Wulf Mirko Weinreich
Ich möchte mich in meinem Artikel mit einigen Aspekten der spirituellen Entwicklung auseinandersetzen – sozusagen einige Details aus meiner subjektiven Sicht heraus beleuchten, um dem „Skelett“ des Wilberschen Modells etwas „Fleisch“ zu geben.
Manchmal werden sich meine Ansichten mit denen Wilbers decken oder sie ergänzen, an anderer Stelle können sie auch in eine völlig neue Richtung gehen. Aufgrund des begrenzten Platzes werden meine Überlegungen nicht sehr detailliert sein können und sind daher eher als Denkanstöße zu verstehen. Neben eigenen Erfahrungen bilden Anregungen aus verschiedenen Quellen den Hintergrund dieses Artikels, die ich aus diesem recht begrenzten Anspruch heraus auch nicht in allen Einzelheiten anführen werde.
Zustandserfahrungen aus der Quadrantenperspektive
Als erstes möchte ich gerne auf ein Detailhinweisen, wie sich die Quadranten in den Zuständen ausdrücken. Wilber teilt die Zustände in manifest (grobstofflich), subtil (feinstofflich) und kausal (leer) ein, die wir Menschen in unseren drei Hauptbetätigungen Wachen, Träumen und Tiefschlaf (unbewusst) erleben. Diese Einteilung ist etwas grob. Viele mystische Schulen unterteilen den subtilen Zustand in mehrere Unterbereiche, was auch mit verschiedenen Traumplateaus korreliert, wie sie im EEG nachweisbar sind.[1] Für die Beschreibung der meisten Phänomene reicht jedoch diese Dreiteilung, deren persönliche Anteile man auch als psychische Strukturen ICH[2] (frontales Selbst), Seele (tiefer psychisches Selbst) und Zeuge (ursprüngliches Selbst) benennen kann. Hinzu kommt ein Meta-Zustand, den Wilber den spirituellen Traditionen folgend „nondual“ bzw. *GEIST* nennt und der in der unmittelbaren Einsicht besteht, dass manifest, subtil und kausal genau genommen drei Erscheinungsformen des gleichen Wesens sind. Wir können diese drei Zustände plus den einen Metazustand z. B. wie in Abbildung 1 darstellen.[3]
Das Besondere an dieser Abbildung ist, dass sich die Quadranten von innen nach außen auflösen. Dies möchte ich etwas näher erklären: Wenn ich versuche, bestimmte Dinge in Worte zu fassen und Sie diese Worte lesen, geschieht dies immer im Wachzustand mit Hilfe von modaler (=getrennter) Wahrnehmung, Sprache und Verstand. Das Problem dabei ist, dass immer, wenn ich etwas benenne, ich damit automatisch etwas ausschließe, so dass notwendigerweise immer Dualitäten entstehen. Trennung ist daher ein Charakteristikum im normalen Wachbewusstsein – zumindest auf bestimmten (rationalen) Bewusstseinsebenen.

Abb. 1: Die Bewusstseinszustände in den Quadranten
Prof. W. Belschner hat vor einigen Jahren einmal die Kriterien der Wirklichkeitskonstruktion für den manifesten Wachzustand zusammengefasst:
- Geist-Materie-Trennung
- Ich-Du-TrennungSubjekt-
- Objekt-Trennung
- lineare Zeit
- konsistentes Ich-Gefühl
- Lokalität
Wir können in einigen Punkten unschwer Wilbers Quadranten durchscheinen sehen (Geist-Materie-Trennung, Ich-Du-Trennung), und die lineare Zeit bildet die Voraussetzung für Entwicklung über die Ebenen. Worauf ich Sie aufmerksam machen möchte ist, dass diese KriterienNUR im Zustand des Wachbewusstseins gelten. Jeder, der den subtilen oder kausalen Zustand schon einmal intensiv bewusst erfahren hat – sei es durch kritische Lebensereignisse oder meditative Praxis – wird bezeugen können, dass in diesen Phasen andere Gesetze gelten und damit – zumindest in der unmittelbaren Wahrnehmung – auch die Quadranten transparenter werden (gestrichelt) bzw. sich völlig auflösen, und zwar um so stärker, je mehr wir uns in Richtung kausal bewegen. In diesem Zustand gibt es keine Trennung mehr von Ich und Du, von Geist und Materie; die Zeit bleibt stehen im ewigen Jetzt; das Ich-Gefühl weitet sich in die Unendlichkeit und schließt andere Wesen mit ein und nicht zuletzt verändert sich unsere Erfahrung von Lokalität. GEIST selbst als der Urgrund allen Seins (und deshalb hier vom weißen Blatt Papier verkörpert, auf dem ich schreibe und zeichne), hat natürlich keine Quadranten: GEIST ist GEIST ist GEIST. Und der Zeuge ist nichts anderes als GEIST, der durch Ihre und meine Augen auf sich selbst schaut – genau genommen lohnt es sich also nicht, dafür verschiedene Worte zu benutzen, weil im GEIST alles zusammenfällt: GEIST als das EINE, das das Viele gebiert und umfasst und durchdringt. Die Quadranten sind aus der Sicht des Absoluten also nichts anderes als Strukturierungshilfen, die unser im Wachzustand funktionierender Verstand erschafft und benutzt, weil er das EINE in seiner Gesamtheit und Ungetrenntheit nicht erfassen, durchdenken und kommunizieren kann. Auch die „Drei Gesichter Gottes“ bei Wilber sind dann natürlich nur verschiedene Perspektiven, um das EINE aus unserem normalen Wachbewusstseinszustand heraus wahrzunehmen. Aus einer nichtdualen Perspektive jedoch, wo Form nichts anderes ist als Leerheit, aber Leerheit auch nichts anderes ist als Form, werden die Quadranten (und AQAL) als wertvolle Orientierungshilfen und Grundmuster der Manifestation gewürdigt.
Spirituelle Wege aus der Quadrantenperspektive
Da wir gerade bei den Quadranten sind, möchte ich diese Strukturierungshilfe auch gleich auf die verschiedenen spirituellen Wege anwenden. Damit ist zuerst einmal eine grobe Einteilung möglich:
OL: Spiritualität als innere Erfahrung
OR: Spiritualität als individuelle Praxis
UL: Spiritualität als geteiltes Werteund Glaubenssystem
UR: Spiritualität als rituelles und soziales Handeln
Wenn man sich die verschiedenen Wege unter diesen Kriterien betrachtet, ist eine Zuordnung recht einfach. Natürlich wird äußeres Handeln zu innerer Erfahrung und umgekehrt (und dies sowohl individuell als auch kollektiv), doch gibt es Wege, die den Inhalt und andere, die die Form bevorzugen. Es wird deutlich, dass die meisten Religionen alle Quadranten berücksichtigen, aber doch in einem oder zweien ihren Schwerpunkt haben. Dadurch werden die „Drei Gesichter Gottes“ exemplarisch sichtbar: Beispielsweise betont der Taoismus als naturmystisch geprägte Religion das „Es“, der Buddhismus in der Erkenntnis der eigenen Buddhanatur das „Ich“ und die mosaischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) in der Hinwendung an einen außenstehenden (anthropomorphen) Gott das „Du“. Im hochdifferenzierten indischen Hinduismus finden wir die Quadranten als die Vier Yogas wieder (siehe Abbildung 2).

Abb. 2: Die spirituellen Wege in den Quadranten
Religionen im Spiegel der Bewusstseinsentwicklung
Im Folgenden schauen wir uns die Entwicklung der Religionen über die Ebenen an. Dabei können wir, entsprechend der Erkenntnismöglichkeiten auf den verschiedenen Bewusstseinsebenen, eine deutliche Wandlung des Gottesbildes erkennen.
Archaische Ebene: Traumzeit, Naturgeister, Schamanismus
Der Ursprung von Religion überhaupt dürfte im Mysterium des Todes liegen. Demzufolge bildete sich überall auf der Welt in den Urhorden (archaisch, beige)[4] ein Totenkult zur Verehrung der Ahnen aus. Einnächster Schritt war der Übergang zum Schamanismus in den Stammeskulturen (magisch, purpur). Er ist gekennzeichnet durch eine erste Trennung in Ober- und Unterwelt sowie eine Vielzahl von Naturgeistern, die den irdischen Zwischenbereich bevölkern. In diesen beiden Phasen, die in der Individualentwicklung den Stadien von Baby und Kleinkind entsprechen, fühlen sich die Menschen noch weitgehend als Teil ihrer Umwelt (es gibt also noch keine klare Differenzierung in ICH und Umwelt), sind die Sinne noch nicht getrennt (=amodale Wahrnehmung), ist die Sprache noch nicht konkret und gibt es noch kein abstraktes Denken. Das heißt, dass die manifeste Welt zwar wahrgenommen wird, aber noch nicht wirklich beschreibbar und denkbar ist.
Allerdings sind auch die kognitiven Filter und Verdrängungsschranken, die dem Menschen auf höheren Ebenen der ICH-Entwicklung zur Verfügung stehen, noch nicht vorhanden. Demzufolge haben die Vertreter dieser Stufen auch im Wachzustand noch (relativ) ungehinderten Zugang zu subtilen Bereichen der Realität – nicht von ungefähr spricht man z. B. davon, dass die Aborigines in der „Traumzeit“ leben. Das heißt, die Naturvölker bilden sich Ahnen und Naturgeister nicht ein, sondern nehmen unmittelbar subtile Realitäten wahr, die sie auf ihrer Bewusstseinsebene als Ahnen und Naturgeister interpretieren (und die man auf höheren Ebenen vielleicht als Engel und auf noch höheren eventuell als Bewusstseinsfelder bezeichnen würde). Im Gegensatz zum Erleben der Schizophrenen in unserer Gesellschaft (die ja gleichermaßen durch fragile ICHGrenzen gekennzeichnet sind), sind diese Wahrnehmungen nicht mit Angst besetzt, da es einen kollektiven Erklärungsrahmen dafür gibt, nämlich das schamanische Weltbild.
Von der magischen zur mythischen Unterebene: Das polytheistische Pantheon
Die nächste Ebene der Entwicklung sind die frühen Hochkulturen (magisch-mythisch, rot). Diese sind durch ein polytheistisches Pantheon gekennzeichnet, dem die schamanische Herkunft teilweise noch anzusehen ist. So haben wir sowohl in der ägyptischen als auch in der hinduistischen Mythologie noch Götter in Tiergestalt (z. B. Horus mit Falkenkopf, Seth als hundeähnliches Tier bzw. Hanuman, der Affengott, und Ganesha, der Elefantengott), während sie in der griechischen Antike nur noch Nebenrollen spielen, z. B. als Faun oder Zentaur. Während Ober-, Mittel- und Unterwelt sich im Schamanismus noch weitgehend durchdrangen, liegen die Wohnungen der polytheistischen Machtgötter schon deutlich außerhalb der normalen Welt: Auf dem Olymp, auf dem Grunde von Vulkanen und Meeren etc.
An dieser Stelle möchte ich einflechten, dass Ahnen, Naturgeister und Machtgötter subtile Phänomene sind, was diese Völkern auch berücksichtigten, obwohl es ihnen nicht bewusst war: Sie alle kennen in ihren Schöpfungsmythen auch einen kausalen Urgrund, der noch dahinter liegt und sich jeder Beschreibbarkeit entzieht, sei es nun das „große Geheimnis“ der Indianer, das „Chaos“ der Griechen oder „Brahman“ im Hinduismus. Diesen kausalen Urgrund finden wir natürlich auch im Monotheismus der mythischen Bewusstseinswelle (blau): als „Tao“ im Taoismus, „Dharmakaya“ im Buddhismus, als „Jahwe“ (der unaussprechliche Name) im Alten Testament und als „Allah“, von dem man sich kein Bild machen soll (kann!) im Koran. Mit den Engeln, Heiligen, Bodhisattvas, Dämonen etc. sowie mit der Vermenschlichung Gottes finden jedoch auch subtile Phänomene ihren Ausdruck, und dies auf eine Weise, dass sie von Vertretern verschiedener Bewusstseinsebenen angenommen werden können. Besonders im klassischen Monotheismus der mosaischen Religionen residiert das Göttliche jetzt außerhalb (oberhalb) seiner Schöpfung und von der Unterwelt ist nur noch ein Rest übrig – in Form des Teufels und der Hölle.
Rationale Unterebene: Atheismus und Pantheismus
Spätestens aufder nächst höheren – der rationalen – Bewusstseinsebene (orange) hat sich die Ratio (und damit die kognitiven Filter und Verdrängungsmechanismen) bei den meisten Menschen so weit entwickelt und sind die ICH-Grenzen so stabil geworden, dass sie subtile und kausale Bereiche der Existenz nur noch im Schlaf wahrnehmen können. Auf dieser Ebene haben sich zwei wesentliche religiöse Strömungen herausgebildet. Da sind zum einen die Atheisten, die aufgrund der gerade beschriebenen Wahrnehmungseinschränkung alles Spirituelle negieren und davon ausgehen, dass dieses Universum zufällig aus sich selbst entstanden ist, sich zufällig bis zum heutigen Stand entwickelt hat und dass Bewusstsein nur ein zufälliges „Anhängsel“ der Materie ist (diese Zufallsannahme wird von den Vertretern des anthropischen Prinzips inzwischen etwas aufgeweicht: eine solche Menge von Zufällen ist statistisch einfach nicht erklärbar). Da die Existenz eines Bewusstseins hinter allen Dingen auch nach ihren eigenen Regeln weder beweisbar noch widerlegbar ist, ist die Negierung eines göttlichen Prinzips allerdings nur eine Behauptung. Damit sind auch die Materialisten letztendlich nichts anderes, als das, was sie kritisieren: eine Glaubensgemeinschaft.
Die andere große Richtung ist der Pantheismus, der sich schon in der griechischen Philosophie andeutete und im Zuge der Aufklärung auch in Nordeuropa verstärkt diskutiert wurde. Er geht davon aus, dass Gott die sichtbare Natur IST, dass also der Materie selbst etwas Transzendentes immanent ist. Diese Ansicht wurde in der europäischen Aufklärung verstärkt von Menschen diskutiert, die die christlichen Vorstellungen nicht mit dem neuen Weltbild vereinbaren konnten, die aber ahnten, dass es trotzdem so etwas wie einen transzendenten Urgrund geben müsse. Diese Ansicht wird heute in Deutschland in einigen freireligiösen Gemeinden vertreten, hat aber eine wesentlich aktivere Anhängerschaft in den USA, z.B. bei den Unitariern. Aufgrund der individualistischen Tendenz der rationalen Ebene ist allerdings davon auszugehen, dass es auch jenseits der organisierten Religionen deutlich mehr Menschen gibt, die man ihrem Weltbild nach als Pantheisten bezeichnen müsste, als gemeinhin angenommen wird.

Abb. 3: Entwicklung der Gottesvorstellungen über die Ebenen
Pluralistische Unterebene: Patchwork-Spiritualität und spirituelle Emanzipation
Seit Ende der 1960-er Jahre hat sich die New-Age-Bewegung entwickelt. Ein wichtiger Impuls dafür dürften die den Verstand sprengenden Drogenerfahrungen der 1968-er-Generation gewesen sein. Aus diesen Erfahrungen resultierte die unmittelbare Einsicht, dass es a) etwas Transzendentes gibt, welches b) aber doch deutlich anders ist als das Gottesbild der Bibel. Weil für diese Erfahrungen weder Materialismus noch traditionelles Christentum Erklärungsmodelle liefern konnten, sammelte diese Generation Techniken und Theorien aus allen Kulturen der Welt, mit denen sich jeder seine eigene Weltsicht entwarf. Diese friedliche Koexistenz verschiedener religiöser Versatzstücke ist der kongeniale Ausdruck der Spiritualität auf der pluralistischen Bewusstseinsebene (grün), weshalb ich sie in Anlehnung an den Begriff „Patchwork-Familie“ gerne Patchwork-Spiritualität nenne. Die große Leistung dieser Generation war es, dass sie sich von der Übernahme religiöser Dogmen befreite und dass die unmittelbare spirituelle Erfahrung, die bis dahin meist wenigen Menschen in Klöstern vorbehalten war, ein Massenphänomen wurde.
Das Ich im Spiegel der spirituellen Evolution
Man könnte die gesamte Entwicklung bis hierher auch folgendermaßen zusammenfassen: Auf frühen sozialen Entwicklungsstufen ist die Psyche des Menschen kaum abgegrenzt von einem umfassenderen (subtilen) Bewusstseinsfeld, weil sich eine individuelle psychische Struktur noch nicht entwickelt hat. Vertreter dieser Ebenen haben demzufolge eine prärationale und präpersonale Spiritualität. Durch die Ausbildung der Ratio kommt es in der weiteren Entwicklung zu einer zunehmenden Individuation mit stabiler werdenden ICH-Grenzen bis hin zum reifen Ego auf der rationalen Ebene. Diese Grenzen sind gleichzeitig die Ursache dafür, dass außerhalb liegende Bewusstseinsbereiche nicht mehr direkt erfahren werden können. Die Erfahrung Einzelner, dass es diese Bewusstseinsbereiche gibt, führt zur Stiftung ebenentypischer Formen der Religion. Die Vielfalt der gangbaren spirituellen Wege ab der pluralistischen Ebene eröffnet zwei Möglichkeiten: die Regression in eine prärationale Spiritualität durch ICH-Auflösung (=Prä-Trans-Verwechslung) oder die ICH-Transzendenz. Bei letzterer beginnt ein Mensch, sich mit einem Bewusstseinsraum zu identifizieren, der über seine ICHGrenzen hinausgeht, in dem das ICH aber als funktionale Einheit erhalten bleibt. Diese Art der unmittelbaren Weltwahrnehmung kann man als transrationale, transpersonale Spiritualität bezeichnen.
Panentheismus – ein evolutionäres Verständnis von Spiritualität
Wie geht es nun weiter? Wilber postuliert nach der Patchwork-Spiritualität eine neue Ebene, die er evolutionären Panentheismus nennt. Während im New Age oft wissenschaftliche Erkenntnisse negiert und durch „uralte Weisheiten“ ersetzt werden (und es dadurch zu einem prärationalen Aberglauben degeneriert), versucht Wilber, die Denktraditionen des Westens und die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie mit den meditativen phänomenologischen Erfahrungswegen des Ostens zu verbinden. Mit dem Wort „evolutionär“ will er darauf hinweisen, dass sich auch Spiritualität in einem ständigen Entwicklungsprozess über qualitative Ebenen befindet – auch wenn das Absolute davon nicht berührt wird. Natürlich haben sich auch die klassischen Religionen entwickelt – aber nicht, weil es Teil ihres Konzeptes war, sondern eher gegen ihren Willen.

Abb. 4: Individuation und ICH-Transzendenz[5]
Und während der westliche Pantheismus sich auf das sichtbare Universum als transzendente Entität beschränkt, inkludiert der PanENtheismus bei Ken Wilber die durch Meditation gewonnene Erfahrung, dass nicht die Natur allein in ihrem wahren Wesen transzendent ist, sondern dass sie in einen kausalen Urgrund eingebettet ist – dass, was Wilber als „GEIST“ bezeichnet. In Parallelität zur buddhistischen Ansicht, die manifeste und subtile Erscheinungen als flüchtige Wellen auf dem Ozean des GEISTes betrachtet, könnte man unsere materielle Welt auch als „grafische Benutzeroberfläche“ des GEISTes bezeichnen. Wilber nennt GEIST manchmal auch „Bewusstsein an sich“ und charakterisiert es nach Hegel als leer, eigenschaftslos und jenseits jeder Beschreibung, aber unmittelbar erfahrbar. Dies hat deutliche Parallelen zu den mystischen Erfahrungen des kausalen Urgrundes auf allen Bewusstseinsebenen, wie ich sie oben benannt habe.
Wenn es nur EIN Bewusstsein gibt, das sich seiner selbst bewusst wird, ist es natürlich auch nur folgerichtig, dass dieses Erwachen keine individuelle Angelegenheit sein kann – insofern bekommt das Bodhisattva-Gelübde eine viel umfassendere Bedeutung: GEIST gelobt, nicht eher zu ruhen, als bis er in seiner Gesamtheit in der nondualen Erleuchtung angekommen ist. Wie das genau geschehen wird und ob noch etwas dahinter liegt, können wir von hier aus nicht wirklich beurteilen: Da GEIST uns auch in der Vergangenheit immer wieder mit seinen kreativen Sprüngen überrascht hat, wird dies wohl auch für die Zukunft gelten.
[1] Varela, Francisco: Traum, Schlaf und Tod (1998). München: Diederichs
[2] Mit „ICH“ in dieser Schreibweise ist nicht das Personalpronomen gemeint, sondern eine psychische Struktur, die alle Bereiche des Bewusstseins umfasst, die sich im wachbewussten Zustand äußern.
[3] Die Anregung zu dieser Darstellung verdanke ich Johann Munzer. Siehe hierzu auch die Darstellung 6.1 auf S. 165 des Buches Integrale Lebenspraxis.
[4] Die Farbangaben in Klammern beziehen sich auf Spiral Dynamics.
[5] Die Grafik betont eine Tendenz. Natürlich hatten auch die Menschen auf der archaischen und magischen Entwicklungsstufe eine Orientierung im grobstofflich manifesten Bereich, sonst hätten sie nicht überleben können und wir wären heute nicht hier, aber sie lebten mehr im Subtilen, und natürlich hat auch eine Rationalität Zugang zum Subtilen, auch wenn die Orientierung tendenziell im Grobstofflichen ist.
Wulf Mirko Weinreich, Jg. 1959, Dipl.-Psych., gründete 1985 ein Meditationszentrum in der DDR, studierte auch Ethnologie, Sinologie und Religionswissenschaft, lebte sieben Jahre in spirituellen Zentren, schrieb zwei Bücher (Integrale Psychotherapie 2005, Das andere Totenbuch 2009), arbeitet in eigener therapeutischer Praxis in Leipzig.
Praxis: http://www.psychotherapie-in-leipzig.de/“>www.psychotherapie-in-leipzig.de
Theorie: www.integrale-psychotherapie.de
(aus: IP 19)