– eine Entdeckung
Michael Habecker
Ken Wilber bezeichnet ihn als den “wahrscheinlich größten Psychologen Amerikas” und widmet ihm in Integrale Psychologie im Kapitel 7 Einige wichtige moderne Pioniere” einen eigenen Abschnitt. Dieser Abschnitt beginnt mit den Sätzen:
“Von diesen vieren [James Mark Baldwin, Jürgen Habermas, Sri Aurobindo und Abraham Maslow] ist James Mark Baldwin der zentralste, und es kann gut sein, dass die Geschichte ihn einmal als Amerikas größten Psychologen sehen wird. Baldwin, ein Zeitgenosse von James und Peirce, schuf eine integrale Psychologie und Philosophie, deren Weite ihres Horizontes und deren Tiefe man erst jetzt erkennt. Er war der erste Entwicklungspsychologe der modernen Geschichte. Er war der erste, der klar eine Entwicklungsstufe definierte. Er wollte introspektive Phänomenologie und wissenschaftliche evolutionäre Wissenschaftstheorie integrieren. Er glaubte, dass die drei großen Formen der Erfahrung die ästhetische, die moralische und die wissenschaftliche sind (die Großen Drei!), und er erkannte detaillierte Entwicklungsstufen in jedem dieser Bereiche (mit anderen Worten, er war einer der ersten, der Entwicklung in allen Quadranten beobachtete) …” (97)
In den Telefondialogen zum Buch Integrale Spiritualität erwähnt Wilber Baldwin bei der Entdeckung der Entwicklungsstrukturen der menschlichen Psyche[1]:
„Diese Strukturen können jedoch nur dann gut gesehen werden, wenn man einen Schritt zurücktritt, und Gruppen von Menschen über längere Zeiträume beobachtet, Fragen stellt und schaut, was passiert. Diese evolutionären Studien nahmen ihren Anfang mit den deutschen Idealisten, die damit begannen evolutionäres Bewusstsein zu studieren, und damit meine ich speziell Fichte, Schelling und Hegel. Darwin und Wallace wendeten diese Ideen auf die Biologie an, und der erste große Entwicklungspsychologe war der Amerikaner James Mark Baldwin. Er beschrieb erstmals Bewusstseinstrukturen …”
“James Mark Baldwin, einer der Gründer von Entwicklungsstudien, sah die Entwicklungsstufen nicht so starr und streng, nicht nur als ein Zugeständnis an den Postmodernismus, sondern weil Stufen tatsächlich Wahrscheinlichkeitswolken sind, und eine technische Beschreibung sie mehr als Wolken oder Wellen definieren würde, und nicht als Ebenen. Daher zögere ich immer, wenn ich von Leitersprossen spreche, weil das so leicht falsch verstanden wird … James Mark Baldwin hatte 5 oder 6 multiple Intelligenzen [Entwicklungslinien], einschließlich derer, welche die sich auf das Wahre, das Gute und das Schöne beziehen. Er hat Ästhetik mit aufgenommen, kognitive Studien und moralische Entwicklung, und alle diese Linien entwickeln sich bei ihm durch sechs oder sieben Ebenen, bis hin zu etwas, was einem kosmischen Bewusstsein entspricht, und das sind seine Worte: ‚kosmisches Bewusstsein’. Er war ein Genie, doch er wurde, wie auch sein Zeitgenosse William James, durch den Behaviorismus in diesem Land [USA] verdrängt. In seinen letzten Jahren lehrte Baldwin in Paris, und einer seiner Studenten war Jean Piaget. Die Entwicklungsforscher im Gefolge von Piaget und Kohlberg hatten dann jedoch ein besseres Verständnis davon, was Strukturalismus wirklich bedeutet, und wie man Entwicklung weniger starr und streng betrachten kann – Forscher wie Carol Gilligan, Howard Gardner, Robert Kegan, Clare Graves, Kurt Fischer, Jenny Wade …”
Wer war oder ist James Mark Baldwin, und worüber hat er geschrieben? Die Suche bei einem großen Internetbuchhändler nach deutschsprachigen Ausgaben seines Werkes verläuft ergebnislos. Die Suche bei einem Internet Antiquariat ergibt einige wenige deutschsprachige Ausgaben, welche jedoch nur antiquarisch (und zu entsprechenden Preisen) erhältlich sind.
Erfreulicherweise hat ein amerikanischer Verlag (Kessinger Publishing) einige der Bücher von Baldwin als Reprints herausgebracht, so dass diese zumindest auf Englisch zugänglich sind. Die Titel sprechen bereits Bände:
– Dictionary Of Philosophy And Psychology
– Fragments in Philosophy and Science Being. Collected Essays and Addresses
– Genetic Theory Of Reality
– Handbook Of Psychology: Feeling And Will
– Handbook Of Psychology: Senses And Intellect
– History Of Psychology, A Sketch And An Interpretation
– Mental Development In The Child And The Race: Methods And Processes
– Social And Ethical Interpretations In Mental Development: A Study In Social Psychology
– The Psychological Review, July 1901
– The Psychological Review, May 1901
– The Story Of The Mind
– Thought And Things: A Study Of The Development And Meaning Of Thought, Or Genetic Logic (1906) V1-3
Hier ein paar Daten aus seinem Leben[2].
James Mark Baldwin (* 12. Januar 1861 in Columbia, South Carolina;
† 8.November 1934 in Paris) war ein amerikanischer Philosoph und Psychologe. Er studierte an der Princeton University, u. A. bei dem schottischen Philosophen James McCosh. Er leistete wichtige Beiträge zu den Anfängen der Psychologie, zur Psychiatrie und zur Evolutionstheorie und richtete 1898 das erste psychologische Labor im englischen Sprachraum ein.
Biografie
Baldwin erhielt ein Forschungsstipendium der „Green Fellowship“, das er für einen Studienaufenthalt in Deutschland benutzte (1884–85). Er studierte bei Wilhelm Wundt in Leipzig und bei Friedrich Paulsen in Berlin.
Im Jahr 1885 wurde er Lehrer für Französisch und Deutsch am Priesterseminar in Princeton. In dieser Zeit übersetzte Baldwin “La psychologie allemande contemporaine” von Théodule Ribot in die englische Sprache und verfasste seine erste Veröffentlichung: “The Postulates of a Physiological Psychology”. Die Arbeit führte von den Ursprüngen der Psychologie bei Immanuel Kant über Johann Friedrich Herbart, Gustav Theodor Fechner, Rudolf Hermann Lotze bis zu Wilhelm Wundt.
Während seiner Zeit als Professor für Philosophie am Lake Forest College (1887) heiratete er die Tochter des Seminar-Präsidenten, Helen Hayes Green. Hier veröffentlichte er den ersten Teil seines “Handbook of Psychology (Senses and Intellect)” und verbreitete damit die Ergebnisse der aufkommenden experimentellen Psychologie von Weber, Fechner und Wundt.
Im Jahr 1889 erhielt Baldwin den Lehrstuhl für Logik und Metaphysik an der University of Toronto. Dort gründete er das erste Labor für Experimentelle Psychologie in Kanada, das sein Nachfolger später auf 16 Räume erweiterte. In dieser Zeit wurden seine Töchter Helen (1889) und Elisabeth (1891) geboren. Seine Beobachtungen an den Säuglingen inspirierten ihn zu quantitativen und experimentellen Forschungen über die Entwicklung des Kindes, die er 1894 unter dem Titel “Mental Development in the Child and the Race. Methods and Processes” veröffentlichte. Die Ergebnisse dieser Forschungen hatten nachhaltige Einflüsse auf Jean Piaget und Lawrence Kohlberg.
Der zweite Teil des “Handbook of Psychology (Feeling and Will)” erschien 1891. Seine beiden Handbuchbände standen im Wettbewerb mit William James „Principles of Psychology“ 1890.
Während dieser schaffensreichen Jahre reiste Baldwin 1892 nach Frankreich, um die bedeutenden Psychologen Jean-Martin Charcot vom Hôpital Salpêtrière, Hippolyte Bernheim in Nancy und Pierre Janet zu treffen.
Princeton
Im Jahr 1893 wurde Baldwin auf den Lehrstuhl für Psychologie an der Princeton Universität berufen. Gleichzeitig erhielt er die Möglichkeit, ein neues psychologisches Labor zu gründen. Hier erreichte Baldwin 1903 mit der Veröffentlichung seines Werkes “Social and Ethical Interpretations in Mental Development. A Study in Social Psychology” den Höhepunkt seiner Karriere. Mit dieser Arbeit legte er eine kritische Überarbeitung seiner frühen Veröffentlichung “Mental Development” vor, die den Russischen Psychologen Lev Vygotsky und über dessen Werk auch Alexander Luria stark beeinflusste. Eine Synthese dieser Wirkungskette findet sich schließlich bei Alexej Leontjew.
Baldwin vervollständigte sein psychologisches Werk mit Philosophie, insbesondere mit Erkenntnistheorie, wie er sie 1897 vor der Amerikanischen Psychologen Vereinigung präsentierte. Bei dieser Veranstaltung gab er auch die Arbeit an seinem “Dictionary of Philosophy and Psychology” bekannt. In der Folgezeit hatte er intensive philosophische Korrespondenzen mit den 60 Teilnehmern dieses Projekts, das 1902 abgeschlossen wurde. Ein besonders wichtiger Teilnehmer des Projekts war Conway Lloyd Morgan. Er war vielleicht der einzige, der den sogenannten “Baldwin-Effekt” verstand.
Im Jahr 1899 begleitete und überwachte Baldwin die Herausgabe des “Dictionary” in Oxford. In diesem Zusammenhang wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford verliehen.
Während seiner Zeit in Princeton gründete Baldwin mit J. McKeen Cattell und anderen die Zeitschriften Psychological Review, Psychological Bulletin und Psychological Index.
Auf Grund eines Streits mit dem Präsidenten von Princeton, Woodrow Wilson und wegen eines günstigen Angebots der Johns Hopkins Universität, das bessere Bezahlung und weniger Lehre versprach, wechselte Baldwin 1903 als Professor für Philosophie und Psychologie dort hin. Das hier von Stanley Hall im Jahre 1884 erstmals gegründete Experimentallabor wurde von ihm wieder eröffnet.
In Baltimore begann Baldwin die Arbeit an “Thoughts and Things: A Study of the Development and Meaning of Thought. Or Genetic Logic” (1906, eine kurze Darstellung seiner Ideen, die in ”Genetic Theory of Reality. Being the Outcome of Genetic Logic as Issuing in the Aesthetic Theory of Reality called Pancalism” (1915) zur Reife gelangten.
Seine Karriere in Amerika endete 1908 durch die Verwicklung in einen Sexskandal, der durch die Razzia in einem Bordell herbeigeführt wurde. Baldwin war gezwungen, die Johns Hopkins Universität zu verlassen. Er lebte von jenem Jahr an bis zu seinem Tod in Paris.
Paris
Durch seine Verbundenheit mit Frankreich wuchs bei Baldwin die Überzeugung, Amerika müsse seine neutrale Haltung im Ersten Weltkrieg aufgeben. Deshalb veröffentlichte er 1916 die Schrift “American Neutrality, Its Cause and Cure”. In diesem Jahr überlebte er während einer Schiffsreise zu William Osler einen Deutschen Torpedo-Angriff auf die Sussex im Ärmelkanal und er schickte daraufhin ein offenes Telegramm an den Amerikanischen Präsidenten, das in der New York Times veröffentlicht wurde. Nach dem Kriegseintritt Amerikas im Jahr 1917 wurde Baldwin Vorsitzender der Amerikanischen Marineliga, er übte dieses Amt bis 1922 aus. Im Jahr 1926 erschienen seine Memoiren unter dem Titel “Between Two Wars (1861-1921)”.
Wirkungen
Das bedeutendste theoretische Vermächtnis Baldwins ist sein Konzept der Evolution – der Baldwin-Effekt. Baldwin postulierte gegen Lamarck, dass es einen Mechanismus gibt, der das Genom durch epigenetische Faktoren in gleichem Maße – oder noch stärker – gestaltet als es die natürliche Selektion vermag. Insbesondere über Generationen entstandene und nachhaltige menschliche Verhaltensmuster als Satz kultureller Praktiken sollten mögliche Faktoren sein, die das menschliche Erbgut formen.
Einfluss
Baldwin’s Werk steht inmitten der aktuellen Auseinandersetzungen in der Entwicklungspsychologie und im weiteren Sinne auch der Soziobiologie. Es ist hauptsächlich Robert Wozniak, Professor für Psychologie am Bryn Mawr College zu verdanken, dass James Mark Baldwin für die Ideengeschichte wiederentdeckt wurde. In seinem Buch Integrale Psychologie bezeichnet Ken Wilber Baldwin als einen Vorreiter seiner Theorie einer integralen Psychologie.
Siehe auch die Besprechung seines Buches The story of the mind.

James Mark Baldwin (1861 – 1934)
[1] Im Rahmen von Wilbers integralem Methodenpluralismus ist dies die Zone 2.
[2] Quelle: Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/James_Mark_Baldwin
(aus: Online Journal 13)