und Natur sind die ewigen Voraussetzungen des Daseins, das Leben, aus welchem erst Gesittung, Glaubensart, Kunst usw. sich als Sosein ergeben. Das ist die letzte, innere Umkehr, der neu erwachte Mythus unseres Lebens.“ (S. 251)

„Nun gibt es aber doch noch eine feine Verästelung, in der wir das Wirken des nordischen Wesens verfolgen können: das der deutschen Mystiker. Dieser Mystiker ist bemüht, sich aus den Verstrickungen der stofflichen Welt immer mehr und mehr herauszulösen. Er erkennt das Triebhafte unseres Menschendaseins, Genuss, Macht, aber auch die sogenannten guten Werke als für die Seele nicht wesentlich; aber je mehr er alles Erdenschwere überwindet, um so größer, reicher, göttlicher fühlt er sich innerlich werden. Er entdeckt eine rein seelische Macht und fühlt, dass diese seine Seele ein Zentrum an Kraft darstellt, dem schlechterdings nichts vergleichbar ist. Diese Freiheit und Unbekümmertheit der Seele allem, auch Gott gegenüber, und die Abwehr eines jeden Zwanges, auch eines solchen von seiten Gottes, zeigt die tiefste Tiefe, bis wohin wir den nordischen Ehr- und Freiheitsbegriff hinunter verfolgen können. Er ist jene ‚Bergfeste der Seele’, jenes ‚Fünklein’, von dem Meister Eckehart mit immer neuer staunender Bewunderung spricht; er stellt das innerste, zarteste und doch stärkste Wesen unserer Rasse und Kultur dar. Eckehart nennt dieses Innerste nicht mit Namen, da das reine Subjekt des Erkennens und Wollens namenlos, eigenschaftslos, von allen Formen der Zeit und des Raumes geschieden sein müsse. Wir aber dürfen es heute wagen, dieses ‚Fünklein’, das sich doch als eine verzehrende Flamme gezeigt hat, als das metaphysische Gleichnis der Ideen von Ehre und Freiheit zu bezeichnen. Denn Ehre und Freiheit sind letzten Endes keine äußerlichen Eigenschaften, sondern zeit- und raumlose Wesenheiten, die jene ‚Festung’ bilden, aus welcher der echte Wille und die echte Vernunft ihre Ausfälle in ‚die Welt’ unternehmen. Entweder um sie zu besiegen, oder sie als Notbehelf für Seelenverwirklichung zu benutzen.“ (S. 217)

„Und dann folgt am Schluss ein v ö l k i s c h e s  Bekenntnis [von Eckehart]: ‚Halte dich abgeschieden von allen Menschen, bleibe ungetrübt von allen aufgenommenen Eindrücken, m a c h e  d i c h  f r e i  v o n  a l l e m, w a s  d e i n e m  W e s e n  e i n e  f r e m d e  Z u t a t  g e b e n … könnte, und richte dein Gemüt allzeit auf ein heilsames Schauen: bei welchem du Gott in deinem Herzen trägst, als den Gegenstand, von dem deine Augen nimmer wanken.’“  (S. 235, Hervorhebungen von Rosenberg)

„Der Gott, den wir verehren, wäre nicht, wenn unsere Seele und unser Blut nicht wären“, so würde das Bekenntnis eines Meister Eckehart für unsere Zeit lauten. Deshalb ist Sache unserer Religion, unseres Rechtes, unseres Staates alles, was die Ehre und die Freiheit dieser Seele und dieses Blutes schützt, stärkt, läutert, durchsetzt. Deshalb sind heilige Orte alle die, an denen deutscheHelden für diese Gedanken starben; heilig sind jene Orte, wo Denksteine und Denkmäler an sie erinnern, und heilige Tage sind die, an denen sie einst am leidenschaftlichsten dafür kämpften. Und die heilige Stunde des Deutschen wird dann eintreten, wenn das Symbol des Erwachens, die Fahne mit dem Zeichen des aufsteigenden Lebens das allein herrschende Bekenntnis des Reiches geworden ist.“ (S. 701, Schlusspassage)   

Dieser „neu erwachte Mythus unseres Lebens“, den Rosenberg in seinem Buch heraufbeschwört, führte, als eine unheilige Verbindung von idealistischem Streben und nationalistischem Handeln in die Katastrophe, und zu bis dahin unvorstellbaren Verbrechen. Es ist unsere bleibende Aufgabe die Ursachen dafür zu erkennen und darauf zu achten, dass sich dies nicht wiederholt. Als Deutsche sind wir dafür aufgrund unserer Geschichte in besonderer Weise zuständig und verantwortlich.

[1] Bei der wichtigen Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen einem Ich (dem Individuellen) und einem Wir (dem Kollektiven) hat Wilber einmal mehr Pionierarbeit geleistet. Siehe hierzu Excerpt C der Kosmos Trilogie, veröffentlicht auf www.integrallife.com

[2] Rosenberg war auch Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO), und verfolgte dabei die Germanisierung dieser besetzten Gebiete, bei gleichzeitiger systematischer Vernichtung der Juden. Während des Nürnberger Prozesses 1946 wurde Rosenberg als Hauptschuldiger der NS-Kriegsverbrechen angeklagt, in allen vier Anklagepunkten für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Das Buch ist unter http://www.scribd.com online einsehbar.

[3] Im Original states, stages und shadow. 

(aus: Online Journal Nr. 24)

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