Michael Habecker
In einem 1990 veröffentlichten Beitrag[1] schreibt Wilber zum Thema Reinkarnation eine längere Abhandlung. Bereits in seinem Buch Das Atman Projekt hatte er zehn Jahre vorher unter der Kapitelüberschrift „Involution“ bezugnehmend auf das Totenbuch der Tibeter den Bardo-Prozesses durch die Ebenen[2] Tschikhai (was dem Kausalen entspricht), Tschönyi (was dem Feinstofflichen entspricht), und Sidpa (was dem Mentalen entspricht) beschrieben. Diesen Abstiegsweg nach dem physischen Tod – vom Kausalen über das Feinstoffliche und Mentale bis hin zur physischen Wiedergeburt – beschreibt das Tibetische Totenbuch.
Der Beitrag Tod, Wiedergeburt und Meditation soll nachfolgend vorgestellt werden[3].
Dabei ist es wichtig festzustellen, dass Wilber, wenn er von „Ebenen“ wie „subtil“ und „kausal“ spricht, sich auf – wie er es heute nennt – Zustandsbereiche bezieht, und nicht auf Entwicklungsebenen. Diese Differenzierung (zwischen Zustandsstufen der Entwicklung, die beim Sterbe- und Wiedergeburtsvorgang durchlaufen werden, und Strukturstufen und -Linien, zu denen sich im Laufe eines Lebens ein Mensch entwickelt) macht Wilber explizit erst seit der Phase V seines Werkes.
Wilber beginnt mit der Feststellung:
Irgendeine Art von Reinkarnationslehre findet man in praktisch jeder der mystischen religiösen Traditionen der Welt. Sogar das Christentum akzeptierte sie bis etwa zum 4. Jahrhundert. Danach wurde Reinkarnation vorwiegend aus politischen Gründen mit dem Kirchenbann belegt. Viele christliche Mystiker heute hingegen akzeptieren die Idee.
Er geht dann der Frage nach, was mit Reinkarnation gemeint ist und wie diese zu beweisen wäre.
Natürlich macht die Tatsache, dass viele Menschen etwas glauben, dies nicht zu einer Wahrheit. Es ist sehr schwierig, die Vorstellung von Wiedergeburt durch „Beweise“ von angeblichen Erinnerungen an Vorleben zubelegen, weil in den meisten Fällen gezeigt werden kann, dass es sich dabei lediglich um ein Wiederbeleben einer unbewussten Erinnerungsspur aus diesem Leben handelt.
Dieses Problem ist jedoch nicht so schwierig, wie es erscheinen mag, weil die Reinkarnationslehre, wie sie von den großen mystischen Traditionen verstanden wird, ein sehr spezifischer Begriff ist: Damit ist nicht gemeint, dass der Geist [mind] durch eine Abfolge von Leben wandert, und man sich deshalb unter besonderen Bedingungen – zum Beispiel Hypnose – an alle seine vergangenen Leben erinnern kann. Es ist im Gegenteil die Seele, und nicht der Geist, die weiterwandert. Folglich ist die Tatsache, dass Reinkarnation nicht durch die Erinnerung an vergangene Leben bewiesen werden kann, genau das, was wir erwarten können: Spezifische Erinnerungen, Vorstellungen, Wissen und so weiter gehören zum Geist und werden im Allgemeinen nicht in eine neues Leben mitgenommen. All dies bleibt gewöhnlich im Tod mit dem Körper zurück. (Vielleicht können hin und wieder ein paar spezifische Erinnerungen mit hinüberwechseln, wie dies Fälle vermuten lassen, die von Professor Ian Stevenson und anderen berichtet werden, doch das wäre wohl eher die Ausnahme als die Regel.) Die Seele wandert also weiter, doch die Seele ist nicht ein Bündel von Erinnerungen oder Ideen oder Überzeugungen.
Was ist die Seele dann? Laut Wilber, der sich auf die „ewige Philosophie“ bezieht, ist sie zum einen ein Speicher unserer Tugenden (oder Untugenden, je nachdem), was nur ein anderer Begriff für Karma ist. Zweitens ist sie auch unsere„Weisheit“, womit Wilber die Fähigkeit des Gewahrseins versteht, die phänomenale Welt ohne Anhaftungen zu bezeugen.
„Die Anhäufung von beiden – Tugend und Weisheit – machen die Seele aus, dasjenige, was weiterwandert. Wenn also Menschen behaupten, ein vergangenes Leben „zu erinnern“ – wo sie lebten, wovon sie lebten und so weiter – dann erinnern sie sich sicherlich nicht an irgendein aktuelles vergangenes Leben …“
Reinkarnation als eine spirituelle Hypothese
Da Erinnerungen an frühere Leben keine guten Beweise für Reinkarnation darstellen, schlägt Wilber das „Auge der Kontemplation[4]“ als Erkenntnisinstrument vor, um Hinweise auf eine Möglichkeit von Reinkarnation zu erhalten.
… wenn wir erst einmal eine Praxis der Kontemplation begonnen haben und uns darin gut auskennen, werden uns einige Dinge offensichtlich werden – beispielsweise, dass die bezeugende Position, die Position der Seele, beginnt an der Ewigkeit bzw. der Unendlichkeit teilzuhaben. Es gibt eine zeitlose Natur der Seele, die sich offenbar und unmissverständlich zeigt: Man beginnt die Unsterblichkeit der Seele „zu schmecken“ und es wird einem einsichtig, dass die Seele in gewisser Weise außerhalb oder über der Zeit steht, über der Historie und über Leben und Tod. Auf diese Weise wird man mehr und mehr davon überzeugt, dass die Seele nicht mit dem Körper oder dem Geist [mind] stirbt, sondern dass sie bereits vorher existiert hat und wieder existieren wird. Doch dies hat gewöhnlich nichts mit spezifischen Erinnerungen an frühere Leben zu tun. Es ist vielmehr eine Wiedererinnerung an diesen radikal und vollkommen zeitlosen Aspekt der Seele, welche den GEIST (spirit) berührt.“
Es muss jedoch dabei nicht zwangsläufig zu einer Wiedergeburt kommen.
„Ist die Seele erwacht und im GEIST aufgelöst, dann wandert sie nicht länger weiter; sie ist „befreit“ und erkennt, dass sie als GEIST überall und als alle Dinge reinkarniert ist. Ist die Seele jedoch noch nicht zum GEIST erwacht, und noch nicht erleuchtet, dann reinkarniert sie mit der Ansammlung ihrer Tugend und Weisheit, doch ohne spezifische Geisteserinnerungen (mind). Diese Kette der Wiedergeburten setzt sich fort, bis die Akkumulation von Tugend und Weisheit schließlich einen kritischen Punkt erreicht, der zur Erleuchtung der Seele führt, zu einer Befreiung und Auflösung im GEIST wird, und so endet die individuelle Seelenwanderung.“
Ist die Seele nun ewig oder endet sie, hat das individualisierte seelische Leben durch viele Inkarnationen hindurch auch ein Ende?
„Gemäß der ewigen Philosophie ist die Seele tatsächlich unzerstörbar. Hat sie jedoch den GEIST erkannt, wird ihr eigenes Gefühl von Getrenntheit aufgelöst oder transzendiert. Die Seele verbleibt weiterhin als eine Individualität und als der Ausdruck einer speziellen Person, doch ihr Sein oder Schwerpunkt geht in den GEIST ein, so löst sich ihre Illusion des Getrenntseins auf.“
Stufen des Sterbeprozesses: Auflösung der großen Kette des Seins
In diesem Abschnitt beschreibt Wilber den Sterbeprozess als die Auflösung der Großen Kette des Seins, von Körper zu Geist zu Seele zu GEIST. Dabei beruft er sich wiederum auf die phänomenologischen Beschreibungen der religiös/spirituellen Traditionen, speziell die des tibetischen Buddhismus,
„Das Auflösen des Körpers in den Geist beispielsweise der aktuelle physische Sterbevorgang: Das Auflösen des Geistes in die Seele wird als Rückschau und „Beurteilung“ des eigenen Lebens erlebt. Das Auflösen der Seele in den GEIST ist eine radikale Befreiung und Transzendenz. Dann „kehrt sich“ der Prozess gewissermaßen „um“, und aus unseren angesammelten karmischen Tendenzen heraus schaffen wir uns eine Seele aus dem GEIST, danach einen Geist aus der Seele, dann einen Körper aus dem Geist – woraufhin alle früheren Schritte vergessen werden, und wir uns in einem physischen Körper wiedergeboren wieder finden. Nach Ansicht der Tibeter benötigt dieser gesamte Prozess etwas 49 Tage.“
Wilber geht dann auf die konkreten phänomenologischen Beschreibungen der einzelnen Stufen des Sterbeprozesses im tibetischen Buddhismus ein.
„Die erste Stufe des Sterbeprozesses ereignet sich, wenn sich das Aggregat der Form oder die Materie auflöst, als die niedrigste Stufe der großen Kette. Dabei soll es fünf äußere Anzeichen geben: Der Körper verliert seine physische Kraft; die Sicht wird unklar und verschwommen; der Körper wird schwer und fühlt sich an, als würde er „sinken“; die Augen werden leblos; und der Körper verliert seine Ausstrahlung. Das innere Anzeichen, das mit den äußeren Zeichen wahrzunehmen ist, ist eine „Erscheinung ähnlich einer Fata Morgana“, ein flimmerndes, wässriges Bild, wie es in der Wüste oder an einem heißen Tag erscheint.“
„Als nächstes löst sich das zweite Aggregat auf, das Fühlen [sensation]. Wieder gibt es fünf äußere Anzeichen: Man hat keine Körperwahrnehmung mehr, weder angenehm noch unangenehm; geistige Eindrücke verschwinden; die Körperflüssigkeiten trocknen ein (z. B. wird die Zunge sehr trocken); man nimmt keine äußerlichen und innerlichen Geräusche (Ohrensummen zum Beispiel) mehr wahr. Das innerlich erlebte Anzeichen, das mit dieser zweiten Auflösung verbunden ist, ist eine nebelähnliche, „rauchähnliche Erscheinung“.
„Die dritte Stufe oder Ebene der Auflösung ist die des dritten Aggregats, der unterscheidenden Wahrnehmung. Die fünf äußerlichen Anzeichen sind: Objekte können nicht mehr erkannt oder unterschieden werden; Freunde oder Familienmitglieder werden nicht mehr erkannt; die Körperwärme geht verloren (der Körper erkaltet); die Atmung wird sehr schwach und flach; Gerüche werden nicht mehr wahrgenommen. Die inneren Anzeichen dieser Stufe werden mit dem Begriff „Feuerfunken“ bezeichnet, als ein Funkenflug eines Feuers.“
„Die vierte Stufe ist die Auflösung der vierten Ebene oder des vierten Aggregats, das der Absichten (oder der „intentionalen Strukturen“). Die fünf äußeren Anzeichen dieser Auflösung sind: Man wird bewegungslos (weil keine Impulse mehr vorhanden sind); man kann sich nicht mehr an Handlungen oder deren Zweck erinnern; das Atmen hört auf; die Zunge wird dick und blau, und man kann nicht mehr klar sprechen, und auch nicht mehr schmecken. Das innere Anzeichen ist eine „Butterlampen-Erscheinung“, die beschrieben wird als ein beständiges, klares und helles Licht. (Hier beginnen Ähnlichkeiten mit Nahtod-Erfahrungen, über die ich weiter unten sprechen werde.)“
Alle bisherigen Auflösungserscheinungen betreffen den grobstofflichen Geist, den Geist der noch überwiegend am und im Grobstofflichen orientiert ist.
„Stufe fünf ist die Auflösung der fünften Ebene oder des fünften Aggregats, die Auflösung des Erkennens oder des grobstofflichen Bewusstseins selbst … Danach ist da keine grobstoffliche Wahrnehmung, kein gewöhnlicher Geist mehr vorhanden. Während dieser fünften Stufe, und nachdem der Rest des grobstofflichen Geistes abgestorben ist und der subtile Geist aufzutauchen beginnt, erfährt man einen Zustand der „weiße Erscheinung“ genannt wird. Dies soll ein sehr helles und sehr klares weißes Licht sein, vergleichbar einer vom Vollmond beleuchteten Herbstnacht.“
Doch welche Evidenz liegt derartigen Beschreibungen zugrunde?
„Auch wenn diese tibetischen Erklärungen derartiger Phänomene etwas weit hergeholt klingen, sollten wir uns daran erinnern, dass es eine große Menge an kontemplativen Beweisen gibt, welche die unterschiedlichen Erfahrungen stützen, die sich während des Sterbeprozesses ereignen sollen. Die Erfahrungen selbst sind real und scheinen weitgehend unbestritten zu sein, doch es bleibt eine Menge an Argumenten darüber, was diese Erfahrungen, wie sie von der tibetischen Tradition beschrieben werden, tatsächlich auslöst.“
„Weiterhin sollten wir auch berücksichtigen, dass, anders als in unserer westlichen Kultur, traditionelle Kulturen wie die tibetische ständig mit dem Tod zusammenleben; Menschen sterben zu Hause, umgeben von Familie und Freunden. Die Stufen des Sterbeprozesses sind auf diese Weise Tausende und sogar Millionen Male beobachtet worden. Wenn wir dann noch berücksichtigen, dass die Tibeter über ein ziemlich ausgearbeitetes Verständnis der spirituellen Dimension und ihrer Entwicklung verfügen, dann erkennen wir ein unglaublich reiches Vorkommen an Wissen und Weisheit über den tatsächlichen Sterbeprozess und sein Verhältnis zur spirituellen Dimension, zur spirituellen Entwicklung, zu Karma und Wiedergeburt und so weiter. Es wäre – in einem Satz – töricht für einen Forscher, diese Menge an angesammelten Daten zu ignorieren.“
Wilber fährt dann fort mit der Beschreibung der Stufen des Sterbeprozesses:
„Auf Stufe sechs löst sich der subtile Geist auf, und ein noch subtilerer Geist, genannt „rote Zunahme“, erscheint. Die rote Zunahme ist ebenfalls eine Erfahrung von strahlendem Licht; die jetzt jedoch wie ein klarer Herbsttag erscheint, durchdrungen von hellem Sonnenlicht.“
„Stufe sieben ist dann die Auflösung des subtilen Geistes der roten Zunahme, und das Aufsteigen eines sogar noch subtileren Geistes, genannt „der Geist des schwarzen Beinahe-Erreichens“. In diesem Zustand hört alles Bewusstsein auf, und alle Manifestationen lösen sich auf. Darüber hinaus werden jegliche spezifische Bewusstseinsarten und die dazugehörigen Energien, die in diesem Leben entwickelt worden sind, ausgelöscht. Von dieser Erfahrung wird gesagt, dass sie einer komplett schwarzen Nacht ähnelt, ohne Sterne und ohne Licht. Sie wird „Beinah-Erreichen“ genannt, weil sie sich dem letzten Erreichen gewissermaßen „nähert“; sie nähert sich der klaren und lichten Leere. Diese Ebene kann man sich – mit anderen Worten – als die höchste des Subtilen oder die niedrigste des Kausalen vorstellen, oder als dieunmanifestierte Dimension des GEISTES selbst.“
„Auf der nächsten und letzten Stufe jedoch, so sagt man, wird eine außerordentliche Klarheit und ein strahlendes Gewahrsein erreicht, erfahren als ein extrem klarer, heller und strahlender Himmel, frei von jeglichem Makel oder Trübung, von Wolken oder von Hindernissen. Dies ist das klare Licht … Dies ist der Kausalkörper oder der endgültige spirituelle GEIST und die Energie des Dharmakaya. An diesem Punkt … beginnen die Bardo-Erfahrungen in den Zwischenzuständen, die schließlich zur Wiedergeburt führen werden … Jetzt erst ist der Tod eingetreten, und der Körper kann entsorgt werden. Tut man dies, bevor all das Beschriebene geschehen ist, macht man sich karmisch eines Mordes schuldig, weil der Körper noch am Leben ist.“
Stufen des Wiedergeburtsvorganges
Nach dieser „fortschreitenden Auflösung der Großen Kette“ kehrt sich der Prozess um, abhängig vom Karma der Seele, der „Ansammlung von Tugend und Weisheit, welche die Seele mitgebracht hat.“
„Am Punkt des tatsächlichen oder endgültigen Todes – was wir die achte Stufe des gesamten Sterbeprozesses genannt haben – betritt die Seele oder der ewig unzerstörbare Tropfen den so genannten chikhai bardo, der nichts anderes ist als der GEIST selbst, der Dharmakaya. Wie das Tibetische Totenbuch ausführt: ‚In diesem Moment wird von allen fühlenden Wesen der erste Einblick in den Bardo des klaren Lichts der Wirklichkeit erfahren, der der unfehlbare GEIST des Dharmakaya ist.’
Hierbei wird Meditation und spirituelles Arbeiten so wichtig wird. Die meisten Menschen können gemäß dem Tibetischen Totenbuch diesen Zustand nicht als solchen erkennen. Mit christlichen Worten: Sie erkennen Gott nicht und daher wissen sie nicht, wenn Gott ihnen direkt in die Augen schaut. Sie sind an diesem Punkt in der Tat eins mit Gott, gänzlich und total in der höchsten Identität mit der Gottheit. Solange sie jedoch diese Identität nicht erkennen, was beispielsweise durch eine kontemplative Schulung möglich ist, bei der der Zustand der göttlichen All-Einheit erkannt wird, werden sie sich von ihm abwenden, getrieben von ihren niederen Wünschen und karmischen Neigungen.“
Was nun folgt, ist ein stufenweiser Abstieg vom GEIST, bis zur Wiedergeburt. Die Seele, welche Gott nicht erkennt, flieht in einer Art Bewusstlosigkeit [black out] vor dieser Realisation, und steigt zuerst in den subtilen Bereich ab.
„Diese Erfahrung [im subtilen Bereich] ist geprägt durch alle Sorten von psychischen und subtilen Visionen, Visionen von Göttern und Göttinnen, Dakas und Dakinis, alle begleitet von blendenden und fast schmerzlich strahlenden Lichtern, Erscheinungen und Farben. Doch wiederum sind die meisten Menschen an einen solchen Zustand nicht gewöhnt und haben keinerlei Vorstellung von transzendentem Licht und göttlicher Illumination, so dass sie erneut vor diesen Phänomenen fliehen und angezogen werden von den niedrigeren oder unreinen Lichtern, die ebenfalls erscheinen.“
In einer erneuten Kontraktion zieht sich die Seele „wiederum nach innen zusammen“, sie flieht vor den gewaltigen Erscheinungen des subtilen Bereiches, und erwacht erst wieder im grobstofflichen Bereich.
„Hier hat die Seele schließlich eine Vision ihrer zukünftigen Eltern, die sich gerade lieben, und – auf eine gute alte freud’sche Weise – wird sie zu einem Jungen, wenn sie Begierde nach der Mutter und Hass für den Vater empfindet, und zu einem Mädchen, wenn sie Hass für die Mutter und Anziehung zum Vater hin erfährt. (Dies ist, soweit ich das sagen kann, die erste genaue Erklärung des Ödipus/Elektra-Komplexes – etwa eintausend Jahre vor Freud, worauf C. G. Jung hingewiesen hat).“
Die Seele hat nun
„Verlangen, Abneigung, Anhaftung, Hass und einen grobstofflichen Körper: Mit anderen Worten: Sie ist ein menschliches Wesen. Sie befindet sich auf der niedrigsten Stufe der Großen Kette, und ihre eigene Entwicklung und ihr Wachstum wird ein Hinaufklettern zu den Stufen, die sie gerade verleugnet hat und denen sie entflohen ist; ihre Evolution ist sozusagen eine Umkehrung des „Sündenfalls“. Wie weit sie in der Großen Kette des Seins hinaufklettern wird, das wird dadurch bestimmt, wie sie den Sterbeprozess und die Bardo-Zustände bewältigt, wenn es wieder Zeit wird, den physischen Körper abzulegen.“
Interpretation der subjektiven Todes- und Wiedergeburtserfahrung
Wilber betont in diesem Anschnitt Ähnlichkeiten der Beschreibungen meditativer Erfahrungen mit denen des Sterbeprozesses.
„Zum Beispiel wird ein Buddhist die ‚weiße Erscheinung’ wahrscheinlich als einen Typus der Leere oder eine Shunyata-Erfahrung erleben, währenddessen ein christlicher Mystiker sie als Form einer heiligen Gegenwart sehen mag, möglicherweise als Christus selbst oder ein großes Lichtwesen. Das ist das, was man erwarten kann. Bevor sich der ‚unzerstörbare Tropfen der Lebenszeit’ – die angehäuften Eindrücke und Glaubensinhalte, die während der Lebenszeit angesammelt werden – tatsächlich auflösen (auf der von uns so bezeichneten Stufe sieben), wird er alle unsere Eindrücke färben und formen. Ein Buddhist wird daher dazu neigen, eine buddhistische Erfahrung zu haben, ein Christ wird eine christliche Erfahrung haben, ein Hindu wird eine hinduistische Erfahrung haben, und ein Atheist wird wahrscheinlich zutiefst verwirrt sein. Dies ist nicht überraschend. Erst auf Stufe acht, in der klaren Leere oder der reinen Gottheit werden erst unsere persönlichen Interpretationen und subtilen Glaubensinhalte weggelassen, und eine unmittelbare Verwirklichung der reinen Wirklichkeit erscheint als helles Licht. Daher ist die tibetische Auslegung der Daten nicht die einzig mögliche. Sie ist jedoch eine unter mehreren sehr wichtigen Überlegungen oder Perspektiven über den Sterbeprozess und die Wiedergeburt, die in einem tiefen Verständnis der Großen Kette des Seins wurzelt, sowohl was den „Aufstieg“ (Meditation und Tod) wie auch was den Abstieg (Bardo und Wiedergeburt) betrifft.“
Nahtoderfahrungen und die Stufen des Sterbeprozesses
Wilber reflektiert dann über die phänomenologischen Berichte von Nahtoderfahrungen und setzt diese in Beziehung zu den Beschreibungen des Sterbeprozesses.
„Vom Standpunkt des tibetischen Modells, das wir diskutiert haben, kann das ‚Licht’, von dem in den NTEs [Nahtoderfahrungen] berichtet wird, abhängig von seiner Intensität oder Klarheit die Ebene der Butterlampe, der weißen Erscheinung oder der roten Zunahme betreffen. An diesem Punkt des Sterbeprozesses lösen sich der grobstoffliche Geist und Körper auf, und daher beginnen die subtileren Dimensionen des Geistes und der Energie aufzutauchen, gekennzeichnet durch strahlende Illumination und mentale Klarheit und Weisheit. Daher überrascht es nicht, dass Menschen unabhängig von ihrem Glauben von Lichterlebnissen berichten. Viele Menschen in ihren Berichten von NTEs glauben, dass das von ihnen gesehene Licht der absolute GEIST ist. Wenn das tibetische Modell jedoch korrekt ist, dann ist es nicht die höchste Ebene, die in einer NTE gesehen wird. Jenseits der weißen Erscheinung oder der roten Zunahme ist das schwarze Beinahe-Erreichen, dann noch klares Licht, und dann die Bardo-Zustände.“
„Das Erlebnis des Lichts innerhalb der subtilen Ebene ist sehr angenehm – und voller Seligkeit … Die Sterbeerfahrung und die NTE bringen auf eine Weise viel Spaß: Es wird universell berichtet, dass, nachdem man über den Schrecken des Todes hinweggekommen ist, der Vorgang selig, friedvoll und außergewöhnlich ist. Doch wenn der ‚Aufstieg’ beendet ist, beginnt der ‚Abstieg’ oder Bardo – und das ist der Knackpunkt, denn an diesem Punkt erscheinen unsere karmischen Neigungen, alle unsere Anhaftungen, Begierden und Ängste ganz konkret vor unseren Augen, gerade so wie in einem Traum, in dem alles Gedachte unmittelbar als Wirklichkeit erscheint.“
„Von diesen ‚Schattenseiten’ des Sterbeprozesses hört man von NTE-Leuten nichts. Sie schmecken lediglich die frühen Stufen des Vorgangs. Dennoch liefern ihre Aussagen eindrucksvolle Beweise, dass sich dieser Prozess tatsächlich ereignet. All dies passt gut und genau zusammen. Ihre Zeugnisse lassen sich auch nicht dadurch hinwegerklären, dass man behauptet, sie hätten alle tibetischen Buddhismus studiert; tatsächlich haben die meisten von ihnen davon noch nicht einmal gehört. Aber sie haben im Wesentlichen ähnliche Erlebnisse wie die Tibeter, weil diese Erlebnisse die universelle und kulturübergreifende Wirklichkeit der Großen Kette des Seins widerspiegeln.“
Meditation als Vorbereitung auf den Tod
„Was hat Meditation nun mit all dem zu tun? Jede Form von Meditation ist grundsätzlich ein Weg um das Ego zu transzendieren, oder dem Ego zu sterben. In diesem Sinn ahmt Meditation den Tod nach – d.h. den Tod des Egos. Erreicht man in einem Meditationssystem Fortschritte, kommt man schließlich an einen Punkt, wo man den Geist und den Körper so sehr ‚bezeugt’ hat, dass man sich darüber erhebt oder sie transzendiert, und so ihnen und dem Ego ‚stirbt’, und als subtile Seele oder sogar GEIST erwacht. Dies wird konkret als ein Tod erlebt. Im Zen wird es der Große Tod genannt. Dabei kann es sich um eine eher einfache Erfahrung handeln, eine relativ friedvolle Transzendenz des Subjekt-Objekt-Dualismus oder – weil es ein wirklicher Tod ist – um etwas Erschreckendes. Doch ob subtil oderdramatisch, schnell oder langsam, es stirbt das Gefühl ein getrenntes Selbst zu sein oder es löst sich auf, und man findet eine ursprüngliche und höhere Identität im und als universeller GEIST.“
„Meditation kann jedoch auch eine Generalprobe für den wirklichen körperlichen Tod sein. Einige Meditationssysteme, besonders das Sikh (die Radhasoami Heiligen) und das tantrische (Hindu und buddhistisch) enthalten sehr präzise Meditationen, die verschiedene Stufen des Sterbeprozesses konkret nachahmen oder hervorrufen – einschließlich den Atem anhalten, den Körper kalt werden lassen, den Herzschlag verlangsamen oder sogar anhalten, und so weiter. Der tatsächliche physische Tod ist dann keine große Überraschung mehr, und man kann so viel leichter die Zwischenzustände des Bewusstseins nutzen, die nach dem Tod erscheinen – die Bardos – um Erleuchtung zu verwirklichen. Worum es bei derartigen Meditationen geht ist, das Erkennen des GEISTES zu ermöglichen, so dass man beim Auflösen des Körpers, des Geistes und der Seele während des tatsächlichen Sterbeprozesses den GEIST wiedererkennt, und man bei ihm bleibt anstatt vor ihm zu fliehen, und wieder im Samsara zu landen, zurück in eine Illusion der Getrenntheit von Seele, Geist und Körper; oder man ist in der Lage, wenn man das Wiedereintreten in einen Körper wählt, es freiwillig zu tun – das heißt als ein Bodhisattva.“
„Diese Art von Praxis ermöglicht es einem auch, jeden der Zustände zu verlängern, besonders die subtilen Zustände, wie etwa die weiße Erscheinung, die rote Zunahme, das schwarze Beinahe-Erreichen und das klare Licht, weil man sie schon mehr oder weniger beherrscht. Am tatsächlichen Endpunkt des Todes, den wir die achte Stufe genannt haben, … kann man verweilen, wenn man es möchte. Der Zustand des klaren Lichts ist so sehr klar und offensichtlich und leicht zu erkennen, weil man ihn viele Male in der Meditation gesehen hat, und auch im Geist seines Gurus; von jetzt an hält man sich daran fest und wird so von der Notwendigkeit einer Wiedergeburt befreit. (Man kann jedoch noch wählen, in einem physischen Körper wiedergeboren zu werden um anderen zu helfen, diese Verwirklichung und diese Freiheit zu erreichen,und genau wie in einem luziden Traum kann man bewusst die Ereignisse kontrollieren.)“
„Wenngleich nicht alle meditativen Pfade so fordernd sind, so folgen doch die meisten tatsächlich einem ähnlichen, allgemeinen Gesamtkurs der Entfaltung … Es gibt die anfängliche Erhebung über das grobstoffliche Ego, erlebt als eine Befreiung aus den Grenzen des Erlebens eines getrennten Selbst und seiner zwanghaften Leiden. Diese anfängliche Befreiung – abhängig von den Besonderheiten des Pfades und der Person – kann als ein kosmisches Bewusstsein oder als eine Naturmystik erlebt werden, als ein anfängliches Aufsteigen der Kundalini-Energie jenseits des Normalen, als ein Erwachen von paranormalen Kräften, oder als eine innere Erfahrung seliger Luminosität, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Bewegt sich die Bewusstheit dann weiter, durch das Subtile und in das Kausale, beginnen sich diese Erfahrungen zu intensivieren, bis zu dem Punkt, wo wie sich in reiner Formlosigkeit auflösen, zum kausalen Unmanifesten, zu einer Leere vor aller Form, einer Stille vor allen Geräuschen, einem Abgrund vor allem Sein, einer Gottheit vor Gott. Die Seele kehrt zum GEIST zurück und wird in formloser Unendlichkeit erlöst, zeitlose Ewigkeit, unmanifestierte Aufnahme, strahlende Leere. Das Bewusstsein verbleibt als der unbewegte Zeuge, der formlose Spiegelgeist, unparteiisch alles sich Erhebende betrachtend, absolut indifferent gegenüber dem Spiel seiner eigenen Muster, völlig bewegungslos angesichts seiner eigenen Geräusche, gänzlich nichtanhaftend an den Formen seines eigenen Werdens. Schließlich, in einem endgültigen Mysterium, stirbt der Zeuge in alles hinein, was bezeugt wird, Leere wird nicht anders als Form erkannt, der Spiegelgeist und seine Reflektionen sind nicht zwei, Bewusstsein erwacht als die gesamte Welt. Das Geräusch eines Wasserfalls am fernen Horizont, die Ansicht eines zarten Nebelschweifs, das Krachen des Blitzes in einem späten Nachtsturm – damit ist alles gesagt. Subjekt und Objekt, das Menschliche und das Göttliche, das Innere und Äußere, unter welchem Namen auch immer, sind einfach und allein EIN GESCHMACK.“
[1] Death, Rebirth, and Meditation, erstmals veröffentlicht in Gary Doore (Herausgeber), What Survives?: Contempory Explorations of Life after Death. Aufgenommen in dem 1999 erschienenen Band 4 der Collected Works von Ken Wilber, p. 340 – 355.
[2] Was damals (Wilber II) für Wilber noch Entwicklungsebenen waren, sind heute (Wilber V) für ihn Zustandsbereiche: Grobstofflich, Subtil, Kausal, Nichtdual.
[3] Eine Übersetzung von Hans-Peter Lin findet sich im deutschsprachigen Bereich der www.integralworld.com.
[4] Dies ist ein Begriff, den Wilber in dem Buch Die drei Augen der Erkenntnis erläutert hat. Danach unterscheidet er je nach Wahrnehmungsdimension unterschiedliche „Augen“: das „Auge des Fleisches“ zur Wahrnehmung und Erkennung des grobstofflichen Bereiches, das „Auges des Geistes“ zur Wahrnehmung und Erkennung des mentalen Bereiches, und das Auge der Kontemplation zur Wahrnehmung und Erkennung des transrationalen, mystischen Bereiches.