(aus einem Vortrag von Ken Wilber, veröffentlicht auf Integral Naked)
Redaktioneller Hinweis: „Integrale Transformative Praxis“ oder „ITP“ war der Vorläufer dessen, was Ken Wilber mittlerweile als „ILP – Integrale Lebenspraxis“ bezeichnet. Wichtige ITP-Pioniere sind Michael Murphy und George Leonard, siehe vor allem ihr Buch „The Life We Are Given“. Die Zwischenüberschriften im Text wurden zur besseren Orientierung nachträglich hinzugefügt.
Ich möchte zuerst eine Art theoretischen Überblick geben, ein vollständiges Paket von dem, was eine Integrale Transformative Praxis sein kann. Aber ich möchte dabei betonen, dass es im allgemeinen nicht zu empfehlen ist, all das dann auch auf einmal zu machen – man konzentriert sich besser darauf, was man am meisten braucht. Worüber wir also sprechen wollen, sind – sagen wir – fünf oder sechs oder sieben Komponenten oder Module einer integralen transformativen Praxis. Ich werde sei kurz besprechen, und wir können uns dann darüber unterhalten, wie man damit arbeiten kann. Natürlich kommt das auch auf unsere Website und wird auch ein Teil des Angebotes unserer Integralen Universität sein.
Das spirituelle Modul
Wir beginnen – und die Reihenfolge dabei spielt keine Rolle – mit einem spirituellen oder meditativen Modul.
Bei den ITP-Seminaren in diesem Herbst verwenden wir Genpo Roshis Big Mind Prozess als einen Anker für einen meditativen Ansatz, weil dies ein sehr effektiver Weg ist, die allgegenwärtige Natur des nichtdualen Gewahrseins zu erkennen. Dabei geht es um eine erstes Wahrnehmen – und dieser Eindruck kann nicht aufrecht erhalten werden, was jedoch okay ist, aber als Einführung ist es sehr effektiv und unterstützt die Verankerung der Tatsache, dass Meditation letztendlich ein Weg ist, um den allgegenwärtigen Buddha-Geist zum Ausdruck zu bringen, und kein Weg, um ihn zu erlangen.
Dies ist also ein Modul und kann vieles enthalten: Viele der meditativen Traditionen sind ein Teil des integralen Netzwerkes, welches wir aufbauen: Das zentrierende Gebet (wir arbeiten hier mit Pater Thomas Keating zusammen), TM, Vipassana, Zikr, Mantra-Praxis, das Herzensgebet –, was immer auch funktioniert, ist okay.
Wir empfehlen, dass man sich dabei eine historisch tradierte Praxis auswählt, einfach deshalb, weil dadurch eine Art von wissenschaftlicher Überprüfung und Begleitung möglich ist – diese Traditionen haben bereits viele Generationen von Menschen durchlaufen, also kann man davon ausgehen, dass etwas dahinter steckt –, aber was immer auch funktioniert, ist okay. Dies ist also ein Modul.
Das körperliche Modul
Am anderen Ende des Spektrums sozusagen, gibt es ein physisches Modul, und dabei geht es um die Arbeit mit dem konkreten physisch-grobstofflichen Körper, und das kann alles Mögliche beinhalten, von Ernährung bis zu körperlichen Übungen – Krafttraining im besonderen ist so etwas wie ein guter Standard hier, weil Studien immer wieder zeigen, dass etwa ein halbes Jahr Krafttraining – dreißig Minuten dreimal pro Woche – die Alterskennung der Körperzellen um durchschnittlich etwa zehn Jahre zurückdatiert. Es ist – als Einzelmaßnahme – das Effektivste, was man tun kann, um die eigene Physiologie zu verändern.
Das Psychodynamik Modul
Ein weiteres Modul ist die Psychodynamik. Hier ist vor allem die Gestaltarbeit ein wesentlicher Beitrag des modernen Westens, um die Schattenanteile zu bearbeiten, denn davon findet man nicht allzu viel in den Traditionen. Doch dieser Schatten, diese Komponente, die abgespaltenen Subpersönlichkeiten wie z. B. unterdrückter Zorn, Sexualität, Machtstreben – dieser dein Schatten wird dich immer wieder finden und dir in den Rücken fallen, egal, was du machst und auf welcher Ebene der Entwicklung du dich gerade befindest. Wenn du am Beginn einer spirituellen Praxis nicht darauf achtest, dann bist du verraten und verkauft – du wirst ein Darth Vader. Also widme dem Schatten deine Aufmerksamkeit, er holt sich sonst immer wieder ein – damit wollen wir unbedingt arbeiten, als eine wichtige dritte Komponente.
Intersubjektiver Yoga: Ethik als Praxis
Eine weitere Komponente nennen wir Ethik. Ethik ist nichts Puritanisches – sie ist ein intersubjektiver Yoga.
Ethik bedeutet die richtige, respektvolle Orientierung gegenüber anderen, jedoch nicht im Sinne von Sentimentalität oder der Formung nach unseren eigenen Vorstellungen. Ein Teil der Schwierigkeiten bei einer spirituellen Praxis – jedenfalls im Hinblick darauf, wie diese Praktiken in unsere Kultur [USA] hinein übertragen wurden –, besteht darin, dass Leute – – und ich meine nicht in böser Absicht, sonder eher unbeabsichtigt – zu so etwas gelangen wie: „Ich möchte etwas für mich haben, ich möchte meineBewusstheit, ich möchte meine Erleuchtung, ich werde mich in die Ecke setzen und praktizieren und werde meine Fähigkeiten vertiefen, usw. usw.“
Und dabei vergessen wir, dass praktisch alle großen Traditionen eine Art des Bodhisattva-Ideals hatten, der Vorstellung von Barmherzigkeit und Mitgefühl, und die Traditionen betonen das immer wieder nachdrücklich. Im Mahayana und Vajrayana [Buddhismus] beispielsweise besteht der gesamte Mittelteil aus der Einübung von Mitgefühl, in manchen Schulen kommt das sogar vor der Verwirklichung, weil mit der Verwirklichung des Einen Geschmacks sehr merkwürdige Dinge passieren können: Wenn man erkennt, dass man Eines ist mit allem, was erscheint, dann kann es sehr schwer werden, sich in diesem Zustand für irgendetwas zu motivieren, weil es nichts außerhalb von einem selbst gibt, das einen dazu veranlassen könnte, sich in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Eine Reihe von Schulen möchten daher, dass du auf dem Weg ‚nach oben’ Mitgefühl einübst, damit du dich dann, auf dem Weg ‚nach unten’ daran erinnerst, was du zu tun hast [lacht]. Gleichmut kann eine sehr tiefgehende Erfahrung im Sahaja sein. Ethik ist etwas sehr Wichtiges, es erinnert uns daran, dass eine verrückte Weisheit [crazy wisdom] nicht vorgetäuscht werden sollte. … Eine Reihe von Leuten begeben sich also auf den spirituellen Weg, und dann heißt es: „Ich bin im Hier und Jetzt, ich bin jenseits von Gut und Böse“. Aber die meisten, die das behaupten, befinden sich nicht ‚jenseits’ sondern eher ‚darunter’ – und das kann einen wirklich in ganz große Schwierigkeiten bringen – daher gibt es den Yoga des intersubjektiven Bewusstseins, das ist sehr wichtig, und das ist eine ethische Komponente.
Die Kultivierung von Mitgefühl
Eine weitere Komponente – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – nennen wir sie affektiv, d. h. emotional im weitesten Sinn, und dabei geht es um die Entwicklung genau dieser Fähigkeit: liebende Güte oder Tonglen, das Einüben des Erbarmens. Es ist die Komponente des Mitfühlens, die Herzkomponente, wenn man so will, und dem sollten wir viel Aufmerksamkeit geben … Man kann sich das auch als die weibliche Komponente vorstellen, das ist okay, aber es ist in Wirklichkeit diese Dimension eines Gefühls-für-andere und die Art und Weise, wie wir mit anderen bewussten Wesen in Berührung sind.
Dies ist wichtig in Verbindung mit der ethischen Komponente, weil wir es in gewisser Weise mit dieser paradoxen Verwirklichung zu tun haben – es gibt niemanden außerhalb von uns, den es zu retten gilt, und daher widmen wir unser Leben der Rettung und Befreiung anderer – es ist ein sehr feiner Balanceakt, und Mitgefühl ist das Bindeglied zwischen diesen beiden Aspekten –, dies einzuüben ist sehr wichtig.
„Karma Yoga“: die Arbeit in der Welt als Praxis
Eine weitere Komponente könnte mit dem Oberbegriff Karma Yoga bezeichnet werden. Dabei geht es darum, wie man konkret die eigene spirituelle Praxis zu dem in Beziehung setzt, was man in der Welt macht. Wie wird sie zu einem Teil des Berufes? Wenn man Jurist bist, wie kommt Mitgefühl in die Juristerei – aber nicht Idioten-Mitgefühl? Das Letzte, was ich mir wünsche, ist ein Anwalt, der Idioten-Mitgefühl anbietet – oder Boomeritis, das grüne Mem – alles hat seine Platz, doch wir sollten in der Lage sein, unsere Spiritualität auf eine authentische und integre Art und Weise in die Welt zu bringen.
Kernmodule
Dies sind ein paar der Module, die wir betrachten, und wir werden sie auf einer eigenen Homepage mit einer Art von Fragebogen haben, fünfzig oder sechzig Fragen, woran sich die Leute dann orientieren können … sehr einfach. Eine der ersten Frage wird sein: „Wie viel Zeit kannst du dafür aufbringen?“ Wenn man nur eine Stunde pro Woche zur Verfügung hat, dann empfehlen wir nur zwei oder drei dieser Module: Wir empfehlen Meditation, Körperarbeit wie Gewichtheben und dann wahrscheinlich Psychodynamik, weil allein diese drei erheblich mehr zu einer Transformation beitragen als alles andere. Aber vielleicht möchte man noch anderes hinzufügen, wie interpersonelle Fähigkeiten, Arbeit an Schattenanteilen.
Das kognitive Modul
Wir haben tatsächlich etwas, das wir das kognitive Modul nennen, und das bedeutet, einen Orientierungsrahmen zu haben, in dem all das gehalten werden kann, weil wir immer wieder feststellen – all diese Entwicklungsstudien über die wir sprechen, bestätigen das immer wieder – wenn es um Stufen geht – nicht notwendigerweise Zustände –, sondern Stufen, dann ist kognitive Entwicklung notwendig, aber nicht ausreichend für all die anderen Stufen, weil Kognition – und das ist keineswegs etwas Abstraktes – Kognition meint Bewusstheit, die Fähigkeit zu erkennen oder wahrzunehmen. Wenn man etwas nicht erkennen kann, dann kann man auch nicht entsprechend handeln.
Deshalb ist kognitive Entwicklung – und das folgt unmittelbar aus den empirischen Studien– notwendig, aber nicht ausreichend für interpersonelle Entwicklung, welche ihrerseits notwendig, aber nicht ausreichend ist für moralische Entwicklung, welche wiederum notwendig, aber nicht ausreichend ist für die Entwicklung einer Vorstellung des Guten – immer wieder finden wir derartige Beziehungen. Kognition bedeutet also einfach … nur: „Lest meine Bücher!“ [lacht], und natürlich alles, was euch ein kognitives, integrales Verständnis gibt. Das kann die Entwicklung beschleunigen.
Betrachtet man die großen Traditionen, den Buddhismus zum Beispiel, dann werden bis zu vier oder fünf Stunden des Tages mit intellektuellen Debatten verbracht, dies ist eine äußerst bedeutende Komponente. Natürlich geht es darum, den Geist [mind] zu transzendieren, aber wenn man den eigenen Geist nicht kontrolliert und meistert, dann kann man ihn auch nicht transzendieren. Man erhält ein schnelles Erwachen oder eine schnelle Verwirklichung, aber der Geist mit seinen kognitiven Bestandteilen wird da sein, immer wieder an die Oberfläche kommen, und man wird ihn niemals beherrschen können.
Trainiere daher den kognitiven Geist entsprechend und dann kannst du ihn beiseite stellen, aber dieser Muskel muss trainiert werden, sonst bleibt er wo, er ist, und bringt alles durcheinander.
Die Teile zusammenfügen und ins Leben bringen
Dies sind also einige der Module, mit denen wir arbeiten, und – wie ich sagte – muss man nicht alles der Reihe nach durchziehen und sich dabei verrückt machen. Wir haben etwa sieben Hauptmodule, innerhalb eines jeden Moduls gibt es etwa ein Dutzend verschiedene Wahlmöglichkeiten, und wir stellen uns vor, dass man sich drei oder vier davon aussucht. Je mehr man machen kann, desto besser, wunderbar, doch wir möchten uns vor allem auf das Grundlegende konzentrieren.
Der Karma Yoga ist so etwas wie ein Bindeglied all dieser Bereiche: Wie bringt man all das in die alltägliche Welt, wenn man Lehrer ist, oder Zahnarzt, oder Tellerwäscher, oder Hochschullehrer, Herzchirurg oder Raketeningenieur?
Wie kann das zu einem Teil der eigenen Integralen Transformativen Praxis werden?