Ken Wilber, aus: Integral Naked
Frage: Ich möchte die Integrale Theorie zur Förderung von Gesundheit anwenden. Ich habe Vorstellungen darüber, wie ich Menschen zu einer Praxis hinführen kann und ihnen dabei helfe, sich zu transformieren. Was mich jedoch interessiert ist: Wie kann ich ihre Sprache sprechen und zu einer horizontalen Gesundheit beitragen?
KW: Ja, das ist eine große, bedeutende Frage … Wie ihr wisst, unterscheiden wir zwischen – mindestens – zwei Arten von Gesundheit (und es gibt viele andere Möglichkeiten der Unterscheidung) und zwar: horizontale und vertikale Gesundheit.
Horizontale Gesundheit bedeutet, auf der Entwicklungsstufe, auf der man sich gerade befindet, so gesund wie möglich zu sein. Das ist wichtig, weil wir alle so viele Jahre der Transformation hinterhergelaufen sind, wir wollen das Bewusstseins transformieren, speziell in den zurück liegenden zwei oder drei Jahrzehnten ging es um Transformation. Wenn man Menschen einige dieser [integralen] Ideen nahe bringt, dann entsteht leicht die Vorstellung, dass es darum geht die 7 oder 8 „Intelligenzen“ (Entwicklungslinien) zu nehmen und sie schleunigst auf türkis [eine hohe Entwicklungsebene] zu bringen. Peng, peng, peng, peng, peng, und das sieht dann etwa so aus wie ein Olympiasieger im Bewusstseinszehnkampf –, aber mehr ist nicht besser, integral bedeutet nicht totalistisch.
Es bedeutet, über die wesentlichen Praktiken integral informiert zu sein. Wenn man dann noch etwas hinzufügen möchte, dann ist das in Ordnung, aber im allgemeinen geht es darum, sich erst einmal auf die vier wesentlichen Grundpraktiken zu konzentrieren [Körper, Verstehen, GEIST und Schatten] und zu schauen, dass sie abgedeckt sind, und dann kann man im weiteren Verlauf noch das eine oder andere hinzufügen.
Also kommt bitte nicht auf die Idee zu sagen, „Okay, wenn ich 22 Übungen mache, dann ist das besser als wenn ich zwanzig mache“ – wenn man einen bestimmten Punkt dabei überschreitet, dann wird es kontraproduktiv. Die Praktiken, die wir anbieten, sind so eine Art Menü, doch wenn man in ein Restaurant geht, dann schaut man sich nicht die Speisekarte an und sagt dann zum Kellner einfach nur: „Ja, nehme ich“ – [Lachen] … Das ist keine so gute Idee. Metaphysische Völlerei ist nicht das, was wir anstreben [Lachen].
Vertikale Gesundheit beschäftigt sich damit, wie man auf die nächsthöhere Bewusstseinsebene gelangt, vorausgesetzt man ist dafür bereit – das ist sehr wichtig. Wenn man sich auf einer Ebene befindet, muss man das erst leben, ausfüllen, schmecken, fühlen, bewohnen und erfahren – und dann kann man zur nächsten Stufe gehen. Vergessen wir dabei nicht, dass man auf jeder der Stufen grobstoffliche, subtile, kausale und nicht-duale Zustände erfahren kann, man kann sich also in einem authentischen Verständnis des immer gegenwärtigen Big Mind gründen, man kann in kausale meditative Zustände eintreten, man kann in subtile Zustände eintreten, von Licht erfüllte Zustände – man kann diese Zustandserfahrungen auf praktisch jeder Stufe der Entwicklung haben. Und je mehr man derartige Zustandserfahrungen auf welcher Stufe auch immer macht, desto mehr hilft einem das, sich durch die Stufen hindurch zu bewegen. Sorge dich also nicht um die höheren oder höchsten Stufen. Du bist dort, wo du gerade bist, du kannst tiefe authentische nicht-duale Zustandserfahrungen praktizieren, das zu einer Grundlage deiner Praxis machen und sich dann die Stufen entfalten lassen, so wie sie sich entfalten.
Wenn man das eigene Wachstum beschleunigen möchte, dann ist die Integrale Transformative Praxis oder die Integrale Lebenspraxis [ILP] ein Weg, bewusst das vertikale Wachstum zu beschleunigen, und das ist in Ordnung; viele von uns möchten das tun.
Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass Transformation auch immer wieder an einen Haltepunkt kommen kann – und irgendwann ist das Leben auch zu Ende – das nennt man Translation, und das ist nichts Schlechtes. 99% unseres Lebens beschäftigen wir uns mit gesunder Translation.
Wenn man also z. B. in einem Gesundheitszentrum arbeitet, dann geht es primär darum herauszufinden, wo sich Menschen [in ihrer Entwicklung] befinden, und ihnen dabei zu helfen gesünder zu werden, auf welcher Entwicklungsstufe auch immer. Und das bedeutet – und ich nehme Spiral Dynamics als ein Beispiel von vielen, welches ich gerne verwende –, es geht darum, die Sprache von blau, orange und grün zu lernen, um so das, was man macht in unterschiedlichen Sprachen formulieren zu können, entsprechend diesen Werteebenen.
Es gibt eine sehr einfache Definition von horizontaler Gesundheit, die lautet: Das Ausbalancieren der vier Quadranten auf der Stufe, auf der man sich gerade befindet, die Ausgewogenheit von Ich, Wir und Es auf welcher Stufe auch immer. Betont man zu sehr das Ich auf irgendeiner Stufe, dann ist das eine narzisstische Pathologie, selbst-absorbierend. Betont man zu sehr das Wir, dann ist das Herdenmentalität, man verliert sich in Beziehungen …
Das gibt uns ein gutes allgemeines Verständnis darüber, was hier „gesund“ bedeutet. Mit Menschen, die bereits so weit sind, kann man mit Transformation arbeiten. Eine Menge Leute im Geschäftsleben meinen jedoch, „wir machen jetzt transformatorische Führungsarbeit, wir marschieren los und transformieren den Arbeitsplatz“, aber Transformation ist harte Arbeit, man braucht im Durchschnitt 2-5 Jahre, um einen grundlegend transformatorischen Schritt zu machen.
Wenn man in seiner Firma transformatorische Praktiken einführen möchte, dann bedeutet das für die Betroffenen zwei Jobs auf einmal. Zum einen geht die Arbeit im normalen Job weiter, dann gibt es noch die Arbeit an der eigenen Transformation, und das ist ein weiterer Vollzeitjob. Das ist sehr viel, was mandann von seinen Mitarbeitern verlangt, speziell wenn sie das von sich selbst nicht verlangen. Viele Leute meinen, „wir machen integral transformatives Management Training“, aber das bedeutet eigentlich nichts anderes, als sich das eigene Leben zur Hölle zu machen [Lachen], weil, was immer man dann macht, niemals hoch genug auf der Ebenenskala rangiert, und daher auch nie gut genug ist. Das ist eine Zumutung, wenn man so etwas von jemand anderem verlangt. Stattdessen kann man sagen, „okay, du bist da, wo du bist, lass mich ein paar Vorschläge machen, wie man besser die Stufe, auf der du dich befindest, in die Balance bringen kann“, z. B. durch die Betonung von etwas mehr Wir, oder etwas mehr Ich, oder etwas mehr Es. Diese Praktiken kann man relativ einfach machen. Transformation jedoch kann – noch einmal – 2, 3, 4 Jahre dauern. Robert Kegan geht, gestützt auf empirische Daten, von durchschnittlich 5 Jahren für die Transformation von einer Stufe zur nächsten aus. Man kann das beschleunigen, aber das ist Arbeit. Es ist daher sehr wichtig, den Menschen auf den unterschiedlichen Stufen der Entwicklung in ihrer Sprache zu begegnen. Es ist ein wunderbares, weit offenes Betätigungsfeld, und es ist sehr wichtig. Viel Glück dabei.
aus: integralnaked.com
Quelle: integrale perspektiven, Nr. 4 – Oktober 2006