Sonja Student und Michael Habecker
Fast jeder, der im deutschsprachigen Raum groß geworden ist, kennt den Film Die Feuerzangenbowle, in dem der junge erfolgreiche Schriftsteller Dr. Johannes Pfeiffer (gespielt von Heinz Rühmann) als Schüler verkleidet noch mal in die „Penne“ geht, und es den alten Paukern dort so richtig zeigt.
Einer diese alten Pauker bescheinigt ihm dann auch prompt die fehlende „sittliche Reife“, was den „Pennäler“ Pfeiffer nur zu noch mehr Streichen motiviert. Der altertümlich anmutende Begriff einer „sittlichen Reife“ ist heute nicht mehr in Gebrauch, wir sprechen von Charakterentwicklung oder Selbstentwicklung. Doch wie auch immer man das Ganze nennt, es geht dabei um die entscheidenden Entwicklungslinien im oberen linken Quadranten, die Subjektivität eines Menschen, sein Ich-Erleben, seinen Charakter und seine Werte, als eine der zentralsten Bildungsaufgaben. Was früher „Reifeprüfung“ hieß, heißt heute „Abitur“ – was wird da eigentlich vermittelt und am Ende geprüft, und worauf kommt es im Leben wirklich an, ein Leben auf das einen die Schule ja vorbereiten soll („wir lernen nicht für die Schule, sondern in der Schule fürs Leben“)?
Zu diesem Thema hat Jack Crittenden im AQAL Journal[1] des Integralen Instituts einen Beitrag geschrieben, den wir hier in einem kurzen Auszug vorstellen möchten[2]. Dabei geht es um ein einfaches Modell für Charakterbildung unter Berücksichtigung der Quadranten und drei Entwicklungsebenen:
„Es gibt gegenwärtig eine Tendenz für eine verstärkte Charakterbildung in unseren öffentlichen Schulen. Diejenigen, die sich dafür stark machen, glauben dass die Charakterbildung unsere gefallene Nation [USA] retten kann (z. B. William J. Bennett und George W. Bush); unsere Demokratie beleben kann (Richard Battistoni); und, worauf Dr. Laura Schlessinger hinweist, sogar die Gewalt speziell unter Jugendlichen verringern kann. Doch die Charaktererziehung war noch nie eine einfache Angelegenheit. Sollen unsere Lehrer eine vorgeschriebene Moral lehren, oft verbunden mit bestimmten religiösen Vorstellungen und Idealen? Oder sollen sie lediglich zur Werteklärung beitragen, bei der die moralische Position eines Menschen festgestellt, aber nicht kritisiert wird? Diese zwei Ansätze scheinen die zwei Enden eines Spektrums moralischer Erziehung zu sein. An einem Ende ist die Methode der Indoktrination, und sofort werden Bedenken geäußert hinsichtlich der Frage, welche Werte es zu lehren oder auch aufzuzwingen gilt. Wenn wir unseren Kindern eintrichtern, immer die Wahrheit zu sagen, was machen sie dann, wenn faschistische Sturmtruppen an ihre Tür hämmern und nach versteckten Juden suchen? Nehmen wir an, sie wüssten davon, dass ein Nachbar eine jüdische Familie versteckt hält. Sollen sie dann die Wahrheit sagen, weil wir sie gelehrt haben, dass man immer die Wahrheit sagen soll?
Am anderen Ende des Spektrums ist die bloße Wertefeststellung, und dies scheint eine Art moralischer Relativismus zu sein, bei dem alles möglich ist und nichts ausgeschlossen wird.
Bei dieser Wertefeststellung gibt es kein Richtig oder Falsch, und von den Lehrern wird Werteneutralität erwartet. Jegliche Wertebeeinflussung ist zu vermeiden, um so der Selbstachtung der Schüler keinen Schaden zuzufügen. Eine derartige Position, so argumentieren viele, öffnet Tür und Tor für Rassismus, Gewalt und „das Recht des Stärkeren“.
Gibt es eine Mitte dieses Spektrums, die weder etwas aufzwingt noch lediglich Werte feststellt?
Jack Crittenden untersucht, inwieweit die Erziehung zum „kritischen Denken“ ein Mittelweg zwischen den Extremen sein kann, und stellt fest, dass auch das kritische Denken wieder vor dem Hintergrund von Wertestrukturen stattfindet, und zwar Wertestrukturen, die sich entwickelt haben.
Was wir also haben ist kein Spektrum, sondern eine Entwicklungsabfolge. Charakterbildung beginnt vor diesem Hintergrund mit dem „Einprägen“ bestimmter Werte in die Schüler. Später lehrt die Charakterbildung das kritische Nachdenken über diese eingeprägten Werte.
Für die nähere Untersuchung dieses Vorgangs bezieht sich Crittenden auf Wilbers Modell der vier Quadranten.
Welche Werte werden eingeprägt? Am einfachsten beginnen wir dabei mit den verhaltensorientierten Werten (oberer rechter Quadrant), über die ein Schüler verfügen muss. Ohne die Voraussetzung eines bestimmten Verhaltens ist das Erlernen eines kritischen Denkens nur schwer vorstellbar. Jede Schule, die sich um Bildung und Erziehung bemüht, fordert bestimmte Werte und ein bestimmtes Verhalten. Lehrer verlangen von ihren Schülern, dass sie auf ihren Plätzen sitzen, ihre Hand heben, bevor sie sprechen, Aufgaben rechtzeitig abgeben, pünktlich zum Unterrichtsbeginn erscheinen, keine Gewalt auf dem Schulhof, in den Gängen und im Klassenzimmer anwenden und Respekt und Höflichkeit gegenüber den Erwachsenen zeigen (Lehrern, Mitarbeitern, Eltern, Besuchern, Polizei usw.). Die Gebote und Forderungen des Lehrers, die Interaktion der Schüler miteinander, die Einhaltung der Regeln der Klassengemeinschaft und der Schule führen (im unteren rechten Quadranten) zu einer Syntax des Verhaltens – einer Art und Weise, wie man sich gegenüber der Institution verhält. Dieses Verhalten wird immer wieder eingeübt und gelehrt und auch von den Schülern erwartet, lange bevor sie alt genug sind, um darüber kritisch zu reflektieren. Die Theorie hinter dieser Praxis des Verhaltens ist die, dass damit der Charakter beeinflusst wird. Aristoteles schrieb im der Nikomachischen Ethik, dass wenn wir ehrlich sein wollen, wir ehrlich handeln müssen, und wenn wir mutig sein wollen, wir mutig handeln müssen. Charakter ist so das Ergebnis der Ausübung tugendhaften Verhaltens, wodurch sich die entsprechenden Charaktereigenschaften bilden …
Weitere wichtige Wertevorstellungen, die es auf dieser frühen Entwicklungsstufe einzuimpfen gilt, sind die eines „demokratischen Charakters“. Die Lektionen hierbei sind mehr didaktischer Art und weniger verhaltensorientiert, und beziehen sich daher mehr auf den oberen linken Quadranten. Ein Merkmal öffentlicher Bildung und Erziehung besteht darin, Menschen zu freien und gleichberechtigten Mitbürgern zu entwickeln, die sich sowohl ihrer Rechte als auch ihrer Pflichten bewusst sind. Die Schüler lernen dabei, dass sie Grundrechte haben (Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, usw.), doch dass sie ebenso Verantwortlichkeiten gegenüber ihren, ihren Mitbürgern und ihrem Land haben. Dies erfordert in den Schulen das Lehren der Beachtung der Gesetze und der Rechte anderer, und die Würdigung der Prinzipien und Werte des eigenen Landes. Dazu gehören auch die Tugenden, die einen demokratischen Charakter fördern: Kooperation, Ehrlichkeit, Toleranz und Respekt.
Wir impfen unseren Schülern die Werte und Tugenden unserer Gesellschaft ein, als Werte, die aus ihnen gute Mitbürger machen und einen guten Charakter fördern. Doch wenn wir dabei von einer Liebe zu Recht und Gerechtigkeit reden, meinen wir dann die Gerechtigkeit, die sich in unseren Gesetzen findet oder eine ideale Gerechtigkeit, die allem Recht unterliegt?
Diese Fragen tauchen natürlich nicht schon in der Grundschule auf, doch sie werden später im Verlauf der kognitiven Entwicklung (oben links) gestellt werden.
JC kommt dann auf den Entwicklungsaspekt zu sprechen:
Wilber weist unter Bezug auf Entwicklungspsychologen wie Piaget, Kohlberg, Gilligan, Perry, Gardner, Loevinger und anderen darauf hin, dass erst ab einer bestimmten kognitiven Entwicklungsstufe ein reflektierendes moralisches Urteilsvermögen möglich ist. Erst ab einer bestimmten Ebene der kognitiven Entwicklung (oben links) kann ein Mensch die Perspektive eines anderen realen oder hypothetischen Menschen einnehmen, und dessen Sichtweise so betrachten, als wäre sie seine eigene. Als ein Ergebnis dieses „Perspektivismus“ ist man in der Lage zu entscheiden, ob in einer bestimmten Situation eine Entscheidung gerecht ist: Welchen Einfluss hat eine Situation oder Entscheidung auf andere? Wenn ich in der Haut anderer stecken würde, was würde ich mir dann wünschen? Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht schon auch Grundschüler moralische Entscheidungen treffen können, weil sie noch nicht mit hypothetischen Situationen umgehen können. Sie können moralische Entscheidungen treffen, doch diese Entscheidungen sind ganz wesentlich begrenzt auf eine Perspektive einer ersten Person. Sie sind begrenzt durch die prä-operationalen kognitiven Fähigkeiten des Schülers, die ihnen nur moralische Beurteilungen auf der Basis dessen erlauben, was sie selbst sehen, sagen und tun. Mit der Erweiterung der Perspektiven, die eingenommen werden können hin zum konkret-operationalen Denken, sind Kinder dann in der Lage moralische Entscheidungen zu treffen auf der Grundlage der Perspektive einer zweiten Person, etwas was ein Kind auf der prä-operationalen Entwicklungsstufe nicht kann. Die Entfaltung des konkret-operationalen Denkens ermöglicht es dem Kind, die Perspektive konkreter Menschen einzunehmen, mit denen es in Beziehung steht. Sie können sich in sie hineinversetzen, doch die Anzahl der Personen ist begrenzt auf Menschen, mit denen sie in direkter Beziehung stehen. Eine Schülerin auf dieser Entwicklungsstufe beispielsweise kann sich in die Lage eines anderen Schülers versetzen, der ihr gegenüber sitzt.
Bloße Wertefeststellung scheint eine Art moralischer Relativismus zu sein, bei dem nichts ausgeschlossen wird.
Mit der Entfaltung des formal-operationalen Denkens kann der Schüler die Position eines hypothetischen Dritten einnehmen, welcher nicht Teil eines gerade stattfindenden Gesprächs ist. Diese dritte Person kann auch rein fiktiv sein. Das kann in der Form geschehen, dass man sich fragt „was jemand wohl sagen würde, wenn …“ Das Ziel eines Unterrichts von Charakterbildung, speziell einer demokratischen Charakterbildung, muss darin bestehen, die Schüler zum Denken über sich selbst hinaus anzuregen. Als das Mindeste sollte es dabei gelingen, dass sich die Schüler von einer Ich-Orientierung (präkonventionell) zu einer Uns-Orientierung (konventionell) bewegen. Dies könnte man als Phase 1 bezeichnen. In der Phase 2 werden dann Rollen, Regeln, Werte, Prinzipien und Glaubensstandards genau geprüft, und die unbedingte Loyalität gegenüber Autoritäten und dem eigenen Land wird gelockert. Das bedeutet nicht, dass man nicht länger die Pflicht erkennt, den Nachbarn zu helfen, für die Freiheit zu kämpfen, oder gegen Ungerechtigkeit zu protestieren. Doch diese Pflicht, anderen zu helfen, kann sich gegen die eigene Gruppe oder das eigene Land richten.
Diejenigen, die mit Wilbers Arbeit vertraut sind, werden diese 2 Phasen der Charakterbildung erkennen:
- EineBildungundErziehungaufderGrundlagekonkret-operationalen Denkens auf der konventionellen Entwicklungsebene und
- als eine Bildung und Erziehung auf der Grundlage formaloperationalen Denkens, oder dialektischen Denkens, auf der postkonventionellen moralischen Ebene.
Phase 1 ist das Einprägen oder Vermitteln bestimmter Werte und Tugenden, und ist charakterisiert durch Ethnozentrik und Soziozentrik – dem Respekt gegenüber Autoritäten und der Loyalität gegenüber der eigenen Gemeinschaft, Gruppe, Schule, den Lehrern, und der Familie. Phase 2 ist die Entwicklung des Urteilsvermögens durch kritisches Denken, und diese Phase ist charakterisiert durch die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu können, speziell die Perspektive, die über die konventionelle Sichtweise der eigene Gruppe oder Gemeinschaft (unterer linker Quadrant) hinausgeht, und sich dies zu eigen zu machen …
Während Menschen auf der konventionellen Entwicklungsebene sich in die Lage anderer hineinversetzen können, die zu ihrer Gruppe gehören, können Menschen auf der postkonventionellen Entwicklungsebene gleichzeitig die Perspektive dritter Personen und unterschiedliche Perspektiven einnehmen nicht mehr nur „meine Gruppe“, sondern jede Gruppe und sogar alle Gruppen. Dies führt auch zu mehr Mitgefühl und Fürsorge.
[1] Ausgabe 2 Nummer 2 im Sommer 2007
[2] Integral Character Education – Jack Crittenden, Kapitel Developmental Character Education. Die Zitate dieses Beitrags sind, sofern nicht anders angegeben, aus diesem Artikel.
Quelle: IP 10 – 07/08