von Ken Wilber, eingeleitet von Michael Habecker
Eines der Anliegen dieser Ausgabe der integralen perspektiven besteht darin, die Ich-Sprache zu rehabilitieren, die im Verlaufe einer materialistisch ausgerichteten und nur auf die Außenseite des Lebens konzentrierten Betrachtungsweise gegenüber der Es-Sprache in eine Position der Unterlegenheit geraten ist. Es-Sprache hat etwas von Objektivität und Wissenschaftlichkeit, von Ernsthaftigkeit und Seriosität, wohingegen Ich-Berichte (aus einem subjektiven Erfahrungsraum) oder Wir-Erzählungen (aus einem intersubjektiven Erfahrungsraum) immer noch als „bloß subjektiv“, „reine Fantasie“ oder „unwissenschaftlich“ gelten. Sie finden häufig wenig Anerkennung in einem überobjektivierten Diskurs.
Dies hat dazu geführt, dass Innerlichkeit gegenüber Äußerlichkeit abgewertet wird, verbunden mit einer gleichzeitigen Abwertung der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften. Das Ergebnis ist Geist-losigkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Geistlosigkeit verhindert es bis heute, dass der Erkenntnisschatz der kontemplativen und spirituellen Traditionen den Rang erhält, der ihm gebührt, sowohl als große Literatur wie auch als ernsthafte und nachprüfbare geisteswissenschaftliche und phänomenologische Untersuchungen über die Tiefen und Höhen des menschlichen Bewusstseins.
Ein besonders beeindruckender Aspekt von Ken Wilbers Arbeit sind die Beschreibungen und Landkarten der Innerlichkeit und des Geistes, die er zusammenstellt. Dabei kann er auch auf Erfahrungen aus seiner eigenen jahrzehntelangen meditativen Praxis zurückgreifen. In der nachfolgenden Passage aus dem Buch Einfach DAS (S. 341) erläutert Wilber die Phänomenologie der Unmittelbarkeit eines jeden Momentes, mit der Möglichkeit zum Erwachen zu dem, was IST – in jedem Augenblick unseres Lebens, also auch JETZT.
Die meisten Menschen begehen auf dem Weg zum Einen Geschmack zwei Fehler. Der erste geschieht beim Kontakt mit dem Zeugen, der zweite beim Übergang vom Zeugen zum Einen Geschmack selbst. Der erste Fehler: Beim Versuch, Verbindung mit dem Zeugen aufzunehmen, glauben viele Menschen, dass sie etwas sehen werden. Aber man sieht gar nichts: Man ruht einfach als der Zeuge von allem, was zum Vorschien kommt: Man ist der reine und leere Seher, nicht etwas, das man sehen könnte. Es wäre falsch, den Seher als besonderes Licht, als große Wonne, als plötzliche Vision sehen zu wollen: Dies sind alles Objekte; sie sind nicht der Zeuge, der man selbst ist … Der erste Fehler besteht also darin, dass man den Zeugen sabotiert, indem man versucht, ihn zu einem Objekt zu machen, das man ergreifen kann, während er einfach der Seher aller aufgehenden Objekte ist und nur als eine große Hintergrundempfindung der Freiheit von allen Objekten „gefühlt“ werden kann …
Wenn man einmal gelernt hat, als der leere Zeuge zu ruhen und die Anspannung der Selbstzusammenziehung gewahrt, dann glaubt man vielleicht, dass der letzte Schritt vom Zeugen zum Einen Geschmack dadurch gelingt, dass man sich von der Selbstzusammenziehung (vom Ich) befreit. Genau dies ist aber der zweite Fehler, weil dadurch die Selbstzusammenziehung gerade zementiert wird. Man glaubt, dass die Selbstzusammenziehung den GEIST verhindert oder behindert, während sie in Wirklichkeit wie jede andere Form im Universum einfach eine strahlende Manifestationdes GEISTES ist. Alle Formen sind nichts anderes als Leerheit, auch die Form des Ich. Außerdem ist das Einzige, was sich vom Ich befreien möchte, das Ich selbst. Der GEIST liebt alles in Erscheinung Tretende genau so, wie es ist …
Ruhe also als der Zeuge und fühle die Selbstzusammenziehung, wie du den Stuhl unter dir, die Erde und die am Himmel dahingehenden Wolken fühlen kannst … In diesem schlichten, einfachen, anstrengungslosen Zustand – in dem du nicht versuchst, die Selbstzusammenziehung abzuschütteln, sondern sie einfach fühlst, und in dem du daher als der große Zeuge oder die Leerheit ruhst, die du bist – könnte der Eine Geschmack aufblitzen.
Das Einzige, was man tun kann, ist, die beiden genannten Fehler zu vermeiden: Versuche nicht, den Zeugen als Objekt zu sehen, sondern ruhe einfach im Zeugen als der Seher; versuche nicht, das Ich abzuschütteln, sondern fühle es einfach. Dann gelangst du zum Rand, zur Klippe deines eigenen ursprünglichen Antlitzes. An diesem Punkt liegt nichts mehr in deinen Händen. Ruhe als der Zeuge, fühle die Selbstzusammenziehung: Dies ist der Raum, in dem der Eine Geschmack am leichtesten aufblitzen kann.