Ken Wilber
Einleitung der IL Redaktion
Ken Wilber spricht über die vielen Arten des Selbst, das Wesen von Erleuchtung und das Spektrum der Täuschungsmöglichkeiten, das uns davon abhält zu erkennen wer wir wirklich sind.
Auf unserer Reise des Aufwachens [Zustandsweg] und Aufwachsens [Strukturweg] begegnen wir einer Reihe von Selbsten. Allein in diesem Gespräch erwähnt Ken zehn davon:
Das ultimative Selbst [Ultimate self], das einzigartige Selbst [unique self], das wahre Selbst [True self], das relative Selbst [relative self], das unbegrenzte Selbst [infinite self], das authentische Selbst [authentic self], das falsche Selbst [false self], das endliche Selbst [finite self], das wirkliche Selbst [Real self] und das Ego [ego]. Als wenn die Struktur- und die Zustandsentwicklung nicht schon genug wären, müssen wir uns auch noch mit diesen Selbsten beschäftigen, von denen jedes darum ringt gesehen zu werden, sich auszudrücken, und sie alle müssen zusammengebracht werden, wenn wir als ein einheitlicher Mensch auf unserem Entwicklungsweg voranschreiten wollen. Was könnte uns auf diesem Weg ein guter Reiseführer sein, der uns auf die vielen Möglichkeiten der Selbsttäuschung und des sich Verlierens hinweist, der uns dazu einlädt aufrichtig mit uns selbst zu sein, und uns auch immer wieder zu uns selbst zurückführt, zu unseren Größen und Grenzen?
In einer außergewöhnlichen Tour nimmt uns Ken Wilber mit auf die Reise, geleitet von einer Kartografie der Selbste, die es jedem Suchenden ermöglicht über die Gravitation der eigenen Selbsttäuschungen hinaus zu gelangen.
Zuerst bringt uns Wilber dabei zurück zum ursprünglichen Ziel der mystischen Traditionen: der Verwirklichung des einzigartigen Selbstes, als einer Einheit von wahrem Selbst plus Perspektive – als einer Kultivierung einer lebendigen Erkenntnis des Selbst als einem Nicht-Selbst in einem absoluten Sinn, ohne dabei das Selbst, das im relativen Bereich existiert, zu übersehen. Dann erläutert er ganz detailliert die dreifache Konstruktion des relativen Selbst in einer einfachen Gleichung: Falsches Selbst + Schatten = authentisches Selbst. Dieses authentische Selbst ist das Ziel vertikalen Wachstums und Transzendenz, das Ergebnis des Aufwachsens, und es ist das was die individuelle Perspektive zum einzigartigen Selbst beiträgt.
Doch die spirituellen Traditionen verwechseln oft das authentische Selbst mit der Selbstkontraktion oder dem Ego, welches als das größte Hindernis der Verwirklichung diffamiert wird. Das macht die Situation nicht nur fürchterlich kompliziert, sondern es verhindert auch das Erscheinen des authentischen Selbst insgesamt – zu einem SELBST das sowohl voll erwacht als auch voll erwachsen und entwickelt ist. Wenn dieses Problem erkannt, und die Beziehung zwischen dem falschen und dem authentischen Selbst verstanden wird, können wir gleichzeitig und frei beide Wege beschreiten: den einen Weg zum Erkennen des wahren Selbst in einem absoluten Sinn, und den anderen Weg hin zu einem authentischen Selbst in einem relativen Sinn.
Danach wendet sich Ken als einem Thema des zweiten Wegs dem Spektrum der Schattenbildung an jedem Entwicklungsdrehpunkt auf dem Entwicklungsweg zu, eine Entwicklungskaskade der Selbsttäuschung der jeder von uns auf dem Entwicklungsweg begegnet ist. Und es ist dieses Spektrum von Subpersönlichkeiten, Schattenaspekten und Selbstkontraktionen, das gelöst werden muss damit das authentische Selbst voll und ganz (er)scheinen kann …
Ken Wilber; Ein Wegweiser zum Erkennen von Selbsttäuschungen
Schatten und Selbste
Ich möchte etwas über den Schatten sagen. Als ein Ergebnis der Selbstkontraktion, als eine Überreaktion, werden Anteile des authentischen Selbst – das authentische Selbst ist nicht das wahre Selbst –, abgespalten, dissoziiert und aus dem Selbst-System ausgestoßen. Damit werden diese Anteile unbewusst, und können auf Dinge oder Menschen der Umgebung projiziert werden. Zuerst geht es dabei um den Unterschied zwischen dem authentischen Selbst und dem wirklichen Selbst, (oder dem einzigartigen Selbst, oder dem wahren Selbst). Das einzigartige Selbst, das wirkliche oder das wahre Selbst, ist das unbegrenzte Selbst. Es ist das Selbst ohne Grenzen und Begrenzungen, es ist die reine Leere, die durch ein bestimmtes Augenpaar in die Welt schaut. Die Verwirklichung dieses wahren oder einzigartigen Selbst ist das Ziel aller großen Befreiungswege. Was unglücklicherweise viele dieser Wege tun ist, dass sie jegliches endliche Selbst mit einem „Ego“ in einer negativen, anti-spirituellen Weise in Verbindung bringen. Dadurch wird ihnen nicht klar, dass auch wenn man das ultimative, wahre, einzigartige Selbst verwirklicht – das unbegrenzte Selbst also – , dass es dabei immer noch eine Manifestation gibt, und dass es ein konventionelles Selbst gibt, dass sich im manifesten Bereich bewegt. Dies ist das alltägliche Selbst, es ist das Selbst das in Beziehungen zu anderen Menschen ist, mit anderen manifesten Selbsten, in einer manifesten Welt. Dieses Selbst ist ein unmittelbarer Teil der eigenen einzigartigen Individualität. Viele hat der von Carl Jung verwendete Begriff der „Individuation“ im Hinblick auf transzendentes Wachstum verwirrt, weil vielen das als ein Gegensatz erscheint. Man kann, nach dieser Logik, nur ein Selbst haben oder Transzendenz, aber nicht beides. Doch natürlich hat man beides, in der Einheit von Leere und Form, und man hat zwei Selbste, so wie es auch zwei Wahrheiten gibt, die ultimative und die relative Wahrheit. In der Doktrin der zwei Wahrheiten kann man in gewisser Weise von drei Perspektiven auf irgendetwas sprechen. Die eine Perspektive ist die der Unbegrenztheit, und die zwei anderen Perspektiven beziehen sich auf den manifesten Bereich, und unterscheiden ob etwas dort wahr oder falsch ist. Wenn in einer Zimmerecke ein eingerolltes Seil liegt, und das Licht im Raum dämmerig ist, und jemand das Seil für eine Schlange hält, dann ist das ein Beispiel für eine falsche relative Wahrheit. Um das zu erkennen muss man das Licht anschalten und sieht dann, dass es sich um ein Seil handelt. Dieses Erkennen ist eine relative Wahrheit. Doch letztendlich sind beides Aussagen über den relativen Bereich, und nicht die letztendliche Wahrheit.
2 Selbste
Mit den zwei Selbsten verhält es sich ganz genau so. Das ultimative Selbst kann nicht wahr oder falsch sein, es ist einfach. Es ist auf eine radikale Weise jenseits der Dualität von wahr und falsch. Doch das relative Selbst kann ein wahres und richtiges Selbstbild sein – das Seil ist ein Seil –, es kann sich aber auch um ein falsches Selbstbild handeln – das Seil ist eine Schlange. Dasjenige was das wahre und authentische [relative] Selbst in ein falsches Selbst verwandelt, ist die Schattenaktivität. Die Gleichung lautet also:
Falsches Selbst + Schatten = authentisches Selbst
Erwachen [in seiner umfassenden Bedeutung] heißt also die Verwirklichung des authentischen Selbst und des wahren Selbst (oder einzigartigen Selbst). Und an dieser Stelle versagen die meisten der [spirituellen] Traditionen. Sie anerkennen nur das eine oder das andere Selbst. Die westlichen psychotherapeutischen Traditionen hingegen anerkennen alle ein authentisches Selbst und betonen dies. Doch sie kennen meistens das wahre, unbegrenzte Selbst nicht oder verleugnen es sogar. Die großen [spirituellen] Traditionen machen demgegenüber oft das Gegenteil und (aner)kennen nur das transzendente, einzigartige Selbst. Dabei gibt es keinen Raum für die Manifestationen irgendeines individuellen, authentischen Selbst. Wenn man zur Leere erwacht, dann führt dies zu einer Unterdrückung und Leugnung eines Teil des eigenen einzigartigen Selbst, das sich im relativen Bereich manifestieren möchte. Jedes kleine, relative Selbst wird als eine Selbstkontraktion angesehen. Anstatt die Spiritualität also zu verwenden um zum einzigartigen Selbst zu erwachen, und dieses Erwachen authentisch im relativen Bereich durch das authentische Selbst zum Ausdruck zu bringen, wird Spiritualität [von den Traditionen] dazu verwendet, diesen einzigartigen Ausdruck im relativen Bereich zu verleugnen. Dies führt zu einer wischiwaschi Spiritualität die nicht wirklich auf den Boden kommt. Sie ist ausschließlich transzendent, ohne Immanenz, keine Bodenhaftung, kein Agape [A. d. Ü.: absteigende Liebe], die Menschen werden dabei ätherisch und sind nicht wirklich real und präsent. Dabei gibt es auch Unterschiede zwischen den Traditionen. Der Theravada Buddhismus geht diesbezüglich sehr weit und erlaubt keinerlei Selbst, das ist dort ein ziemliches Problem. Rinsai Zen hingegen hat eine Doktrin von zwei Selbsten, auch wenn der Unterschied zwischen dem authentischen Selbst und dem wahren Selbst theoretisch nicht genau erläutert wird. Doch durch die Anerkennung eines wahren Selbst entsteht auch Raum für ein authentisches Selbst.
Authentisches Selbst, wahres Selbst und Selbstkontraktion
Das ist also wirklich ein Thema. Zusätzlich zum authentischen Selbst und dem wahren Selbst gibt es die Selbstkontraktion. Das ist das dritte Element in diesem Zoo der Selbste, das ist der Übeltäter. Die Selbstkontraktion quetscht sozusagen das authentische Selbst so sehr dass daraus ein Schatten entsteht. Man kann es so einfach darstellen. Das wahre Selbst, das authentische Selbst, die Selbstkontraktion. Praktisch jeder der von Ego spricht meint diese Selbstkontraktion, und das wird meist mit dem authentischen Selbst verwechselt, und dann sind beide die Übeltäter. Das Ego alsschlimme Selbstkontraktion. Doch alles was das Ego ist, ist ein lateinischer Ausdruck für „Ich“. Das ist der Grund warum Fichte vom reinen Ich sprach, und was er damit meinte war das was Ramana Maharshi das Ich-Ich nannte, was man wörtlich auch als Ego-Ego bezeichnen könnte, als das ultimative Selbst. Darüber hinaus kann der Begriff Ego auch auf eine psychoanalytische Weise verwendet werden. Für die Scholastiker, die katholischen Theologen des Mittelalters, war das Ego oder das Selbst dasjenige was dem Geist eine Einheit [unity] gibt. Es hat damit eine sehr bedeutende Funktion, und das ist auch was es im Wesentlichen tut. Das Ego (als authentisches Selbst) ist dasjenige was dem manifesten Selbst Einheit oder Ganzheit gibt oder vermittelt. Wann immer die Selbstkontraktion zu stark wird, zu sehr kontrahiert, kommt es zu Abtrennungen und Ausquetschungen von Aspekten des authentischen Selbst, die eigentlich auf die Innenseite der Ichgrenze gehören, jedoch außerhalb der Ichgrenze gedrängt werden. Dieser Vorgang macht aus einer ersten Person eine zweite Person, ein Anderes, bis hin zu einer dritten Person, einem er, sie oder es, was kein Ich mehr ist. Der Schatten wird dabei von dieser überaktiven Selbstkontraktion hervorgebracht, speziell den Abwehrmechanismen. Abwehrmechanismen sind die Form die die Selbstkontraktion auf jeder der Entwicklungsebenen oder Bewusstseinsebenen annimmt.
Eine Hierarchie der Abwehrmechanismen
Die Form der Kognition einer Entwicklungsebene bestimmt dabei die Form des Abwehrmechanismus. Die kognitive Entwicklung verläuft von Bildern zu Symbolen zu Konzepten zu Regeln zu Meta-Regeln, und weiter auf der Entwicklungsskala zu overmind und supermind. Die erste kognitive Form erscheint etwa im Alter von 7 Monaten, und das sind Bilder. Ein Bild sieht so aus wie das was es repräsentiert, und das unterscheidet es von einem Symbol. Ein Symbol sieht nicht so aus wie das was es repräsentiert, es erfordert mehr kognitive Komplexität. Es beginnt daher mit Bildern. Wir können das immer noch. Wenn wir uns ein Bild des Berges dort am Horizont machen, dann können wir uns diesen Berg mit geschlossenen Augen vorstellen. Wir haben es bei all dem mit Grundstrukturen von Fähigkeiten zu tun die nicht wieder verschwinden. Wir können uns ein Bild von etwas machen indem wir es anschauen, dann die Augen schließen und es uns vorstellen. Wenn das die einzige kognitive Struktur ist die zur Verfügung steht [wie im Alter von 7 Monaten], dann ist dies auch der einzige Ansatzpunkt für die Selbstkontraktion. Bilder bilden so auch eine der frühesten Grenzziehungen des Selbst, mit einem Innen und einem Außen. Es gibt noch frühere und primitivere, doch wir beginnen hier mit den Bildern, als der ersten kognitiven Hauptstruktur als einem Beispiel. Was die Selbstkontraktion hier macht ist, sie verschiebt die Grenze weg von allem innerlich erlebten was Schmerz und Leiden verursacht, oder einfach unangenehm ist. Die Manifestation insgesamt ist dukkha, alles im manifesten Bereich leidet und ist sich selbst überlassen. Die Geburt ist eine Geburt ins Leid, in die „Ursünde“. Du hast dich entschieden ein separates Selbst zu sein, authentisch oder nicht authentisch, du hast dich entschieden dein wahres Selbst zu vergessen, und dies ist eine Entscheidung der Wegbewegung vom Ultimativen, ob du sie nun im Mutterschoß oder im Bardobereich zwischen den Leben getroffen hast. Wie immer man sich die Entstehung eines separaten Selbst auch vorstellen mag, die Selbstkontraktion ist ein Teil davon. Ein separates Selbst sein und sich von der äußeren Welt abtrennen ist bereits die erste Handlung einer Illusion. Es ist die erste Lüge darüber, worum es beim Schatten wirklich geht. Und beim Schatten geht es um Selbsttäuschung, darum wie wir uns sehen und wer wir wirklich sind. Wenn wir also in diese Welt treten, sind wir bereits gefangen in einer Form der Selbsttäuschung, in der Weise dass wir unser wahres Selbst nicht kennen, unser absolutes, wahres und wirkliches Selbst. Doch zusätzlichkönnen wir dabei mehr oder weniger wahrhaftig im relativen Bereich sein. Wir können ein mehr oder weniger authentisches oder falsches Selbst dabei entwickeln.
Wenn wir zu der ersten kognitiven Form von Bildern zurückkommen, dann können die Grenzen dabei verschoben werden. Ein Bild das – innerlich wahrgenommen – als sehr schmerzhaft empfunden wird, kann nach draußen verschoben und projiziert werden.
Projektion und Introjektion
Andersherum kann das Selbst auch etwas von außen nehmen, was draußen wahrgenommen wird, und auch dort bleiben sollte, z. B. sehr ärgerliche Eltern, und diese können internalisiert bzw. introjiziert werden. Hinsichtlich der Hierarchie der Abwehrmechanismen, die wir von allen psychodynamisch orientierten Psychotherapien kennen, gibt es mehr oder weniger die gleiche Hierarchie von Abwehrmechanismen. Sie beginnen mit Introjektion und Projektion, und gehen dann immer weiter, bis zum formal operationalem Denken und zur Sublimation, und dazwischen gibt es Dissoziation, Ablehnung und Unterdrückung. Diese Hierarchie gibt uns die Art der Kontraktion des Selbst, die zuerst bei Bildern entsteht. Danach entwickelt sich die Fähigkeit zur Symbolbildung, etwa mit dem Auftauchen der Sprache, und eines der ersten Worte die der Säugling verwendet ist das Wort „Nein“. Das Symbol „Nein“ kann auf eine sehr gesunde Weise verwendet werden, es kann aber auch zur Dissoziation verwendet werden, wo etwas aus dem Selbst herausgestoßen wird. Mit dem Auftauchen von Symbolen entsteht also eine komplexere Form der Selbstverleugnung und Dissoziation.
Die verbreitetste Form von Abwehrmechanismus auf jeder Entwicklungsstufe ist die der Projektion. Dies ist etwas ganz Grundlegendes was schon sehr früh auftritt. Projektion kann auf jeder Entwicklungsstufe auftreten, beginnend mit dem ersten Lebensjahr. Nach den Symbolen kommen die Konzepte. Konzepte sind Symbole die eine Klasse von Objekten repräsentieren. Das Wort „Hund“ ist ein Konzept. Es repräsentiert eine Klasse von Hunde-Dingen. „Fido“ [als Name] hingegen ist ein Symbol. Symbole bezeichnen [denote], Konzepte verbinden [connote]. Von „Fido“ zu „Hund“ bedeutet den Schritt von Symbolen zu Konzepten. Wir befinden uns dann beim Drehpunkt Nummer drei [auf der Entwicklungsskala]. Hier entsteht auch die Fähigkeit zu wirklicher klassischer Verdrängung im Freud’schen Sinne. Ein Impuls kommt hoch und wird unterdrückt. Verdrängung ist eine sehr machtvolle Form der Selbstkontraktion, die ab dem dritten Drehpunkt erscheint. Die therapeutischen Therapien des Drehpunktes zwei werden strukturbildenden Techniken genannt, weil die Selbstgrenze auf dieser Stufe noch schwach und sehr beweglich ist. Das Ziel der Therapie dieser Stufe ist es, einen Menschen in die Lage zu versetzen etwas verdrängen zu können. Dies ist ein Fortschritt, wenn das Selbst in Lage versetzt wird verdrängen zu können. Es ist auf dem zweiten Drehpunkt noch nicht möglich. Dort gibt es nur Bilder und Symbole, die zwar hin- und hergeschoben werden können, die aber noch nicht verdrängt und unterdrückt werden können. Doch bei Konzepten wird das anders. Sie sind sehr starke kognitive Strukturen, und wir finden hier eine der Hauptquellen von Schattenerzeugung, und dabei sprechen wir vom Lebensalter von 5, 6 oder 7 Jahren, und hier entstehen eine Menge von Problemen, die dann später in therapeutischer Arbeit anzusprechen sind. Dies ist ein heikler [tricky] Entwicklungsbereich, und es ist einer mit sehr viel Selbstkontraktion. Dies ist auch der Punkt in der Entwicklung, wo Körper und Geist sich zu differenzieren beginnen. Hier kann der Geist den Körper unterdrücken.
Auf der nächsten Entwicklungsstufe entstehen die kognitiven Strukturen von Regeln und Rollen. Diese beschreiben, wie sich das Selbst an seine Rollen in der Gesellschaft die es umgibt anpasst. Das Thema hier an diesem vierten Drehpunkt ist nicht mehr wie der Geist zum Körper passt, sondern wie der Geist zum Geist anderer passt. Hier geht es um die eigeneRolle und wie sie sich zeigt, auf eine gesunde oder ungesunde Weise, auf eine beschädigte oder beschädigende Weise, oder als eine Reihe von Spielen die gespielt werden, und dies ist etwas das sich die Transaktionsanalyse speziell angeschaut hat, die „Spiele der Erwachsenen“ [A. d. Ü.: nach dem Titel eines Buches von Eric Berne]. Diese werden dort beschrieben, und es werden Techniken beschrieben wie man damit umgehen kann. Zuerst geht es dabei darum, überhaupt zu erkennen dass man an einem Spiel beteiligt ist. Alle diese Spiele haben ihren Nutzen, sei es ein „ich bin schlauer als du“, ein „ich bin bescheidener als du“, ein „ich habe mehr Macht als du“, ein „ich verdiene mehr Geld als du“, ein „ich bin dir gegenüber nichts wert“ – und so weiter, als Beschreibungen der zahllosen Möglichkeiten wie wir inauthentisch miteinander interagieren. Dies sind die Abwehrmechanismen, die der Regel-Rollen Geist erzeugt. Die Abwehr geschieht hier durch die Regeln und Rollen, durch die wir uns in der Gesellschaft ausdrücken. Hier wurde der Schritt gemacht von der Interaktion des Geistes mit dem eigenen Körper zur Interaktion des Geistes mit dem Geist anderer Menschen und Wesen.
Und dann kann der Geist über sich selbst reflektieren, und das geschieht auf der [nächsten] Stufe des formal operationalen Denkens. Hier gibt es eine Reihe sehr wirksamer Kontraktionsmechanismen, die im Zusammenhang stehen mit dem rationalen Geist. Dies ist einer der Gründe warum der [denkende] Geist so einen schlechten Ruf hat bei spirituellen oder transformativen oder befreienden Bewegungen. Der rationale Geist wird dabei, zusammen mit dem Ego, meist verteufelt. Ein „rationale Ego“ zu haben ist so ziemlich das Schlimmste, was einem auf dem spirituellen Weg passieren kann. Das kommt zum Teil auch daher, weil das Ego, als die Selbstkontraktion auf der rationalen Ebene, sehr wirksame Selbstkontraktionen herbeiführen kann, mit einer enormen Schattenbildung. Und das Problem mit diesem Schatten ist, dass jedesmal wenn ein Schatten gebildet, und aus dem Selbst herausgestoßen wird, das authentische Selbst um ein weiteres Stück kleiner wird, und das falsche Selbst wird entsprechend größer, auch wenn es sich dabei um eine Reduktion handelt. Das falsche Selbst gewinnt gewissermaßen immer mehr die Oberhand, und die Kontrolle über das was geschieht. Das ist auf viele Weisen schmerzhaft, und eine Weise davon ist die tiefgreifende Selbsttäuschung die damit einhergeht. Es ist eine tiefgreifende Unehrlichkeit gegenüber sich selbst, und wer und was man wirklich ist. Die Ironie dabei ist, dass die Abwehrmechanismen erst das hervorbringen, was sie eigentlich vermeiden wollen. Jedes mal wenn man einen Abwehrmechanismus einsetzt, vergrößert man daher das Problem das man eigentlich beheben möchte. Das geschieht durch immer mehr Selbsttäuschung, die Selbstkontraktionen nehmen zu und das Selbst leidet immer mehr. Dies ist die eigentliche Ironie der Abwehrmechanismen, dass sie das erst hervorbringen was sie eigentlich überwinden wollen. Die Angst nimmt zu, die Depression, der Neid, die Eifersucht, die Selbstmordneigung, usw. – dies nimmt zu je mehr man vermeidet, wirklich vertraut mit sich und seinem Schatten zu werden, und sich dessen bewusst zu sein. Was auch immer der Schatten dabei ist, er kann negativ oder auch positiv sein, es kann sich um gute Eigenschaften oder auch um so genannte schlechte Eigenschaften dabei handeln. Doch was immer es auch ist, es ist etwas das zu einem selbst gehört, zum eigenen authentischen Selbst. Es ist ein Teil der eigenen wahren Manifestation in dieser Welt. Sich dessen nicht bewusst zu sein ist eine ganz grundlegende Form des Lügens, eine Selbstlüge gegenüber sich selbst über das was wirklich vor sich geht. Damit einher geht eine Fehlinterpretation von anderen Menschen, man projiziert seine Schatten auf sie – „ich bin nicht jemand der Kontrolle ausübt, aber mein Boss macht das andauern“ –, und plötzlich tauchen alle mögliche Dinge im Umfeld auf, die in Wahrheit dort gar nicht sind. Das ist nicht einfach zu erkennen, weil diejenigen auf die wir unsere Schatten projizieren oft Menschen sind, die diese Eigenschaften auch haben. Der Boss kann in dem Beispiel schon jemand sein der Kontrolle ausübt. Doch projiziert man das eigene kontrollierende Selbst noch auf das des Bosses, dann hat man es mit zwei kontrollierenden Selbsten zu tun, und das ist eines zuviel und führt zu Überreaktionen. Dies dauert so lange, bis man den eigenen kontrollierenden Anteil der zu einem gehört zu sich zurücknimmt und ihn reintegriert, als einen Teil des eigenen Selbst. Alle transformativen Wege der Welt haben etwas in der Art, dass man erst einmal durch Schwierigkeiten hindurchgehen muss um zum Schatz zu gelangen. Und was immer dies sonst noch sein mag, es ist auf jeden Fall eine gute Metapher für das Hindurchgehen durch den Schattenprozess, um zum authentischen Selbst zu gelangen. Dies wird um so wichtiger je weiter man sich entwickelt.
Der Schatten „wächst“ mit einem
Diese Schatten, diese falschen Selbste oder Subpersönlichkeiten kumulieren sich auf. Wenn sie einmal geschaffen wurden bleiben sie einem erhalten, bis man sich mit den darin enthaltenden Schattenanteilen wirklich konfrontiert. Tut man das nicht, verstecken sie sich und bleiben aktiv. Magenta und rote und bernstein Subpersönlichkeiten sind daher weit verbreitet, und das geht immer weiter bis zu den transpersonalen Bereichen, bis zum Overmind – Abwehrmechanismen, Schatten und Projektion. Wir erhalten so ein ganzes Spektrum von Selbsttäuschungen, ein Spektrum von Subpersönlichkeiten und falschen Selbsten. Bei ihnen allen wurde ein Aspekte des eigenen Selbst abgetrennt, dissoziiert und projiziert. Das eigentliche Problem dabei auf dem Entwicklungsweg ist, dass das falsche Selbst immer größer, und das authentische Selbst immer kleiner wird. Die einem zur Verfügung stehende Bewusstseinskraft wird immer weniger, sie wird von den Subpersönlichkeiten verbraucht. Diese behalten ihreEigenschaften, Motivationen, Bedürfnisse und Antriebe bei, die sie zum Zeitpunkt ihrer Abspaltung hatten. Rote Subpersönlichkeiten bleiben rot, und ihre Hauptmotivation ist Macht. Macht ist daher ein Thema für jemanden mit einer roten Subpersönlichkeit – entweder ist er oder sie machthungrig, oder erlebt Macht als etwas extrem Unangenehmes. Alle merken es, nur die betreffende Person selbst bekommt das nicht mit. Diese Subpersönlichkeit kann vielleicht 10% der eigenen Bewusstseinskapazität in Anspruch nehmen. Dann erreichen wir die Bernstein Entwicklungsstufe, und weitere 10% können dort in einer Subpersönlichkeit gebunden sein. Erreicht man dann auf dem weiteren Weg irgendwann die integralen Entwicklungsstufen und kann diese kognitiv erfassen – und integrale in diesem Zusammenhang bedeutet lediglich eine Fähigkeit, es bedeutet nicht dass das Integrale tatsächlich verwirklicht ist – man kann sich also auf einer integralen Entwicklungsstufe befinden, und immer noch dissoziieren und projizieren. Diese Projektionen sind lediglich sehr viel komplexer als auf den vorangegangenen Entwicklungsstufen. Eine komplexe Perspektive wird abgelehnt und jemand fühlt sich nicht wohl dabei. Nehmen wir als ein Beispiel jemand der für eine Ölfirma arbeitet, und nehmen wir an derjenige befindet sich bei 2nd tier, und verdrängt dabei die Bedeutung und Gesamtheit des Ökosystems. Diese Art von Bewusstheit wird verdrängt und aus dem eigenen Wahrnehmungshorizont gestoßen. Auf diese Weise kann er seine Arbeit weiter machen wie bisher, und ist der Meinung dass sie niemandem schadet.
Integrale Verdrängung
Die Tatsache der Wahrnehmung von etwas Integralem bedeutet nicht, dass dies wirklich auf eine integrierte Weise geschieht. Das kann so sein, auf der integralen Entwicklungsstufe können zum ersten mal alle vorherigen Entwicklungsstufen integriert werden. Das kann keine der 1st tier Entwicklungsstufen, und es macht das 2nd tier einzigartig, doch das geschieht nicht automatisch auf eine gesunde Weise. Man kann 2ndtier erreichen, und dabei 10, 20, 30 oder 40% seiner Bewusstseinskapazität nicht zur Verfügung haben. Diese Kapazität arbeitet auf ihre eigene Weise, und meldet sich wann immer sie will, ist immer reaktiv gegenüber etwas was im Außen gesehen wird, und man selbst reagiert reaktiv gegenüber etwas Schlimmen dort draußen, mit dem man sich beschäftigen und um dass man sich kümmern muss. Geht die Entwicklung weiter und man erreicht 3rd tier, dann kann einem buchstäblich der Sprit ausgehen. Man hat dann so viel seines authentischen Selbst projiziert und abgespalten, dass einem die Kraft für jeden weiteren Schritt fehlt. Hier ist es sehr wahrscheinlich dass die Betroffenen nach spirituellen Lösungen und spiritueller Hilfe für ihrem Schmerz suchen. Der Schmerz ist unerträglich geworden. Doch die meisten Formen von Spiritualität – von den Fundamentalisten einmal abgesehen, mythisch regressives Bernstein –, sind Pfade der großen Befreiung, die das wahre Selbst anerkennen, aber nicht das authentische Selbst. Jede Form individuellen Leidens wird dabei gleichgesetzt mit einer Selbstkontraktion. Es gibt dort keine Möglichkeiten mit Schattenthemen gut umzugehen. Um mit dem Schatten umzugehen muss man ein Selbst aufbauen, und an einem authentischen Selbst arbeiten. Doch die meisten spirituellen Traditionen (an)erkennen lediglich das wahre Selbst. Das authentische Selbst wird in einen Topf geworfen mit der Selbstkontraktion, als etwas was es loszuwerden gilt. Wann immer das authentische Selbst sich meldet wird es weggeschoben, weggedrückt, negiert oder lediglich beobachtet, in dem Versuch es zu transzendieren – doch es findet keine Anfreundung und Befriedung damit statt, als ein zu einem gehörigen, intimer Teil der eigenen Manifestation und dem eigenen Selbstausdruck in dieser Welt, mit den eigenen Eigenschaften und Qualitäten die einen ausmachen. Stattdessen werden diese Eigenschaften verleugnet, abgespalten und über Bord geworfen, und dadurch ist man sehr viel weniger als dasder oder die man wirklich sein könnte. Eine weitere Merkwürdigkeit dabei ist, dass Vieles von dem was im eigenen Geist als etwas Negatives erscheint, in Wahrheit eine Projektion einer eigenen positiven Eigenschaft ist. Von dieser Eigenschaft wurde einem vielleicht gesagt dass man sie nicht hat, sie wurde einem vielleicht von den eigenen Eltern ausgeredet oder ausgetrieben, oder man hat in der Kindheit eine Rolle übernommen, in der diese Eigenschaft nicht vorgesehen war. Mit dem Schrumpfen des authentischen Selbst wird das falsche Selbst immer größer, und einer der wirklich wichtigen Gründe für einen integralen Ansatz gegenüber Therapie und Spiritualität ist der, dass integrale Ansätze so ziemlich die einzigen sind die beide Selbste anerkennen. Dadurch können Methoden vermittelt werden, die es einem erlauben sowohl das transzendente als auch das authentische Selbst zu verwirklichen. Der eine Zeuge, das Ich-Ich, und die Anerkennung und Reintegration des eigenen Schattens und seine Verschmelzung mit dem falschen Selbst, um so zu einem authentischen Selbst zu gelangen, als das wer und was man wirklich als ein manifestes Wesen ist. Das was man als ein unbegrenztes Wesen ist, ist das wahre Selbst, das wirkliche Selbst, und die spirituellen Traditionen helfen einem dabei dies zu entdecken. Doch auf diesem Weg heilt man nicht automatisch den Schatten, im Gegenteil. Der Schatten kann dabei noch zunehmen, weil auf dem Weg der Transzendierung des Selbst sich oft ein Wegschiebens und eine Kontraktion des Selbst ereignen.
Bezeugen alleine reicht nicht
Das einfache Bezeugen, als eine grundlegende meditativer Praxis, ist wunderbar, außer wenn etwas abgespalten wurde. Wenn dieses Abgespaltene hochkommt, kommt es in seiner abgespaltenen Form hoch, und alles was man [meditativ] dabei machen kann ist, diese dissoziierten Formen mehr Aufmerksamkeit zu geben – und damit wird es noch stärker, durch die Aufmerksamkeit. Der Schatten wird dabei jedoch nicht geheilt. Das Bezeugen ist keine therapeutischeIntervention, es ist lediglich das was das ultimative Selbst tut, und dabei werden keine Unterscheidungen gemacht. Doch für das authentische Selbst müssen Unterscheidungen getroffen werden, die Unterscheidung ob es sich um ein echtes oder falsches Selbst handelt, was zum authentischen Selbst gehört und was nicht. Doch genau das tut eine betzeugende Meditation nicht. Daher kann das Bezeugen in dieser Situation die Dissoziation noch verstärken. Bezeugen, bezeugen, bezeugen – dissoziieren, dissoziieren, dissoziieren; nicht im Kontakt sein, nicht im Kontakt sein, nicht im Kontakt sein … Was der Schatten dabei lernt ist, wie er sich in dieser neuen Atmosphäre zurechtfindet. Er passt sich leicht dieser reinen Bewusstheit an, dem Zeugenbewusstsein, und dieses Zeugenbewusstsein sieht den Schatten als ein Es, und das wird der Schatten auch sagen, „ich bin ein Es“, doch in Wahrheit handelt es sich um ein Ich. Das Bezeugen lässt den Schatten unintegriert. Vor dem Hintergrund des Integralen ist sich der Therapeut dieser Dynamiken bewusst, und kann Techniken einsetzen die mit dem Schatten arbeiten, und auch Techniken die mit dem reinen Selbst arbeiten. Beide sind offensichtlich sehr wichtig.
(Quelle: Integral Life, The Loft Series, The Seeker’s Guide to Self-Deception, die Zwischenüberschriften wurden zur besseren Lesbarkeit hinzugefügt)
(aus: Online Journal Nr. 39, 2013)