Evolutionärer Aktivismus

Politik

Evolutionärer Aktivismus

Eine Bodhidharma Strategie

vorgestellt von Terry Patten, am 16. August 2010 auf: http://www.integralheart.com/blog/evolutionary-activism-a-bodhidharma-strategy

Ich hatte das Vergnügen, auf der „Integral Theory Conference“ an einer Diskussionsrunde zum The­ma Integrale Politik teilzunehmen. Während der Diskussion entwarf ich ein 3-Punkte-Programm zur Strategie ei­nes „Evolutionären Aktivismus“, indem ich als Metapher die historische Figur Bodhidharmas verwendete, von dem gesagt wird, er habe den Buddhismus von Indien nach China gebracht und die Schule der chinesischen Kampfkunst im Shaolin-Kloster begründet.

Die Frage, die ich dabei ansprach, war: Wie können bewusste Menschen auf effektive Weise mithelfen, angesichts unserer aktuellen Krise und Stagnation eine positive Zu­kunft auf den Weg zu bringen? Haben wir dafür eine funktionierende Strategie?

Alten Legenden folgend, regier­ten einige chinesische Kaiser ihr Land auf weise und förderliche Art, in­dem sie den Rat von weisen Männern wie z.B. Lao Tse, Konfuzius und viel­leicht auch Bodhidharma suchten. Solche Geschichten eröffnen einen vielfältigen Ansatz, den heutige „Evoluti­onäre“ für sich nutzbar machen können:

  1. Werde zu Bodhidharma.
  2. Hilf mit, nachhaltige, „erleuchtete“ Lösungen zu erzeugen – Bausteine für ein Re-Design in allen vier Quadran­ten. (Zum Vier-Quadranten-Modell siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Ken_Wilber )
  3. Gewinne das Ohr derjenigen, die die politische Macht innehaben.

Lasst uns das etwas ausführlicher be­trachten. Zunächst etwas Meta-Kontext:

Evolutionäre Dringlichkeit, „Prä“ und „Trans“

Eines der Probleme herkömmlichen po­litischen Aktivismus ist, dass er so qual­voll egozentrisch sein kann. Egos erfah­ren üblicherweise Angst, und auf Basis dieser Angst fühlen sie eine Dringlich­keit, handeln zu müssen. Angstbasier­ter Aktivismus hat jedoch die Tendenz,die Disharmonie, die sein Antrieb war, aufs Neue zu erzeugen. Wer jemals an einer politischen Aktion oder Kampag­ne teilgenommen hat, wird sehr wahr­scheinlich dieser unglaublich verengten Perspektive oder jenem unbegreiflichen Mangel an Verständnis oder Mitgefühl für die andere Seite begegnet sein, die solche Anstrengungen begleiten, sogar wenn die Agierenden ansonsten eine gerechte Sache verfolgen. Diese angstbe­setzte Dringlichkeit führt häufig zu un­nötigen Konflikten, emotionalem Burn-out und sogar zu einem gefühllosen Zynismus, der die Möglichkeit sinnvol­len Wandels aufgegeben hat. Spirituel­les Wachstum führt uns jenseits solcher Dringlichkeiten, weil wir eine große Er­leichterung verspüren, während wir auf tiefe und wahrhafte Weise erkennen, dass alles in einem tieferen Sinne voll­kommen ist. Da letztlich alles GEIST oder GOTT ist, muss nichts getan wer­den. Nicht-Handeln oder einfach eine friedliche Haltung im Alltagsleben zu verwirklichen, wird als Ideal angesehen.

Und dies ist ein wertvoller und legitimer Weg zu sein – innerhalb eines gewissen Rahmens.

Aber der Prozess spiritueller Entwick­lung hört hier nicht auf. Er erweckt uns zu einem Zustand jenseits reiner Zufrieden­heit oder der Befreiung von Widersprü­chen. Er befreit uns zu einer tiefgründigen und erleuchteten Verpflichtung zu dienen, zu einer mitfühlenden Teilnahme am Le­ben, die große Dringlichkeit entwickeln kann – einer erleuchteten Dringlichkeit, die sich wesentlich von dieser „unerleuch­teten“, egozentrischen, widersprüchlichen Dringlichkeit unterscheidet, die unser Ausgangspunkt war.

Unser evolutionäres Dilemma

Die bloße Idee, eine Strategie evolutio­nären politischen Aktivismus zu entwi­ckeln, mag naiv, anmaßend oder sogar ge­fährlich erscheinen, wenn man bedenkt, wie häufig solche großartigen idealisti­schen Bestrebungen schließlich diverse Totalitarismen beförderten. Gleichwohl könnte das weitere Überleben und die Entwicklung der menschlichen Kultur davon abhängig sein, ob uns dieser kriti­sche Übergang zu einer Kultur der Nach­haltigkeit gelingen wird, und das wird weder durch das freie Spiel der Markt­kräfte geschehen noch durch die weisen Entscheidungen unserer ökonomischen und politischen Eliten. Die tief veranker­ten Beweggründe des „egozentrischen Gens“ sind nicht geeignet, Bedrohungen wie der Erschöpfung von Trinkwasser­vorräten, dem „Kampf der Kulturen“ oder der globalen Erwärmung zu begegnen. Der uns bevorstehende Übergang erfor­dert fortgeschrittene Führungsqualitäten und organisierende Vernunft.

Deshalb benötigen verantwortungsbe­wusste Staatsbürger eine glaubhafte Stra­tegie für „erleuchtetes“ Handeln. Nahezu in der ganzen Welt, und besonders in den USA, sind mächtige Interessen und poli­tische Parteien in Null-Summen-Macht­spiele zwischen traditionellen, modernen und postmodernen Werte-Strukturen verwickelt. Es erscheint oft unmöglich, dem Missbrauch von unangemessenen Herangehensweisen Widerstand zu leis­ten, außer anderen ebenso unangemesse­nen Ansätzen Vorschub zu leisten.

Beispielsweise fand ich mich während der Präsidentschaft von George W. Bush immer wieder in politische Aktionen verwickelt, die das Deja-vu hervorriefen, dass meine Stimme auf enttäuschende Weise von „progressiver“ (postmoderner, linker) Rhetorik niedergeschrien wurde. Widerstand erschien oft nutzlos.

Anstrengungen, „erleuchtete“ Re­formen auf den Weg zu bringen, sind notwendig und lobenswert – aber oft äußerst frustrierend. Um eine integrale, evolutionäre Verpflichtung zu initiieren, brauchen wir eine Vision, wie wir die herrschende politische und kulturelle Stagnation, die angemessene Antworten auf eskalierende Krisen unmöglich er­scheinen lässt, hinter uns lassen (oder sie umgehen) können.

Eine „weiche Landung“ für unsere überhitzte Weltkultur

Was ist die evolutionäre Zielsetzung für unseren Aktivismus? Ich schlage vor, dass unser politischerFokus hierin beste­hen sollte: Wir sollten unser Möglichstes tun, um den Weg zur Nachhaltigkeit mit minimalen katastrophenartigen Erschüt­terungen zu gehen. Wir sollten unser Hauptaugenmerk darauf richten, wie wir den epochalen Wandel der globalen menschlichen Kultur auf förderliche Wei­se begleiten können. Da unsere gegen­wärtigen sozialen Muster und Gewohn­heiten überhitzt und kurzlebig sind, ist das Ziel, so schnell wie möglich zu nachhaltigen Lebensstilen überzugehen und dabei traumatische Erschütterungen möglichst gering zu halten. Besonders wichtig ist es dabei, keine kulturellen Re­gressionen auszulösen (kurze oder lange „dunkle Zeitalter“).

Vorbereitung ist alles

Realistischerweise nehmen gut informierte Beobachter an, dass große Erschütterungen unvermeidlich sein werden. Schockartige Ereignisse, Katastrophen und Krisen scheinen nicht nur wahrscheinlich, sondern mögen sogar notwendig sein, um den politischen Willen zu befördern, die Verhaltensänderungen und alternative Vorgehensweisen mög­lich zu machen. Der Silberstreif am Horizont ist dabei, dass diese Krisen unsere Stagna­tion und Handlungsunfähigkeit unterbrechen werden. Sie werden „Fenster der Möglich­keiten“ öffnen, um grundsätzlichere Systemveränderungen herbeizuführen.

Verantwortungsbewusste Staatsbürger benötigen eine glaubhafte Strategie für „erleuchtetes“ Handeln

Hank Paulson und Ben Bernanke sahen sich im Oktober 2008 mit einer Liquiditäts­krise konfrontiert, die den Zusammenbruch des Weltfinanzsystems heraufbeschwor, und hatten dabei bis dahin undenkbare politische Handlungsspielräume – sogar den, die größte Bank der USA zu verstaatlichen. Aber sie mussten schnell handeln. So etwas ist möglich, wenn derartige Erschütterungen stattfinden. Ganz plötzlich werden große Veränderungen denkbar, aber Dringlichkeit und Furcht sind außerordentlich groß, und es gibt wenig Zeit oder Handlungsspielraum für Verhandlungen.

  • Was wäre geschehen, wenn sich im Kreis der angesehenen Berater von Paul­son und Bernanke ein Netzwerk „erleuchteter“ Denker befunden hätte, die über solche Ereignisse schon lange und intensiv nachgedacht hätten? Was, wenn sie bereits Konzepte in der Schublade gehabt hätten, die die Art von Entscheidungen beschrieben, die in Betracht hätten kommen können? Was, wenn sie nicht nur über Lösungen solch kurzfristiger Krisen nachgedacht hätten, sondern auch, wie man solchen Problemen auf weise Art im Hinblick auf eine nachhaltige Transformation begegnet?
  • Was, wenn sie durch Anwendung gut begründeter, gut informierter, komplexer, facettenreicher, höherer Schau-Logik nach Lösungen gesucht hätten, basierend auf folgenden Schlüssel-Kriterien:
    • Suche nach politischen Lösungen, die das US- und Weltfinanzsystem zumindest schrittweise in Richtung Nachhaltigkeit beeinflussen und dabei die Wahrschein­lichkeit sanfter Veränderungen erhöhen.
    • Vermeide Herangehensweisen, die wichtige Entscheidungsfragen nur verschie­ben und dabei die Wahrscheinlichkeit oder Unvermeidbarkeit von erschüttern­den Anpassungen hervorrufen.
    • Führe diese Interventionen in einer Art und Weise durch, die politisch durch­setzbar sind und das aktuelle Klima berücksichtigen, jedoch auch die politische Öffentlichkeit und die Medien veranlassen, hinsichtlich ihrer Kapazitäten für tiefgreifende, nachhaltige Lösungen im Hinblick auf unsere dringlichsten Her­ausforderungen zu wachsen.

Mit all diesem Kontext und Meta-Kontext auf dem Tisch, lasst uns nun die Zusammen­fassung der einfachen 3-Punkte-Strategie anpacken, die ich am Anfang umrissen habe.

  1. Werde zu Bodhidharma. Prak­tiziere, wachse, entwickle dich und reife zu einem menschlichen Wesen, wel­ches kraftvoll, auf authentische Art wei­se, vertrauenswürdig und überzeugend ist. Dies ist die wesentliche Grundlage und sie wird uns unser gesamtes Leben begleiten.
    Ein Teildieser Praxis findet in Verbin­dung mit anderen statt. Arbeite daran mit, eine weisere integrale und evolu­tionäre Kultur hervorzubringen – eine bewusste Gemeinschaft, die kollektive Praxis und zivile Verantwortung über­nimmt. Um ein Wort Thich Nhat Hanhs zu paraphrasieren: Der nächste Bud­dha oder Bodhidharma kann auch eine Sangha sein. Auch dies ist eine wesentli­che Grundlage.
    Bemerke aber, dass es nicht notwendig ist, Bodhidharma oder letztlich erleuch­tet zu sein, sondern lediglich auf authen­tische Weise mit dem Prozess, ein solches Wesen zu werden, verbunden zu sein.
  2. Hilf mit, nachhaltige, „er­leuchtete“ Lösungen zu er­zeugen – Bausteine für ein Re- Design in allen vier Quadranten, mit welchem wir allmählich in die Lage versetzt werden, nachhaltigere Gesell­schaftsformen aufzubauen, die Ent­scheidungsträger in Krisensituationen heranziehen können. (Dieser Schritt be­inhaltet eine Ansammlung unterschied­lichster Module, die sich nicht alleine auf den nachhaltigen Gebrauch von Energie, Boden und Wasser beziehen, sondern ebenso auf Finanz- und Geld­politik, Organisationsführung und poli­tische Reformen sowie auf ein essentiell höheres Wertesystem, auf Kultur und Spiritualität.)
    Einen wichtigen Punkt gilt es hier zu beachten: Viele Individuen definieren sich nicht als Führungspersonen. Eine wahrhaft integrale, evolutionäre Kultur (nicht im Sinne einer intellektuellen Be­wegung) kann direkt oder indirekt dazu beitragen, diese zu entwickeln, indem sie hilft, die Qualitäten von Führung in In­dividuen sichtbar werden zu lassen, die sich nicht im herkömmlichen Sinne in Führungspositionen befinden.
  3. Gewinne das Ohr derjenigen, die politische Macht innehaben. Damit meine ich, dass man glaubwürdig, qualifiziert, einflussreich und kraftvoll in Kultur und Institutionen hineinwirken soll, mit dem größtmöglichen Einfluss auf wichtige Entscheidungen (oder auch auf Entscheidungen mit geringerer Pri­orität – wir brauchen das Engagement über die ganze Bandbreite).
    Wenn es nicht deine Bestimmung (oder dein Dharma) ist, ein Entschei­dungsträger zu werden, werde zu einem Berater, Lehrer oder zu jemandem, der Einfluss auf Entscheider ausübt, oder ein Berater von anderen Beratern oder unterstütze einfach solche Menschen. Es mag dein Weg sein, einfach ein sehr bewusstes menschliches Wesen zu sein, welches mithilft, eine evolutionäre, spiri­tuelle Kultur zu entwickeln, und Andere, die diese Arbeit machen, unterstützt und fördert. In jedem Fall kannst du ein Le­ben führen, das ein brennendes evoluti­onäres Bekenntnis ausdrückt, welches es uns ermöglicht, dass gesunder Verstand und Weisheit die menschlichen Angele­genheiten leiten.

Diese dreiteilige Strategie geschieht gleichzeitig und nicht nacheinander

Augenscheinlich musst du weder erleuch­tet sein, ehe du an nachhaltigen Lösun­gen für praktische Probleme arbeitest, noch brauchst du „erleuchtete“ Lösun­gen, ehe du Zugang zu politischer Verant­wortung und Einfluss gewinnst.

Wenn deine Absichten und dein Ver­halten von diesen drei Praxis-Anweisun­gen geleitet werden, wirst du nicht den Irrtümern anheimfallen, die bisher „er­leuchteten“ Aktivismus vereitelt haben.

Aktivisten machen gewöhnlich zwei Fehler: Sie versäumen es, tiefgründig und weise zu werden, und sie neigen dazu, gegen Missbrauch und Irrtümer der Mächtigen zu kämpfen, anstatt diese auf geschickte Weise anzuleiten. Auf der anderen Seite machen diejenigen, die ei­nem spirituellen Pfad folgen, ihre eigene Art von Fehlern: Sie vermeiden es, „sich ganz reinzuknien“, um damit detaillier­te, praktische, nachhaltige Lösungen hervorzubringen. Und sie überlassen die Macht unbedarften Egos, für die Macht auszuüben der einzige Fokus ist.

Damit „erleuchtete“ Verantwortlich­keit in gesellschaftlichen Systemen her­vortreten kann, muss eine neue Form von Kompetenz in jedem von uns – in dir und in mir – erweckt werden. Wir können sie nicht an gewählte Vertreter und Manager abtreten. Der Prozess wird unvermeid­lich chaotisch und unvollkommen sein, daher wird keine einzelne Strategie alles beinhalten. Aber diese drei Praxis-Anwei­sungen können uns zu einem guten Er­gebnis führen. Hier sind sie noch einmal:

  • Werde zu Bodhidharma
  • Hilf mit, nachhaltige, „erleuchtete“ Lösungen zu erzeugen – Bausteine für ein Re- Design in allen vier Quadranten.
  • Gewinne das Ohr derjenigen, die die politische Macht innehaben.

Terry Patten ist zusammen mit Ken Wilber Co-Autor des neuen Buches „Integrale Le­benspraxis – körperliche Ge­sundheit, emotionale Balance, geistige Klarheit, spirituelles Erwachen“. Er ist außerdem Coach und Berater, Autor, Leh­rer und Unternehmer. Als Mitentwickler von ILP am Integral Institute und spiritueller Langzeit-Praktizie­render hat er hunderte Menschen bei der Verwirk­lichung ihres größten Potenzials begleitet. Er lebt gemeinsam mit seiner Frau Deborah in San Rafael, Kalifornien. 
www.integralspiritualpractice.com/

(aus: IP 20 – 11/2011)

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