Schattenspiele – die drei Arten des Unbewussten nach Ken Wilber

Psychologie / Therapie

Schattenspiele – die drei Arten des Unbewussten nach Ken Wilber

Sabine Uhlen

Erst seit Freud sickert allmählich ins Allgemeinwissen, dass wir ein Unbewusstes haben – und dass das Unbewusste vielleicht auch uns hat. Dass wir nicht souveräne HerrIn unseres eigenen Denkens und Handelns sind, war eine der drei großen Kränkungen der Menschheit – neben dem Fakt, dass wir „vom Affen abstammen“ und dass sich die Erde um die Sonne dreht.

Oft wird das Unbewusste umgangssprachlich mit dem Begriff „Schatten“ gleichgesetzt. Jedoch beschreibt dieser Begriff in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedlich Konzepte.

Erstmals wurde der Begriff von C. G. Jung, ehemals „Kronprinz“ von Freud, formuliert: „Der Schatten ist die Person, die Sie lieber nicht wären.“ Da aber nicht nur unsere schlechtesten, sondern oft auch unsere besten Eigenschaften im „Schatten“ liegen, musste der Begriff ausgeweitet werden. Später entwickelte Jung das Konzept des archaischen oder kollektiven Unbewussten (die frühesten primitivsten Strukturen, präverbal und oft auch sub-human, das phylogenetische Phantasie-Erbe, angeborene Muster von inneren Bildern). Persönliches und kollektives Unbewusstes zusammen sind auch die Inhalte des Freud´schen Unbewussten, des Es.

Wilber benutzt den Begriff „Schatten“ sehr weit und stellt ihn in den Rahmen von Involution/Evolution (siehe das Video Three Kinds of shadow auf www.IntegralLife.com) und AQAL (MP3-Audio Ken on Unconscious IntegralLife News, März 2010). In dem Video reduziert er seine im „Atman-Projekt“ beschriebenen fünf Formen des Unbewussten (siehe dazu das „Grundlagenkonzept“ Arten des Unbewussten auf dieser Page des Integralen Forum) auf drei Schattenformen. Im folgenden Beitrag möchte ich auf beide Einteilungen eingehen.

Abbildung: Drei Schattenformen im Kreislauf von Involution und Evolution

Schatten im Kreislauf von Evolution und Involution

Nach Wilber entsteht der erste Schatten aufgrund eines involutionären Vergessens. Wenn GEIST sich selbst vergisst und sich bei Geburt eines neuen Menschen inkarniert, so ist das Wissen um unsere wahre, göttliche Natur untergetaucht. Dieser Schatten ist Vorbedingung zum kosmischen Spiel: GEIST verliert sich, um sich selbst zu finden. Ohne dieses Sich- Verlieren würde das Spiel – salopp ausgedrückt – keinen Spaß machen, weil man ja schon im Vorhinein wüsste, was dabei herauskommt, so wie wenn man mit sich selbst Schach spielen würde.

Die Zwischenräume und Stadien des untertauchenden Wissens werden im Tibetischen Totenbuch  ausführlich beschrieben (als Bardoräume). Wilber beschreibt den Zustand des Fötus als im Grund-Unbewussten seiend. Der Fötus ist alle Tiefenstrukturen, die als Potenziale vorhanden sind und in der Entwicklung auftauchen könnten. Aristoteles sagte, dass, wenn das gesamte Potential aktualisiert sei, das Ergebnis Gott sei.

Wilbers zweite Schattenform umfasst die im Entwicklungsverlauf unterdrückten bzw. verdrängten Inhalte. Wilber nennt diese den entwicklungsbedingten Schatten. Unverträgliche Inhalte (z. B. kindliche massive Wut, wenn das Kind sich von den Eltern verlassen fühlt) werden durch verschiedene psychische Mechanismen unterdrückt, damit das existentiell notwendige weitere Zusammenleben in der Familie weiter möglich ist. Primär sind Verdrängungen oder Abspaltungen konstruktive Akte von Bewältigung, die jedoch Konsequenzen haben (wie Symptombildung und Projektion). Die verschiedenen Formen der teilweise später pathologisch erscheinenden Bewältigungen werden in der psychodynamischen Theorie als Abwehrmechanismen beschrieben. Je früher und intensiver im Lebensverlauf ein Abwehrmechanismus notwendig ist, desto „unreifer“ ist dieser und desto tiefer greift er in die Realitätswahrnehmung und -bewältigung ein. Wilbers dritte Schattenform beschreibt das auftauchende – bzw. noch nicht aufgetauchte – Wissen bzw. Bewusstsein. Dieses ist nicht verdrängt, sondern (noch) nicht gewusst. Beispielsweise ist das Wissen darüber, mit welchen Mechanismen das Gehirn funktioniert oder dass es eine soziokulturelle Entwicklung der Kulturen von Jäger/Sammler zu Ackerbau usw. gibt, zwar vorhanden, aber nicht jeder hat Zugang dazu oder Kenntnis davon.

Ein anderer Aspekt wäre eine schon in der Menschheit vorhandene, jedoch in einem Einzelnen oder in einem Kollektiv noch nicht integrierte Bewusstseinsebene. Wenn ein Mensch oder ein Kollektiv z. B. auf der magischen Ebene sein Zentrum des Bewusstseins hat, so ist die mythische Ebene für den oder die Betroffenen noch nicht aufgetaucht und damit auch nicht existent. Sie ist unbewusst, liegt im Schatten, im Sinne von noch nicht bewusst, ist aber schon in anderen Menschen oder Kollektiven entwickelt.

Stehen wir auf der mythischen Bewusstseinsebene, können diese aber selber nicht erkennen, ist das  vergleichbar mit dem Fisch, der das Wasser, in dem er schwimmt, nicht wahrnimmt. Wilber beschreibt dies als unser identifiziertes oder eingebundenes Unbewusstes. Erst wenn wir fortschreiten auf die mentale Ebene, können wir erkennen, dass wir vorher auf der mythischen Ebene waren, und jetzt ist die mentale Ebene unser identifiziertes Unbewusstes.

Schatten im AQAL

Jedes Individuum hat einen persönlichen Schatten. Dieser enthält vergessenes und auch verdrängtes Material. Welche Inhalte im Laufe einer persönlichen Entwicklung verdrängt werden müssen, hängt von den Bedingungen des individuellen Lebens ab. Zudem hat jeder einzelne Mensch Anteil am archaischen Unbewussten, den angeborenen Mustern von Bildern sowie dem Verhalten, und verschiedene Aspekte werden jeweils individuell ausgestaltet.

Ein Kollektiv zeigt kollektive Formen von Verdrängung. Zum Beispiel verdrängt eine puritanische Gemeinschaft Sexualität und es entsteht ein kollektiver Schatten mit entsprechenden Symptomen. Es existieren innerhalb einer Gemeinschaft auch unbewusste, nicht verdrängte Inhalte. Beispielsweise die Grammatik einer gesprochenen Sprache wurde nie verdrängt, sie muss nicht bewusst sein und wird trotzdem ständig verwendet.

In den rechten Quadranten ordnet Wilber noch nicht gewusstes Wissen, Fakten ein. Beispielsweise kennen wir heute die Neurotransmitter Dopamin und Glutamat, obwohl viele Menschen davon noch nie etwas gehört haben. Auch sind z. B. soziologische Fakten der Vorzeit nur den Menschen bewusst, die sich damit beschäftigen.

Arten des Unbewussten und Schattenarbeit

Eine sorgfältige Kartografie des Schattens, wie von Wilber angeboten, hilft uns zu unterscheiden, wo wir überall nach Schatten (und Licht!) suchen können und ist eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Schattenarbeit. Sie würde zu Formen von Schattenarbeit führen wie:

  • erkenne dich SELBST (wahres Selbst, ungeboren, zeitlos, z. B. Meditation, Grund-Unbewusstes im Sinne von Seinsgrund, Schattenform 1 der Abbildung)
  • erkenne dich selbst (relatives Selbst, heilende Regression, Re-Integration von Verdrängtem aus dem persönlichen Unbewussten, z. B. psychodynamische Schattenarbeit, Schattenform 2 der Abbildung)
  • erkenne dich selbst (relatives Selbst, womit bist du gerade identifiziert, und worin besteht der nächste  Entwicklungs- und Wachstumsschritt? Schattenform 2 und 3 der Abbildung)
  • erkenne dich selbst (relatives Selbst, z. B. Lernen, Wissen und wachsen, Schattenform 3 der Abbildung)
  • Diese Formen der Bewusstwerdung können und sollten individuell und kollektiv stattfinden.

In Bezug auf die psychologische Schattenarbeit (2) empfiehlt Wilber den 3-2-1- Prozess, eine Methode, die ursprünglich aus der Gestalttherapie kommt. Noch effektiver ist nach meiner Erfahrung „The Work“ von Byron Katie, die nicht nur Projektionen auflöst wie im 3-2-1-Prozess, sondern auch Multiperspektivität einübt – ein Zeichen von Second-Tier- Denken. Wunderbar und anregend wird von vielen Menschen auch die Arbeit mit eigenen Träumen erlebt.

Solche Selbsthilfetechniken sind gut und bringen uns weiter. Bereiche, die mit erheblicher Trauer, Angst oder Wut besetzt sind, bleiben trotzdem oft weiter durch Abwehrmechanismen geschützt – und das ist erst einmal gut so. Werden Abwehrmechanismen und Verdrängungsschranken gewaltsam niedergerissen, ist das Ergebnis nicht Transzendenz, sondern Zusammenbruch. Hier sind Sorgfalt und Geduld angebracht. Mit Hilfe von kompetenten Begleitern ist es möglich, noch mehr Schätze aus dem Schatten zu heben als alleine. In fast allen Märchen wird beschrieben, dass die Protagonisten eine/n Helfer/In benötigen, um in den dunklen Wald zu gehen und dort notwendige Entwicklungsaufgaben zu bewältigen – um dann – meist symbolisiert durch den Schatz – bereichert wieder aus dem Dunklen herauszugehen.

Und immer wieder ist es gut, wenn wir bei der Beschäftigung mit Themen wie Entwicklung,  Schattenintegration, Lernen usw. den „Seinsmodus“ nicht vergessen, die Vollkommenheit dieses und jedes Augenblicks unseres Lebens – so wie er ist. Der einzige Aspekt von uns, der den Schatten loswerden will, ist das Ego. Aus der Absolutheit betrachtet, ist alles in Ordnung, so wie es ist,alles ist ein Spiel Gottes, alles ist Liebe – auch der Schatten!

Dr. med. Sabine Uhlen, verh., zwei Töchter, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie, Sozialmedizin, niedergelassen als ärztliche Psychotherapeutin, Zen- Schülerin von Michael von Brück, 2001 Gründung und seitdem Leitung des »Haus am Kaiserberg«:

www.hausamkaiserberg.de.

(aus: IP 17, 2010)

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