Michael Habecker
Psychodynamik, die Inhalte menschlichen Bewusstseins und ihre Dynamik (mit ihren gesunden und weniger gesunden Aspekten), war von Anbeginn an ein wichtiges Thema in Wilbers Büchern. Dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk, eine Spur, die manchmal offensichtlich und manchmal mehr im Hintergrund verläuft, die er jedoch niemals aus den Augen verliert.
Gleich in seinem ersten Buch, Das Spektrum des Bewusstseins (1977), widmet der dem Thema „Die Integration des Schattens“ ein ganzes Kapitel (Nr. 7). Ein Jahr später erscheint ein Aufsatz, A Working Synthesis of Transactional Analysis und Gestalt Therapy, in dem er eine Integration dieser beiden wichtigen therapeutischen Methoden diskutiert, wieder vor dem Hintergrund der menschlichen Psychodynamik. (In einem späteren Beitrag werden wir in integral informiert diesen wichtigen Aufsatz ausführlich besprechen.) Auch Wege zum Selbst (1979) behandelt mit konkreten Beispielen die Heilung der „Persona“ durch die Integration von verdrängten Persönlichkeitsanteilen (Kapitel 7). Und so geht es weiter: Das Atman Projekt (1980) beschreibt die Entwicklung des (inneren) menschlichen Individuums auch mit Blick auf mögliche Fehlentwicklungen. Halbzeit der Evolution tut dies für die kollektive Entwicklung (1980). In Psychologie der Befreiung (1986) stellt Wilber erneut die menschliche Individualentwicklung in den Mittelpunkt seiner Betrachtung und geht in den Kapiteln 4 („Das Spektrum der Psychopathologie“) und 5 („Behandlungsmodalitäten“) auf Entwicklungspathologien und deren Behandlungsmöglichkeiten ein. (Dieses Buch wird derzeit von Wilber im Hinblick auf seine neueste Arbeit überarbeitet. Er erweitert darin das Pathologie- (und Heilungs-) Spektrum durchdie Betrachtung möglicher Fehlentwicklungen in den Zuständen und Zustandsentwicklungen des Seins). In Eros, Kosmos, Logos (1995) stellt Wilber erstmals das Modell der vier Quadranten vor, in dem die individuelle Psychodynamik gewissermaßen „ihren“ Platz im oberen linken Quadranten bekommt. Integrale Psychologie thematisiert erneut in Kapitel 8 („Die Archäologie des GEISTES“) Entwicklungen und mögliche Fehlentwicklungen des menschlichen Bewusstseins. Boomeritis (2000) beschäftigt sich ausführlich mit dem Zeitgeist und (s)einer kollektiven Fehlentwicklung (mit ebenso individuellen Auswirkungen), der Pathologie des grünen Mems, einem krankem Pluralismus und Egalitarismus und seinen Heilungsmöglichkeiten. Endgültig in den Blickpunkt rückt das Thema dann mit der Veröffentlichung des Integral Life Practice Starter Kit (2005), wo für eine integrale Lebenspraxis neben den Hauptmodulen „Körper“, „Geist“ [mind] und GEIST [spirit] als viertes Modul die Schattenarbeit gleichrangig empfohlen wird. Schattenarbeit und Psychodynamik sind danach ein unverzichtbarer Bestandteil einer jeden Art von Praxis, die sich integral nennt. In zahlreichen Online-Beiträgen auf Integral Naked wird diese Thematik zusätzlich angesprochen. Auch für Wilbers aktuelle Schaffensphase (Wilber V) spielt die Psychodynamik eine wichtige Rolle. Die Unterscheidung von Zonen innerhalb der vier Quadranten differenziert diesbezüglich für den oberen linken Quadranten in Zone 1 (psychodynamische Zustände) und Zone 2 (psychodynamische Strukturen). Eine im wahrsten Sinne des Wortes Sonderstellung zu diesem Thema nimmt die – sehr kontrovers diskutierte – „Wyatt Earp“ Serie ein, eine Veröffentlichungsreihe im Blog-Format auf der www.kenwilber.com im Sommer 2006.
Wilber startet mit dieser Veröffentlichung ein psychodynamisches Experiment zum Thema Schattenboxen (und Schattenumarmung).
Integral Spirituality schließlich, Wilbers aktuelles Werk (2006), widmet dem Thema gleich zwei Kapitel: (Kap. 5, „Boomeritis Buddhismus“, den kollektiven Zeitgeist ansprechend, und Kap. 6, „The Shadow and the Disowned Self“, die individuelle Psychodynamik betreffend).
Von 1977 bis 2006: in beinahe 30 Jahren einer Reihe von Buch- und Artikelveröffentlichungen hat das Thema der menschlichen „Psychodynamik“ für Wilber nichts von seiner Aktualität und Dringlichkeit verloren.
(aus: Online-Journal Nr. 2)