Vom munteren Dreck zur Poesie

Psychologie / Therapie

Vom munteren Dreck zur Poesie

Ken Wilber

Die Idee [und Unterscheidung] von Strukturen des Bewusstseins und Zuständen des Bewusstseins hat eine unglaubliche Bedeutung. Strukturen können im Allgemeinen durch Introspektion nicht erkannt werden, sie können jedoch erkannt werden durch Methodiken der Zone 2, wie den Strukturalismus oder Neostrukturalismus, Genealogie oder Entwicklungsstrukturalismus, und diese Methodiken reichen zurück bis zu den großen deutschen Idealisten.

William James und James Mark Baldwin

Der erste große Entwicklungspsychologe war der Amerikaner James Mark Baldwin. Er war ein Zeitgenosse von William James, und ein ebenso großes wenn nicht noch größeres Genie. William James war ein Pionier der Untersuchung von Bewusstseinszuständen, diese sind in gewisser Weise einfacher zu untersuchen als die Bewusstseinsstrukturen. James Buch Die Vielfalt religiöser Erfahrung ist ebenso genial wie die Bücherund Forschungen von James Mark Baldwin. Übrigens ging Baldwin am Ende seines Lebens nach Paris und lehrte dort, und einer seiner Studenten war ein Schweizer Psychologe namens Jean Piaget. Kohlberg hat darauf hingewiesen, dass Piaget die meisten seiner bahnbrechenden Ideen von James Mark Baldwin übernommen hatte. Das Erstaunliche bei Baldwin ist, dass er mindestens schon drei Entwicklungslinien beschrieb, die dem Wahren, dem Schönen und dem Guten entsprechen, oder Wissenschaft, Moral und Kunst, und jede dieser Linien entwickelt sich bei ihm durch sechs oder sieben Entwicklungsebenen. Die höchste dieser Ebenen nannte er selbst „kosmisches Bewusstsein“. Wir haben hier also schon Entwicklungslinien und Entwicklungsebenen, bis hinauf zum kosmischen Bewusstsein. Das ist absolut brillant. Ich wünschte mir, ich hätte schon früher von Baldwin erfahren, weil ich mir dann vieles, was ich auf die harte Tour selbst herausfinden musste, erspart hätte. Er spricht schon im Zusammenhang von Ebenen und Linien von Strukturen, und Strukturen sind [im Unterschied zu Zuständen] wesentlich schwieriger zu erkennen, weil man sie nicht durch die Innenschau erkennt. Das geht bei Zuständen, dem Wachzustand, Traumzustand, traumlosen Tiefschlaf, hypnotischen Zuständen, Drogenzuständen, usw. [aber nicht bei Strukturen]. Verfolgt man jedoch die eigenen Zustände und trainiert diese, dann kann man erkennen, wie sie sich stufenweise entfalten. Die meisten der großen kontemplativen Schulen der Psychologie haben Beschreibungen über diese Zustandsstufen, und diese sind sehr wichtig. Doch was Baldwin herausgefunden hat, sind Strukturen des Bewusstseins, er war der Erste, der psychologische Strukturen beschrieben hat. Unglücklicherweise lädt das Wort „Struktur“ zur Zerstörung [destruction] ein, jedenfalls in den Händen der Postmodernisten. Die Studenten im Mai 68 schrieben am Anfang der Studentenrevolte und Bürgerrechtsbewegung an die Häuserwände „nieder mit dem Strukturalismus“. In Amerika sagte man dazu „nieder mit dem System“, das war die gleiche Vorstellung. Eine Struktur ist jedoch keinesfalls eine rigide und lineare Stufenabfolge. Was Struktur eigentlich bedeutet, ist ein dynamisches, stabiles holistisches Muster. Was Piaget mit Strukturalismus bezeichnete, hätte er besser „Holismus“ genannt, weil das besser die dafür charakteristischen ganzheitlichen operationalen Muster beschreibt. Man kann diese Strukturen erst verstehen, wenn man ihre holistischen Transformationsregeln versteht, auf denen sie gegründet sind. James Mark Baldwin war der Erste, der das herausgefunden hat, eine brillante Leistung.

Das Verhältnis von Strukturen und Zuständen des Bewusstseins

Das Verhältnis zwischen den Strukturen und den Zuständen war bisher jedoch nicht sehr klar, und ich habe darüber auch nichts gefunden. Das Thema ist jedoch extrem wichtig, und ich habe gerade zwei Bücher in diesem Sommer [2007] darüber geschrieben, eines nenne ich „Overview“ (mit etwa 350 Seiten) und das andere „Superview“ (mit etwa 500 Seiten). Overview ist ein Überblick über genau unser Thema: Strukturen und Zustände, und wie sie zusammengehören. Nehmen wir das Wilber-Combs Raster, dann können wir auf der linken Seite jedes der vielen guten Strukturentwicklungsmodelle eintragen, z.B. das von Jean Gebser, mit den ursprünglichen Bezeichnungen archaisch, magisch, mythisch, rational, pluralistisch und integral, und oben im Raster schreiben wir die vier oder fünf Hauptzustände darüber, wie grobstofflich, subtil, kausal und nichtdual, und so erhalten wir ein Raster, ein Gitterwerk. Als ich mir das erstmals klarmachte, dachte ich zuerst daran, dass dies ein Weg wäre um zu zeigen, dass jeder Bewusstseinszustand entsprechend der Entwicklungsebene (oder Bewusstseinsstruktur), auf der sich ein Mensch befindet, interpretiert wird, und das ist auch richtig. Die Erfahrung eines inneren strahlendes Lichtes beispielsweise wird auf der Entwicklungsebene von Bernstein ganz anders interpretiert als wenn man sich auf der grünen Entwicklungsstufe befindet, und wieder ganz anders, wenn man sich bei Türkis befindet. Das ist alles richtig. Was dabei jedoch noch wichtiger ist, ist, dass das Wilber Combs Raster ein Raster von Entwicklungswegen ist, durch das wir Menschen uns hindurch entwickeln. Es ist ein Raster von Wachstumsoptionen. Mit unserer Geburt beginnen wir alle in der unteren linken Ecke des W-C Rasters, mit einer archaischen/grobstofflichen Orientierung. Unser Bewusstseinsschwerpunkt ist dabei dual, und das bedeutet Struktur/Zustand. Grobstofflich bezeichnet dabei den Zustand, in dem Wachheit [wakefulness] sich überwiegend auf den Wachzustand beschränkt. Man wird kaum jemanden finden, der im Traumzustand wach ist, im Wachzustand hingegen nicht. Wachheit beginnt im Wachzustand. Das ist der Grund, warum die Zustandsentwicklung einer Ordnungsabfolge folgt. Zustände unterliegen einer natürlichen Ordnung und Architektur. Wachsein oder Wachheit beginnt also im Wachzustand und ist zuerst darauf begrenzt. Bei einer entsprechenden Praxis kann diese Wachheit auf den subtilen Zustand ausgedehnt werden und weiter auf den kausalen Zustand und sogar auf den nichtdualen Zustand. Die Ausrichtung auf den grobstofflichen Wachzustand bedeutet dabei, dass der oder die Betreffende überwiegend auf die Ereignisse der sensorimotorischen Welt ausgerichtet ist. Die äußerliche Welt wird als real angesehen, Innerlichem wird dabei kaum Beachtung geschenkt, und manchmal wird inneren Erfahrungen sogar eine reale Existenz abgesprochen, wie im wissenschaftlichem Materialismus, man orientiert sich an einer Welt, die durch grobstoffliche Körper definiert ist. Im subtilen Zustand, dem Zustand eines subtilen Körpers, beginnt die Wachheit den subtilen Bereich zu durchdringen. Das kann etwas Einfaches wie luzides Träumen bedeuten, es bedeutet jedoch vor allem, dass man sich mehr an innerlichen Wirklichkeiten orientiert, und diese als real, oder sogar noch realer als grobstoffliche Wirklichkeiten ansieht, und diese innerlichen Wirklichkeiten werden intensiv erfahren. Ich bezeichne das Selbst, das Selbstempfinden in diesen vier Hauptzuständen, mit unterschiedlichen Begriffen, und zwar Ego, Seele, Selbst und Soheit. Ego ist das Selbstempfinden, welches sich an der grobstofflichen Welt orientiert; die Seele ist das Selbstempfinden, welches sich an der subtilen Welt orientiert, dem subtilen Bereich und dem subtilen Körper; der Kausalkörper, das Selbst, oder reine Selbst oder wahre Selbst tritt hervor, wenn sich das Bewusstsein an seiner eigenen Subjektivität orientiert, seiner wahren Selbst-Natur; und bei der Soheit verschwindet dann sogar das „Selbst“, und alles erscheint so, wie es ist, von Augenblick zu Augenblick, leuchtend, strahlend und klar. Ego, Seele, Selbst und Soheit sind die vier unterschiedlichen Orientierungen, die man gegenüber diesen vier Hauptzuständen einnehmen kann. (Man kann auch 5 Hauptzustände unterscheiden, aber wir beschränken uns hier auf die vier von mir genannten). Jeder Mensch beginnt also nach seiner Geburt bei einer Orientierung im Wachzustand archaisch/grobstofflich. Man kann sich dann weiterentwickeln, durch mehrere Entwicklungsstufen hindurch, und dabei immer am Grobstofflichen orientiert bleiben. Man kann sich, als ein guter wissenschaftlicher Materialist, bis zur orange Ebene entwickeln und dabei im Grobstofflichen orientiert bleiben. Doch auf jeder der Entwicklungsstufen kann man [im Bild der W-C Rasters gesprochen] sich auch nach rechts wenden, z.B. indem man ein Zustandstraining beginnt, oder die eine Zustandsorientierung beginnt sich vom Grobstofflichen zum Subtilen zu verschieben. Vielleicht entwickelt man sich danach wieder strukturell um ein paar Stufen weiter, und dann beginnt sich der Zustandsschwerpunkt vom Subtilen zum Kausalen zu verschieben. Danach erfolgt vielleicht wieder eine Weiterentwicklung in den Strukturstufen, und dann auch eine weitere Verlagerung der Zustandsorientierung hin zum Nichtdualen. Worum es dabei geht, ist so etwas wie eine integrale Soheit, mit dem Integralen als der höchsten Strukturstufe. Ich bezeichne die höchste Entwicklungsstruktur mit dem Begriff „Supergeist“ [supermind], und den höchsten Bewusstseinszustand mit Big Mind. Big Mind und Supermind sind nicht dasselbe. Supermind enthält Big Mind, aber nicht umgekehrt. Das bedeutet, dass man sich auf der Bernstein oder Orange Entwicklungsstufe befinden kann, und auf dieser Stufe eine Verwirklichung des reinen, wahren Selbst haben kann, vier oder fünf Entwicklungsstufen unterhalb von Supergeist. Supergeist verändert gewissermaßen das ganze Spiel. Das Thema ist sehr komplex, und ich gehe hier nicht auf die Einzelheiten dabei ein, aber wenn man sich zum Supergeist entwickelt hat, und das ist es, worum es geht, dann hat der eigene Bewusstseinsschwerpunkt notwendigerweise die Zustände des Bewusstseins objektiviert, was zu einer kausalen Bewusstheit oder zur Bewusstheit der Soheit führt. Das Big Mind Bewusstsein ist notwendigerweise ein Teil einer Supergeist Verwirklichung. Supergeist ist dabei die Spitze der Evolution, und diese Spitze befindet sich derzeit auf einer Stufe, die ich [im Spektrum der Regenbogenfarben] der Farbe ultraviolett bzw. klares Licht zuordnen würde. Es gibt Evidenz dafür, dass es oberhalb von Türkis drei oder vier weitere Hauptstrukturen des Bewusstseins gibt. Ich bezeichne diese mit Indigo, Violett, Ultraviolett und klares Licht, oder mit transglobalem Geist, Meta-Geist, Über-Geist und Super-Geist. Es gibt einige Menschen, die immer wieder in ihrer kognitiven Entwicklungslinie zum Übergeist oder zum Super-Geist gelangen. Dazu gehören auch die Menschen, die sich mit meiner Arbeit beschäftigen, oder ähnlichen über-paradigmatischen und systemischen Denksystemen. Der wesentliche Unterschied zwischen Super-Geist und Big Mind besteht darin, dass auf der Ebene des Super-Geistes ein Bewusstsein von Big Mind besteht, und gleichzeitig eine Bewusstheit aller vorangegangenen Entwicklungsstrukturen. Auf der Ebene von Super-Geist hat man alle vorangegangenen Strukturen oder Ebenen der Bewusstheit integriert. Das ist sehr wichtig, weil es bedeutet, dass die Grundstrukturen des menschlichen Bewusstseins transzendiert und integriert wurden, so wie Zellen Atome und Moleküle integriert und transzendiert haben. Das Erreichen der Struktur von Super-Geist bedeutet das Transzendieren und Umfassen jeder der Hauptebenen, die zu dieser Zeit in der Menschheitsgeschichte entwickelt sind. Ebenso hat man Zugang zu den Hauptzuständen des Bewusstseins, ich bezeichne das als allwissend, eine Allwissendheit für einen selbst, was eine persönliche Allwissendheit aller Entwicklungsstrukturen bedeutet. Allwissendheit ist ein bedeutendes Thema, und ich widme mich dem ausführlich in dem Buch Overview und erläutere, was das ist und was es bedeutet. Menschen auf der Entwicklungsstufe von Über-Geist und Super-Geist empfangen unvorstellbare Informationen auf den Entwicklungslinien, in denen sie sich entwickelt haben. Dabei kann es sich um Moralisches, um Wissenschaftliches, um Künstlerisches usw. handeln. Diese Art von Allwissendheit ist es, mit der Genies die Menschheit durch die unterschiedlichen Entwicklungslinien berühren. Das Wichtigste dabei ist, dass diese zwei Variablen, und zwar Strukturen und Zustände, relativ unabhängig voneinander sind. Man kann einen großen Fortschritt bei den Entwicklungsstrukturen machen, aber so gut wie keine Fortschritte in den Seinszuständen. Umgekehrt kann man in den Bewusstseinszuständen voranschreiten, jedoch hinsichtlich der Entwicklungsstrukturen sich so gut wie gar nicht bewegen.

Pathologie bei Zuständen und Strukturen

Was ich auch noch erwähnen möchte ist, dass es in beiden Entwicklungslinien (und ich verwende den Begriff „Linie“ hier allgemein für die Strukturen und die Zustände der Entwicklung) Pathologien gibt. Entwicklung bedeutet [allgemein], dass das Subjekt eines Zustandes oder einer Struktur zum Objekt des Subjektes der nächsthöheren Struktur oder des nächsthöheren Zustandes wird. Das setzt sich immer weiter fort, solange bis keine Objekte mehrübrig sind. Man hat dann, mit anderen Worten, entweder Big Mind erreicht, die reine Soheit, und/oder Super-Geist, wo es keine weiteren Strukturen gibt, die zu objektivieren wären. Doch in beiden Fällen wurden alle [Wahrnehmungs]Subjekte zu Objekten. Das ist auch das Thema unseres Gespräches hier: Was immer man auch für sein eigenes Selbst halten möchte, ist nicht das wahre Selbst, es ist ein Objekt [der Wahrnehmung]. Das ist der Witz dabei, man kann es sehen. Man wird darauf aufmerksam und denkt sich, „OK, verstehe, ich dachte, das Ding, das ich mit Ken bezeichne, wäre mein wahres Selbst, aber es ist etwas, das ich sehen kann, es ist ein Objekt und kein wahres Subjekt, und daher auch kein wahres Selbst.“ Doch das vergisst man dann wieder, und es braucht ein Training um damit aufzuhören, kleine Objekte mit dem wahren Subjekt oder wahren Selbst zu verwechseln. Auch wenn man eine Big Mind Praxis macht, vergisst man das meist wieder. Dann erinnert man sich wieder oder wird daran erinnert, „alles was ich sehen kann, ist ein Objekt und nicht das wahre Selbst“, und man objektiviert und objektiviert und objektiviert immer weiter. Am Ende beider Entwicklungsskalen wurden alle Subjekte zu Objekten gemacht, und man hat absolute Subjektivität erlangt, oder die reine nichtduale Soheit.

Doch jetzt zur Pathologie: In der Entwicklung wird das Subjekt einer Entwicklungsstufe zum Objekt des Subjektes der nächsthöheren Entwicklungsstufe. Das „Ich“ einer Entwicklungsstufe wird zum „mir“ oder „mein“ der nächsten Stufe, solange bis es nur noch das Ich-Ich gibt. Doch es reicht nicht aus – um Robert Kegan zu zitieren – nur zu sagen, „das Subjekt einer Entwicklungsstufe wird zum Objekte des Subjekts der nächsthöheren Stufe“, weil bei der Pathologie das Subjekt einer Entwicklungsstufe zu einem „Es“ wird, zu etwas Abgespaltenem, nicht [so sehr] zu einem Objekt, sondern zu etwas „Anderem“,. Es wird kein „mir“ oder „mein“, sondern ein „Es“. Das ist sehr wichtig. Der normale Entwicklungsverlauf ist der, dass auf einer Stufe das Subjekt dieser Stufe zum Objekt des Subjekts der nächsthöheren Stufe wird, oder das „Ich“ einer Entwicklungsstufe wird zum „mir“ oder „mein“ der nächsten Stufe wird. Doch bei einer Pathologie wird ein Teil des Selbst, eine subjektive Identität, etwas mit dem man sich identifiziert hat, abgespalten, und es erfolgt eine pathologische Dis-Identifikation. Dieser Teil wird zu einem „Es“, und auch dieses „Es“ ist ein Objekt gegenüber der nächsthöheren Entwicklungsstufe, doch hier liegt keine gesunde Entwicklung vor. Es reicht also nicht zu sagen, „das Subjekt einer Entwicklungsstufe wird zum Objekt des Subjekts der nächsthöheren Stufe“, man muss sagen „das Ich einer Stufe wird zum Mir oder Mein des Ichs der nächsthöheren Stufe“. Dies setzt sich fort, bis es nur noch das Ich-Ich gibt. Ich-Ich ist das, was niemals zu einem Objekt gemacht werden kann, es ist reine Subjektivität, reines Bewusstsein, reine Soheit. Dies ereignet sich in beiden Dimensionen. Es gibt Entwicklung und Pathologie sowohl bei den Bewusstseinstrukturen, als auch bei den Bewusstseinszuständen.

Die Traditionen des Vedanta und Vajrayana

Was im Zusammenhang mit den Strukturen geschieht, und man kann sich die Strukturen dabei als die Chakren vorstellen – (man muss hier vorsichtig sein, weil es nur 7 Chakren gibt, wir heute aber von mindestens 12 Strukturstufen ausgehen können, und es ist nicht so, dass die Traditionen keine Strukturen erkannt haben, sondern wir heute über eine sehr viel größere Detailliertheit verfügen, weil man durch Introspektion die Strukturen nicht besonders gut erkennen kann). Ich erwähne in diesem Zusammenhang gerne das Beispiel des Vedanta, als einem wundervollen System, und Vajrayana stimmt damit überein. Wir finden dort die Zustände des Bewusstseins, und zu jedem Zustand gehört ein Körper, der diesen Zustand unterstützt und gewissermaßen trägt, – es gibt den Wachzustand, den Traumzustand und den traumlosen Tiefschlaf – der Wachzustand wird vom grobstofflichen Körper unterstützt, der Traumzustand vom subtilen Körper und der Zustand des traumlosen Tiefschlafes vom Kausalkörper – das Trikaya System. Dann gibt es noch eine vierten Zustand, turya, und dann noch eine fünften, turyatita, den Einen Geschmack. Wir haben also Bewusstseinszustände und Körper, und dann gibt es noch die „Hüllen“ [sheath], und diese Hüllen entsprechen den Strukturen des Bewusstseins, und im Vedanta gibt es fünf Haupthüllen. Den anamayakosha, die Nahrungshülle, den pranamayakosha, die Hülle des Prana und der Bioenergie, den manomayakosha, die Hülle des „mana“, des Geistes [mind], den vignanamayakosha, die Hülle des höheren Geistes , und den anandamayakosha, die Hülle der Seligkeit. Praktisch alle Meme des First tier von Clare Graves Wertesystem sind im manomayakosha enthalten. Es ist also nicht so, dass die Traditionen Strukturen oder Hüllen des Bewusstseins nicht erkennen. Was sie jedoch nicht haben, ist die Feinheit und Detailliertheit, über die wir heute verfügen. Bernstein, Orange und Grün sind alle im manomayakosha enthalten. Man kann mit diesem Modell beispielweise die Kulturkriege [zwischen den Memen] nicht erklären. Doch als ein generelles Modell ist dieses Modell [des vedanta] absolut richtig. Es erkennt bereits den Unterschied zwischen Strukturen und Körpern, und das ist wunderbar, wenn auch nicht sehr detailliert. Daran müssen wir denken, wenn wir über die Chakren sprechen, wir haben es anstatt mit fünf dabei mit sieben Hüllen zu tun. Bei jedem der sieben Chakren gibt es eine ida und eine pingala Energie, eine lunare und solare, oder grobstoffliche und subtile Energie, und einen nichtdualen Zentralkanal. Wir finde hier bereits ein intuitives Verständnis darüber, dass bei jeder dieser Hauptstrukturen oder Hüllen oder Chakren jeder der Hauptzustände vorkommen kann. Das ist sehr wichtig.

Strukturpathologie und Entwicklung

Um auf die Pathologie zurückzukommen: Im ersten Lebensjahr ist man mit dem anamayakosha, dem ersten Chakra identifiziert, und das ist die Nahrungshülle. Freud machte dabei eine extrem bedeutende Entdeckung, und zwar dass der Nahrungskanal zwei Enden hat, oral und anal. Freud verfolgte dabei buchstäblich den Weg der Bioenergie vom Oralen zum Analen zum Genitalern, dem zweiten Chakra. Freud sprach davon, dass wenn etwas in den ersten sechs Lebensmonaten, der oralen Entwicklung, schief geht, dass dann eine Fixierung oder Unterdrückung auftritt, etwas wird abgespalten, was eigentlich zum Selbst gehört. Die nächste Entwicklungsstufe, die anale Stufe, die sich daran anschließenden nächsten sechs Lebensmonate bedeuten, wenn etwas dort schief geht, dass dann wieder etwas abgespalten oder unterdrückt wird, und man denkt hier sofort an Menschen mit einem „analen“ Charakter. Freud gelangte dann weiter zum pranamayakosha, der sexuellen Hülle, dem zweiten Chakra, und dort machte er dann Halt und ging nicht weiter, doch was er bis dahin beschrieb, war eine buchstäbliche Verfolgung des Weges, den die Bioenergie [auf diesen frühen Entwicklungsstufen] nimmt. Er nannte das Libido. Das Interessante dabei ist: Wenn man sich auf dem ersten Chakra befindet, dann ist die eigene Subjektivität mit diesem Chakra identifiziert. Entwickelt man sich zum zweiten Chakra, dann wird das erste Chakra zu einem Objekt für das zweite Chakra, welches nun das eigene Subjekt ist. Geht man weiter zum dritten Chakra, dann wird das zweite Chakra zu einem Objekt für das eigene Subjekt, welches sich jetzt beim dritten Chakra befindet. Noch einmal: Das Subjekt eines Chakras wird im Verlauf der Entwicklung zum Objekt des Subjektes des nächsthöheren Chakras. Wenn etwas dabei schief läuft, dann wird eines dieser Subjekte kein „ich“, „mir“ oder „mein“ sein, sondern als ein „es“ abgespalten werden. Man kann also ein „es“ des ersten Chakra haben, und das sind Menschen, deren Religion die Nahrung ist. Man kann Teile einer Identitätdes zweiten Chakras abgespalten haben, und das sind Menschen, deren Religion Sex ist. Das dritte Chakra wären Menschen, welche die Macht lieben, das vierte Chakra hat mit Beziehungen und Liebe zu tun, Menschen, die Beziehungsprobleme haben. Man kann an diesem Beispiel mit den Chakren erkennen, wie dieses Model in seinen wesentlichen Strukturmerkmalen stimmt. Die Genealogie fügt dem hinzu, dass auf jeder dieser Entwicklungsstufen einige der Subjekte, anstatt richtig als ein „mir“ oder „mein“ erkannt zu werden, als ein Es abgespalten werden. Das ist im Wesentlichen das, was bei der Strukturentwicklung geschieht, und ich spreche in diesem Zusammenhang von Entwicklungsdrehpunkten [fulcrums]. In Overview bespreche ich zwölf Hauptdrehpunkte, die für zwölf Hauptstrukturen oder Hüllen oder Ebenen des Bewusstseins stehen, und die Pathologien, die auf jeder dieser zwölf Ebenen auftreten können – dafür gibt es eine große Menge an Beispielen, speziell für die ersten sechs Chakren. Für jede dieser Pathologien gibt es Behandlungsmöglichkeiten, die auch gut bekannt sind, in dieser Form jedoch noch nie zusammengestellt wurden. Es gibt also diese zwölf Drehpunkte, durch die sich der eigene strukturelle Bewusstseinsschwerpunkt hindurch entwickeln kann und dabei seine Identität verändert, wobei man sich von dem Subjekt, das man auf einer Entwicklungsstufe für ein reales Subjekt hält, dis-identifiziert, so dass es – auf eine richtige Weise – zu einem „mir“ und „mein“ wird, und nicht zu einem „es“. Wenn Mark Epstein ein Buch mit dem Titel Thoughts without a thinker schreibt, dann ist das nicht ganz richtig, weil wenn Gedanken auftauchen und ich meine, das wären deine Gedanken, dann wäre ich schizophren. Ich verstehe, was er mit „Gedanken ohne einen Denker“ meint, und zwar Gedanken ohne Selbstkontraktion und das Empfinden eines getrennten Selbst, aber meine Gedanken bleiben meine Gedanken, und ich weiß, dass diese Gedanken meine Gedanken sind und nicht deine Gedanken. Wenn ich das durcheinanderbringe, dann bin ich sehr krank. Das Ich einer Stufe wird zum „Mein“ des Ichs der nächsthöheren Stufe. Das ist die vertikale strukturelle Entwicklung.

Horizontale Entwicklung und Pathologie

Horizontal geschieht das gleiche im Hinblick auf die Bewusstseinszustände. Das Subjekt eines Zustands wird das Objekt eines Subjektes des nächsten Zustandes, so lange bis nur noch Subjektivität existiert, Ich-Ich. Dies wird – horizontal – als Erleuchtung bezeichnet, und ich sage an dieser Stelle, dass wir dabei auch daran denken sollten, dass es eine [strukturelle] Erleuchtung des Über-Geistes gibt und nicht nur die Erleuchtung des Big Mind.

Pathologien können auch bei den Zuständen des Bewusstseins auftreten, analog wie bei den Strukturen des Bewusstseins. Die vier Hauptzustände bezeichne ich dabei als den Pfad der Yogis, den Pfad der Heiligen, den Pfad der Weisen und den Pfad der Siddhas. Der Pfad der Yogis arbeitet überwiegend mit der Transformation des grobstofflichen Körpers, Chakra 1-6, das ist etwas, was man fühlen kann, kundalini Energie, die an der Transformation des grobstofflichen Körpers arbeitet. Der Pfad der Heiligen arbeitet mit dem sechsten und siebten Chakra und den Chakren, von denen man sagt, dass sie innerhalb des siebten Chakras sind oder auch darüber hinaus reichen, repräsentiert durch Individuen mit einem Heiligenschein um ihren Kopf. Hier geht es um die Transformation des subtilen Körpers. Der Pfad der Weisen orientiert sich weder am Grobstofflichen noch am Subtilen, sondern an der Transformation des kausalen Körpers, und dem Erkennen des wahren Selbst. Der Pfad der Siddhas arbeitet mit dem Weisheitskörper der nichtdualen Soheit, und dem tantrischen Spiel strahlend leuchtender Energie der Seligkeit, die von Augenblick zu Augenblick erscheint.

[Quelle: Ken Wilber, IntegralSpiritualCenter, vom frisky dirt to poetry]
(aus: Online Journal 18)

William James

James Mark Baldwin

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