Hanna Hündorf
In meiner Lehrtätigkeit seit 1997 treffe ich oft auf Menschen, die sehr verunsichert sind, was die Rolle des Lehrers oder Gurus betrifft. Dies liegt einerseits daran, dass die vielen verschiedenen Ebenen der traditionellen Lehrer-Schüler Beziehung uns westlichen Schülern nicht ausreichend bekannt sind und deshalb nicht klar unterschieden werden. Außerdem sind die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen in der heutigen Zeit komplexer geworden, so dass wir für ein umfassendes, integrales Wachstum zusätzlich zum spirituellen Lehrer verschiedene Berater, Therapeuten und Coaches heranziehen müssen.
Nun ist es im integralen Kontext wichtig, die traditionellen Rollen sorgfältig zu untersuchen: Welche davon müssen zurückgelassen (transzendiert), welche bewahrt (eingeschlossen oder inkludiert) werden? Nur wenn dieser Schritt für die blaue/bernsteinfarbene Ebene (in der die meisten religiösen Traditionen kulturell verankert sind) gründlich vollzogen ist, können wir meiner Ansicht nach sehen, wie die gesunde Weiterentwicklung für die orange Ebene und darüber hinaus auszusehen hat. Hierfür möchte ich auf das hervorragende Buch von Alexander Berzin „Zwischen Freiheit und Unterwerfung. Chancen und Gefahren spiritueller Lehrer-Schüler-Beziehungen“ hinweisen, das es auch bei www.berzinarchives.com als kostenloses e-Book gibt.
Wozu braucht man einen spirituellen Lehrer?
Die vertikale Entwicklung der spirituellen Linie wird durch Zustandserfahrungen beschleunigt, welche durch regelmäßige Meditation stabilisiert werden. Die Methoden oder Injunktionen für die Meditationspraxis und begleitende Verhaltensrichtlinien für die Zeiten zwischen den eigentlichen Sitzungen werden in Übertragungslinien verwirklichter Meister weitergegeben. Dies betrifft sowohl die Worte als auch die lebendige Erfahrung, deshalb reicht es auch nicht, aus Büchern zu lernen. Jede Generation von Lehrern gibt das Wissen und die Erfahrung in ihren eigenen Worten und mit ihrer ganzen Energie, Körpersprache und ihrem Vorbild weiter, auf eine Weise, die für die Zeit und die jeweiligen Schüler angemessen ist.
Man sollte am Anfang nicht versuchen, bedingungsloses Vertrauen darzubringen,– dies kann sich nur langsam beiderseits entwickeln.
Für den unverfälschten Fortbestand einer Übertragungslinie muss mindestens ein Schüler auch Verwirklichung erlangen. In der tibetischen Tradition wird dieser vom Lehrer als Linienhalter eingesetzt. Auch ein verwirklichter Lehrer verweist immer in Demut und Dankbarkeit auf den eigenen Lehrer – eine Gewohnheit, die für mich zu den „zu bewahrenden“ Eigenschaften eines Lehrers zählt und die ich bei manchen selbsternannten Gurus schmerzlich vermisse.
Wie finde ich den richtigen Lehrer oder die richtige Lehrerin?
Das Wichtigste ist hier, dass beide eine gemeinsame Sprache sprechen: Der Schüler muss sich in seiner Gesamtheit angenommen und verstanden fühlen, um sich zu öffnen, und der Lehrer muss die passenden Worte finden, die dem Schüler helfen, die eigene Verbindung zum GEIST herzustellen.
Man sollte am Anfang nicht erwarten oder versuchen, bedingungsloses Vertrauen darzubringen – dies kann sich nur langsam entwickeln, indem die beiden sich kennen lernen, der Schüler die Methoden und Vorschläge umsetzt und regelmäßig Rücksprache hält. Wenn es hilft und der Schüler sich weiterentwickelt, vertieft sich das Vertrauen. Wenn nicht – ist es entweder nicht der passende Lehrer oder der Schüler hat sich nicht wirklich auf das Experiment eingelassen.
Häufig wird das Glücksgefühl, das sich manchmal einstellt, wenn man einen Lehrer erstmalig trifft, mit Hingabe verwechselt. Es ist aber so vergänglich wie verliebt zu sein. Der Segen eines verwirklichten Meisters kann eine starke Zustandserfahrung auslösen, die jedoch durch den Aufbau einer gesunden Lehrer-Schüler-Beziehung gefestigt werden muss, um eine langfristige positive Wirkung zu haben.
Wie wandelt sich die Beziehung im Laufe des Weges?
Auf der grundlegenden Ebene des Buddhismus (Hinayana) zu Beginn des Weges ist der Lehrer eine Autoritätsperson, die über dem Schüler steht. Wir nehmen „Zuflucht“ zu diesem Lehrer, indem wir uns demütig öffnen, bereit sind, Neues zu lernen und unsere negativen Gewohnheitsmuster durch positive zu ersetzen. Die Praxis in dieserPhase beinhaltet die Zähmung des Geistes durch Meditation und die Ausrichtung der Handlungen nach klaren ethischen Richtlinien. Dies entspricht der Entwicklung von der roten Ebene nach Blau/Bernstein. Diese Entwicklung eines „gesunden Blau“ muss häufig nachgeholt werden, wenn der Übergang von Grün nach Gelb/Petrol ansteht. Aber man darf hier nicht stecken bleiben – ein authentischer Lehrer wird in seinen Schülern Selbstverantwortung und Reife fördern und keine Abhängigkeit zulassen. Ein Schüler, der den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung verspürt, ist möglicherweise nicht ungehorsam, sondern entwickelt sich weiter. Wenn der Lehrer dies nicht begrüßt und unterstützt, könnte es Zeit sein, sich nach einem neuen Lehrer umzusehen.
Auf der nächsten Ebene des Mahayana hat bereits ein Reifungsprozess stattgefunden. Wir haben unseren eigenen Geist und unser Leben in den Griff bekommen und die ethischen Regeln des Dharma weitgehend verinnerlicht. An diesem Punkt wird die Beziehung zum Lehrer inniger – er oder sie wird zum spirituellen Freund, die Beziehung wird zunehmend auf beiden Seiten von Vertrauen geprägt, Hingabe wird nicht mehr aus Angst, sondern aus Liebe gespeist. Diese Art der Beziehung erfordert große Ehrlichkeit, Offenheit und Verbindlichkeit von Seiten des Schülers und tiefes Verständnis, stabile spirituelle Verwirklichung, Geduld und Mitgefühl von Seiten des Lehrers. Wir gehorchen den Regeln nicht mehr aus Pflicht und Gehorsam, sondern entscheiden uns aus freien Stücken, den Weg zur Befreiung zu gehen und konstruktiv zu handeln. Der Weg des Buddhismus wird hier zur „Wissenschaft des Geistes“, es erfolgt eine gesunde Entwicklung von Blau nach Orange. Tatsächlich ist die Motivation und Sichtweise des Mahayana kosmozentrisch und damit Grün oder höher.
Erst auf der höchsten Stufe im Vajrayana – mit Einweihungen, Mantra und Visualisierung – kommt das Konzept des Gurus ins Spiel. Hier geht die Beziehung noch tiefer: Der Lehrer wird als Buddha gesehen, wodurch die Begegnung mit dem eigenen Buddha-Geist (in der zweiten Person) ermöglicht wird. Diese Selbstaufgabe (surrender) ist unabdingbar für die Ausübung des Vajrayana, bei der man sich selbst als eine erleuchtete Buddha-Gestalt (Yidam) visualisiert und mit sehr kraftvollen Energien arbeitet. Wer diesen Schritt der Selbstaufgabe (also der Des-Identifikation mit dem begrenzten Ego mit Hilfe der Liebe) nicht zuerst vollzogen hat, kann bei der Ausübung dieser Methoden leicht in Schwierigkeiten geraten oder gar in eine Psychose abgleiten.
Erst auf der höchsten Stufe im Vajrayana – kommt das Konzept des Gurus ins Spiel.
Entwicklungsstufe Schüler[1]: rot egozentrisch | |
Schülerintention | „Ich will Erleuchtung, Macht, und ich will frei von Leiden sein.“ |
Lehrerhaltung | Gütige und diszipliniernde Autoritätsperson (möglicherweise Vater- oder Mutterfigur), die Schutz und Stabilität gewährt, Regeln und Ordnung lehrt und Gehorsam fordert. |
Schüler-Lehrer- Beziehung | Autoritätsperson/ Bewunderung und Unterwerfung/Rebellion. Lehrer als „Elternteil“, stark, geduldig, gerecht und verlässlich. |
Chancen | gesunde „Sozialisierung“, Regeln und Ordnung als Vorbild für höhere Ordnung, Überwindung der Egozentrik |
Risiken | Zu frühe Transzendenzerfahrung und zu viel Freiheit (ohne Regeln) kann zur Verstärkung von Narzissmus führen. |
Entwicklungsstufe Schüler: blau/bernstein soziozentrisch/ traditionell/absolutistisch | |
Schülerintention | „Ich suche Erleuchtung: Dies bedeutet die absolute und ewige Wahrheit zu finden und eins mit ihr zu werden.“ |
Lehrerhaltung | Gütige Autorität: Den Schüler in seiner Soziozentrik abholen und zur nächsten Entwicklungsstufe führen. Kritisch-reflektives Denken üben. Transzendenzerfahrungen ermöglichen. |
Schüler-Lehrer- Beziehung | Autoritätsperson/ Gehorsam. Lehrer als Führer und Wegweiser aus der Autoritätsgläubigkeit hinaus. Lehrer macht sich als unhinterfragte Autorität überflüssig. |
Chancen | Transzendenz, Überwindung von Soziozentrik und Absolutismus. Entwicklung von Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. |
Risiken | Steckenbleiben in einem religiös/spirituellen Absolutismus. Weitergabe „schlechter“ und unreflektierter Traditionen. |
Entwicklungsstufe Schüler: orange aufgeklärt/ wissenschaftlich | |
Schülerintention | „Ich bin ein aufgeklärter Mensch und möchte das Absolute erforschen, in meinem Geist und in der Außenwelt. Erleuchtung ist die Entmystifizierung des Absoluten.“ |
Lehrerhaltung | Den Schüler in die Erfahrung führen, Spiritualität als geisteswissenschaftliche Praxis und Untersuchung. Große Offenheit, Kritikfähigkeit, Bereitschaft, Regeln zu hinterfragen und den individuellen Bedürfnissen des Schülers anzupassen. |
Schüler-Lehrer- Beziehung | Verwirklichter/Neugier und Wissensdurst. Lehrer als jemand, der aus Erfahrung spricht und in die Erfahrung führt. Humor wird wichtig! Heranführen an die paradoxe Qualität der Wahrheit. |
Chancen | Die Integration von Wissenschaft und Spiritualität, Transzendenzerfahrung durch spirituelle Praxis. Weltzentrische Bewusstheit, freiwillige Übernahme von Verantwortung für Alle |
Risiken | Spiritueller Materialismus, Funktionalismus, Systemismus. Skepsis allem gegenüber, das nicht rational erfassbar ist – dadurch geistige und emotionale Verarmung. |
Entwicklungsstufe Schüler: grün postmodern/ pluralistisch/relativistisch | |
Schülerintention | „Ich verstehe mich als eins mit der Welt und möchte das permanent fühlen. Ich möchte erleuchtet werden, um mühelos allen Lebewesen helfen zu können.“ |
Lehrerhaltung | Balance von Autorität und gleicher Augenhöhe: Gleichmut lehren – dem Schüler helfen, die großen Zusammenhänge zu erkennen und ertragen zu können, unmögliche Aufgaben anzunehmen. Der Lehrer ist bereit, vom Schüler zu lernen, Schwäche zu zeigen, demütig und bescheiden zu sein. |
Schüler-Lehrer- Beziehung | Spiritueller Freund/ Bodhisattva – streben nach Vollkommenheit. Innige Beziehung, bei gleichzeitig notwendiger Distanzwahrung durch den Lehrer. Humor und Leichtigkeit werden noch wichtiger! |
Chancen | Inneres und Äußeres zusammenbringen, ebenso wie horizontale Pluralität und vertikale Entwicklung, Realismus und Idealismus. Weltzentrische multikulturelle Bewusstheit. |
Risiken | „Anything goes“- Spiritualität, Rückfall in Egoismus und Narzissmus oder Helfersyndrom und Burn-out. |
Entwicklungsstufe Schüler: gelb/petrol integrierend | |
Schülerintention | „Ich verstehe erstmals geistige Evolution und die grenzenlosen Möglichkeiten aller Wesen – ich nehme die Verantwortung, die dieses Verständnis bringt, freudig an. Was Erleuchtung bedeutet, wird im Laufe der Evolution neu definiert und erweitert.“ |
Lehrerhaltung | Lehrer und Schüler arbeiten zusammen, wobei beide die eigenen Schwächen und die des anderen klar erkennen und sich gegenseitig respektieren und unterstützen. Der spirituelle Weg ist ein spannendes Experiment mit erprobten Methoden und neu erscheinenden Erkenntnissen. |
Schüler-Lehrer- Beziehung | Bodhisattva/Bodhisattva. Leichtherziger, neugieriger und offener Austausch. Schattenaspekte bei Lehrer und Schüler lösen keine Angst mehr aus und können integriert werden. Probleme dienen als Herausforderung und werden furchtlos und ehrlich angegangen. |
Chancen | Eine reife Kombination aus Demut und gesundem Selbstbewusstsein. Es gibt keine Grenze des eigenen spirituellen Wachstums, und es gibt auch nichts, das unmöglich ist. |
Risiken | Arroganz, Selbstüberschätzung, die eigenen Schatten nicht wahrnehmen können. |
Was kann schiefgehen?
Was aber ganz klar verstanden werden muss: Dies ist eine Anleitung für Meditation – also nur gültig für den oberen linken Quadranten! Wenn es gelingt, die eigenen Fixierungen beiseite zu lassen und stattdessen mit dem erleuchteten Geist des Guru zu verschmelzen, ist die daraus entstehende innere Erfahrung unvergleichlich. Wenn man diese Anweisungen aber auf den rechten oberen Quadranten anwendet, also alle praktischen Lebensentscheidungen im blinden Gehorsam einem Guru überlässt, bleibt man in Unreife und Abhängigkeit gefangen und lebensuntüchtig. Auch können die Ratschläge eines innerlich hoch entwickelten Lehrers auf der praktischen Ebene schlichtweg falsch sein.
Genauso wenig löst bedingungslose Hingabe all unsere Probleme in den unteren Quadranten – weder die zwischenmenschlichen noch die systemischen. Dies wird aber häufig erwartet und entsprechend gelebt, mit katastrophalen Folgen, sowohl für den einzelnen Praktizierenden und seine Angehörigen als auch für den Ruf der Spiritualität in der Gesellschaft.
Wenn der Guru sich außerdem nicht auf dieser hohen Ebene der Selbstlosigkeit befindet, sondern Gehorsam der Stufe 1 einfordert oder gar völlig eigennützige (häufig unbewusste oder nicht eingestandene) sexuelle oder Machtinteressen verfolgt, sind immer wieder Verletzung, Skandal und große Hindernisse auf dem spirituellen Weg die Folge. Im tibetischen Buddhismus und bei hinduistischen Lehrern kommt als weitere Komplikation hinzu, dass sexueller Missbrauch unter dem Deckmantel „geheimer tantrischer Verbindung“ gehandelt wird. Hierzu ein kleiner Rat meines Lehrers Akong Rinpoche (der selbst verheiratet ist und seinen Schülerinnen ausschließlich Respekt und väterliche Fürsorge entgegenbringt): „Falls ihr überlegt, auf ein tantrisch-sexuelles Angebot einzugehen, serviert dem angeblich verwirklichten Meister ein 5-Gänge-Menü und als Nachtisch Exkremente in einer Dessertschale. Wenn er diese mit Genuss verspeist, als wäre es Mousse au Chocolat, dann könnt ihr mit ihm ins Bett gehen!“
[1] die Farbbezeichnungen der Entwicklungsstufen entstammen dem Modell Spiral Dynmics (vor dem Schrägstrich) bzw. dem Modell der Spektralfarben (nach dem Schrägstrich).
Hanna Hündorf kam kurz nach dem Abitur auf der Suche nach einer alternativen Lebensgemeinschaft in das tibetisch-buddhistische Kloster und Seminarzentrum Samye Ling in Schottland, wo sie insgesamt 18 Jahre bleiben sollte. Hier hat sie den traditionellen Weg sehr konsequent gelebt und erforscht und so einen tiefen Einblick in dessen Möglichkeiten und Hindernisse erhalten. Nach einem traditionellen Dreijahresretreat war sie fünf Jahre im buddhistischen Zentrum in Hamburg als Lehrerin, Ansprechpartnerin und Übersetzerin (aus dem Englischen) für den tibetischen Lama tätig. Danach hatte sie die kostbare Gelegenheit, ihre Erfahrungen in einem zweiten Dreijahresretreat zu vertiefen. Seit 2006 wohnt sie in Kiel, um sich um ihre Mutter zu kümmern. 1997 begann sie, die Bücher von Ken Wilber zu lesen und seit 2009 ist sie aktiv im Integralen Forum und leitet den Kieler Salon.
(aus: IP 21 – 03/2012)