Psychodynamik und BIG MIND

Psychologie / Therapie

Psychodynamik und BIG MIND

Michael Habecker

Einer der vielen faszinierenden Aspekte einer integralen Herangehensweise an die menschliche Psychodynamik ist die Verbindung der Stärken von gestaltenden Methodiken und Techniken einerseits und entidentifizierenden Methodiken andererseits. Während gestaltende psychodynamische Methodiken, die psychotherapeutischen Methodiken im weitesten Sinn, sich mit den Inhalten menschlichen Bewusstseins konkret beschäftigen, diese hervorholen und aufdecken, sie interpretieren und gestalterisch formen, tun entidentifizierende Methodiken – wie meditative Techniken – das genaue Gegenteil. Sie nehmen Abstand von aller inhaltlichen Psychodynamik und arbeiten „gegenstandslos“.

Beide Methodiken haben jeweils Stärken und Schwächen. Die Stärke der aufdeckenden und gestaltenden Methodiken liegt darin, dass sie den Inhalten des Bewusstseins Bedeutung zuschreiben, diese ernst nehmen und erkennen, dass bestimmte Inhalte oft Symptome sind für noch tieferliegende Inhalte (Schattenanteile). Durch deren Aufdeckung entstehen Heilung und Integration. Was jedoch dabei nicht entsteht, jedenfalls nicht automatisch, ist Transzendenz, und so tendiert die Psychodynamik manchmal dazu, jegliche Transzendenz zu leugnen oder sie als infantil abzuwerten[1]. Hierin liegt wiederum die Stärke meditativer Methodiken, welche die transzendente Komponente einer jeden Erfahrung betont und hervorhebt. Was ist der Raum, die Lichtung und die Leere, in welcher alle Erfahrungen entstehen und wieder vergehen? Versäume ich jedoch, bei der Suche nach Transzendenz die Botschaft der Inhalte meines Bewusstseins ernst zu nehmen, kann dies zu schwerwiegenden psych(odynam)ischen Problemen führen, welche letztlich auch die Suche nach Transzendenz sabotieren[2]. 

Mit dem „Big Mind Prozess“ wird eine von Genpo Roshi entwickelte Methodik bezeichnet, die westliche psychologische Elemente des „Voice Dialogues“ mit östlichen Elementen der Zen-Meditation integriert. Er verbindet damit westliche Schattenarbeit mit östlicher „Lichtarbeit“. Ausgehend von der phänomenologischen Erfahrung, dass viele Inhalte des eigenen Bewusstseins sich bei Erwachsenen in Stimmen[3] (voices) artikulieren, die man in sich hören kann, werden bei diesem Prozess diese Stimmen nacheinander aufgerufen und in ihrer Bedeutung gewürdigt und anerkannt, um dann aber auch wieder losgelassen zu werden, um Raum zu geben für das ICH BIN, welches die Öffnung, der Rahmen oder die „leere Fülle“ ist, in welcher all die Stimmen erscheinen. Der Vorgang unterscheidet dabei dualistische Stimmen wie den Beschützer, den Controller, den Skeptiker, die Angst, das Opfer, das verletzte Selbst, das verletzliche Kind, Verlangen, den suchenden Geist – von transzendenten Stimmen wie: der Weg, allumfassender GEIST (Big Mind), allumfassendes Mitgefühl (Big Heart). Erstere geben dem relativen Aspekt des Menschseins Raum und Stimme, letztere dem absoluten Aspekt, und somit kann diese Praxis einem dabei helfen, als ein „integriertes, frei-wirkendes menschliches Wesen“ in der Welt zu sein, ohne gänzlich von dieser Welt zu sein.

Am Anfang steht das Kennenlernen, die Würdigung der positiven Aspekte und damit die Integration der relativen Stimmen, die, aus welchen Gründen auch immer, oft in den Schatten gedrängt wurden, von wo sie dann im Verborgenen unkontrolliert wirken. Gerade die spirituellen Traditionen haben manche von ihnen, so z. B. das Verlangen, für alles Leid in der Welt verantwortlich gemacht. Ohne Verlangen jedoch gäbe es keine Entwicklung und keinen Fortschritt. Das Problem besteht in der Anhaftung am Verlangen, und nicht im Verlangen selbst. Oder nehmen wir den Skeptiker, der in Zeiten des positiven Denkens keinen guten Ruf hat. Aber er bewahrt uns vor Leichtgläubigkeit und Bauernfängerei, und kann sogar, bei radikaler Anwendung, zur Erleuchtung führen, durch die Verneinung jeglicher phänomenaler Wahrnehmung bis zu dem, was – unleugbar – übrig bleibt, dem ICH BIN.

Das Wachrufen der absoluten Stimmen in uns – keine der Stimmen, relativ und absolut, müssen künstlich „gemacht“ werden, sie sind alle in uns – erinnert uns an die Dimensionen unseres Seins, die frei von Zeit und Raum sind, unser ursprüngliches Antlitz.

In jedem Augenblick unseres Lebens können wir uns der relativen und absoluten Persönlichkeitsanteile und deren Stimmen in uns bewusst(er) werden, und sie immer besser kennenlernen und integrieren. 

Dazu Genpo Roshi[4] auf www.http://isc.integralinstitute.org:

Wenn ich versuche – wenn ich versuche – in die Transzendenz zu gelangen, dann ist das unmöglich. Das haben wir in Tausenden von Jahren in den Klostern und Meditationshäusern auf dem Meditationskissen ausprobiert. Wir haben auf unseren Kissen gesessen und versucht, über das Selbst hinauszugelangen. Das ist etwa so wie wenn man versucht, sich an seine eigenen Schuhbändern hochzuziehen. Das ist unmöglich. Durch einen Vermittler [wie jemand, der den Big Mind Prozess anleitet], der einen durch den Prozess begleitet, wird einem die ganze Anstrengung aus den Händen genommen. Daher funktioniert es. Es erfordert für denjenigen, der im Prozess angeleitet wird, keinerlei Anstrengung. Alles, was man dabei zu tun hat, ist, die Erlaubnis dafür zu erteilen, zu den unterschiedlichen Stimmen sprechen zu dürfen.

[1] So antwortete beispielsweise Margarete Mitscherlich, die „bekannteste deutsche Psychoanalytikerin“,  in der Zeitschrift Emotion (Ausgabe Juli 2006, S. 83) auf die Frage nach Glaube und Gott: „Gott ist wunderbar, aber er ist doch nur ein Wunschbild, der gütige Vater, nach dem man sich als Kleinkind sehnte, wenn man total hilflos war. Ich bete auch manchmal, weil man es mir so beigebracht hat. Vom Verstand her weiß ich: Gott und Glaube sind eine Projektion.“

[2] Eine gute Verbindung von Zen und Psychodynamik ist das Buch Zen-Leben. Und täglich grüßt das Murmeltier von Ezra Bayda. (Siehe hierzu auch die Buchbesprechung der Integralen Bibliothek. 

[3] Anstelle von Stimmen kann man auch von jeweils unterschiedlich entwickelten Persönlichkeitsanteilen sprechen.

[4] Genpo Roshi ist autorisierter Zen-Roshi, und hat die Methode des Voice Dialogue bei Hal und Sidra Stone studiert, siehe z. B. Hal und Sidra Stone, Du bist Viele.

(aus: Online-Journal 10)

Ähnliche Beiträge