Gottesbilder im Wandel der Bewusstseinsentwicklung

Religion / Spiritualiät

Gottesbilder im Wandel der Bewusstseinsentwicklung

Tilmann Haberer

Die etablierten Kirchen – das ist eine Binsenweisheit – sind zu­mindest in Europa für spiritu­ell suchende Menschen nicht mehr interessant. „Ich bin spirituell, aber nicht religiös“, der Satz bringt diese Einstellung auf den Punkt. Und wer ist schuld daran?

Der Indivi­dualismus und der Pluralismus! So hört man es gebetsmühlenartig aus dem Va­tikan. Und es stimmt ja auch, so falsch ist diese Auskunft nicht. Wer Spiral Dynamics und den von Don Beck und Christopher Cowan entwickelten Farb­code kennt, kann die Aussage mühelos so verstehen: Die blaue Kirche wird vom orangen Individualismus und vom grünen Pluralismus bedroht. Ge­rade die katholische Kirche ist wesent­lich vom blauen Mem geprägt. Sie ist stark traditionsgeleitet und streng hie­rarchisch aufgebaut, sie vertritt einen radikalen Absolutheitsanspruch, ihre Lehre besteht aus unfehlbaren und un­abänderlichen Dogmen, ihre Riten sind genau festgelegt, das gesamte kirchliche Leben durch Gesetze und Ordnungen geregelt. Und gerade unter dem gegen­wärtigen Papst scheint sich die römi­sche Kirche wieder tiefer in die blaue Wagenburg zurückzuziehen.

Doch auch der evangelischen Kirche laufen die Leute davon, obwohl sie sich in weiten Teilen nicht so vehement gegen moderne und postmoderne Strömungen abschottet. Dieses Phä­nomen ist nicht leicht zu verstehen, doch auch hier kann die Vorstellung von einer stufenweisen Entwicklung des Bewusstseins einiges erklären. Die Reformation ist selbst ein Ergeb­nis des frühen orangen Mems – oder umgekehrt: Martin Luther hat mit sei­nem Handeln und seiner Lehre dem orangen Mem in Deutschland und Europa zum Durchbruch verholfen. Er übersetzte die Bibel ins Deutsche, und damit sie auch alle lesen konnten, för­derte er Bildung und Schulwesen. Ge­genüber der allmächtigen kirchlichen Institution mit ihrem Absolutheitsan­spruch betonte er die Gewissensfrei­heit des Einzelnen – das sind klassisch orange Motive.

Wie die moderne Welt­sicht den traditionellen Gott dekonstruiert

Allerdings ist in den real existierenden evangelischen Kir­chen von diesem orangen Impuls oft wenig zu spüren; die Formen des Gottes­dienstes und das, was allsonntäglich von den Kanzeln ver­kündet wird, sind großenteils tief blau. Zwei Gründe sehe ich für dieses merk­würdige Phänomen. Zum einen hat der Wechsel von Blau nach Orange tief-greifende Auswirkungen auf das Got­tesbild. Wer intensiv mit den Mitteln der linearen Vernunft nach Gott fragt, wird früher oder später den theistischen Gott über Bord werfen – die Vorstellung also, dass es einen personalen, trans­zendenten Gott gibt, der die Welt ge­schaffen hat und lenkend in diese Welt eingreift. Wer etwa mit den Mitteln der Ratio nach dem Sinn des Leidens forscht, wer sich fragt, warum Gott das Gebet des einen anscheinend erhört, das des anderen aber nicht (sprich: nur die Wünsche dieses einen gehen in Er­füllung, nicht aber die das anderen), der wird zu dem Schluss kommen, dass Gott entweder krass parteiisch und un­gerecht ist, oder das Konzept des theis­tischen – man kann auch sagen: des my­thischen – Gottes verwerfen.

„Gott ist tot“, der Kampfruf Nietz­sches, ist eine konsequente Folge der orangen, rationalistischen Aufklä­rung. Gemeint ist damit der mythi­sche, theistische – also der blaue – Gott. Nun gibt es natürlich auch Gottesvorstellungen, die den Theismus hinter sich lassen, doch es bleibt ein großes Unbehagen: Den theistischen Gott zu verabschieden, dürfte sich für die meisten Christen so anfühlen, als würden sie Gott ganz verlieren.

Den theistischen Gott zu verabschieden, dürfte sich für die meisten Christen so anfühlen, als würden sie Gott ganz verlieren.

Zu sehr ist ihr Gottesbild durch die Bibel geprägt, die in ihrem Kern dem blauen Bewusstsein entspringt und viele rote und purpurne Inhalte integriert hat. So schrecken viele moderne Christen instinktiv davor zurück, sich auf oran­ge, grüne, gelbe Gottesbilder einzu­lassen, obwohl sie gleichzeitig spüren, dass das blaue Bild nicht mehr trägt.

Backlash – wenn moderne Ideen keine adäquate Organisationsform finden

Den anderen Grund sehe ich (grob vereinfachend) darin, dass sich Oran­ge als „Ich-Stufe“[1] schwer tut, eigene Gemeinschaftsformen hervorzubrin­gen. Orange Inhalte müssen nach „un­ten“ (Blau) oder nach „oben“ (Grün) ausweichen und die dort entwickel­ten Gemeinschaftsformen nutzen. Zu Zeiten Martin Luthers war Grün im Sinne von tragfähigen pluralistischen Lebensmodellen noch nicht emergiert, also musste er seine neu entstehende Gemeinschaft nach blauem Muster organisieren. Auch wenn er der The­orie nach der einzelnen Gemeinde, ja dem einzelnen Gemeindemitglied die Vollmacht zuschrieb, die Bibel selbst­ständig auszulegen und Fragen der Lehre gemäß dem eigenen Gewissen zu entscheiden (ein klar oranger An­spruch), organisierte er die neu entste­hende evangelische Kirche faktisch hierarchisch; oberster Kirchenregent war der Landesfürst.

Das Dilemma der protestantischen Theologie: Die historisch-kritische Lesart der Bibel führt in letzter Konsequenz zum Abschied von einem theistisch gedachten Gott.

Das hatte auch theo­logische Folgen: Hundert Jahre nach Luther formulierten die Theologen der „Altprotestantischen Orthodoxie“ ein Lehrgebäude, das ebenso autoritär und normativ, also blau, daherkommt wie die römisch-katholische Dogmatik.

Dennoch wirkte in der protestanti­schen Theologie der orange Impuls weiter. Im 19. Jahrhundert begannen vor allem deutsche Theologen, die Bi­bel historisch-kritisch zu untersuchen. Sie behandelten die Bibel also wie je­des andere literarische Dokument und rückten ihr mit historischen und li­teraturwissenschaftlichen Mitteln zu Leibe. Diese Entwicklung gipfelte in dem Konzept der „Entmythologisie­rung“ der Bibel, das Rudolf Bultmann 1941 auf den Punkt brachte. Von ihm stammt der Satz: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen … und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testa­ments glauben.“

Entscheidend ist nie der Wortlaut einer Quelle, sondern der Umgang mit ihr. Es gibt keine reine, „unverfälschte“ Lesart, denn wir können Texte immer nur unter den Bedingungen unserer kulturellen und individuellen biografischen Bedingtheiten lesen und verstehen.

Auf Bultmann beruft sich dann in den 1960-er Jahren der englische Bischof J.A.T. Robinson in seinem Buch „Gott ist anders“, meines Wissens der erste Versuch, Gott innerhalb der christli­chen Kirche konsequent nicht-theis­tisch zu begreifen. So finden sich die evangelischen Kirchen in einer eigen­artigen Lage: Ihre Pfarrer haben zwar alle auf der Universität gelernt, die Bibel historisch-kritisch zu lesen, die meisten aber brin­gen ihre Theologie nicht unters Volk, weil die orange Bi­belforschung in letz­ter Konsequenz zum Abschied vom theis­tisch gedachten Gott führt.

Der ausstehende Schritt: Die Integration der verschiedenen Entwicklungsperspektiven

Viele moderne Kirchengemeinden, die Kirchen-Volksbewegung, die Evangeli­schen Kirchentage und Katholikentage schließlich ticken nach grünen Mus­tern, doch sie haben zum größten Teil in ihrem Gottesbild ebenfalls den gars­tigen orangen Graben einfach über­sprungen und den blauen Kern ihres Gottesbildes in ihre gemütlichen grü­nen Kuschelgemeinden gerettet. Ähn­lich ist es bei den neuen evangelikalen Gemeinden, die von den amerikani­schen Megachurches inspiriert sind. Ihr Menschenbild ist orange, ihr Gott bleibt blau, die Organisationsformen dagegen sind weitgehend grün – im 20. Jahrhundert entwickelte sich das grüne Mem bekanntlich zur vollen Blüte.

Ein Blick auf den gegenwärtigen Is­lam zeigt ein interessantes Bild. Vor allem in Mitteleuropa gibt es Versuche, einen modernen oder postmodernen Islam zu entwickeln. Denn selbstver­ständlich hat der Islam, genauso wie das Christentum und wie im Grun­de wohl alle geistigen Konzepte, das Potenzial sich weiterzuentwickeln. Autorinnen und Autoren wie Lamya Kaddor oder Benjamin Idriz stehen für einen aufgeklärten „Euro-Islam“, und die Bemühungen um islamischen Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach mit vomKultusmi­nisterium abgesegnetem Lehrplan und akademisch ausgebildeten Reli­gionslehrern zielen in eine ähnliche Richtung: Der Islam soll sich über die blaue Stufe hinaus nach Orange und weiter nach Grün entwickeln. Die An­nahme, der Islam sei vom Wesen her vormodern und nicht kompatibel mit dem orangen, grünen oder gelben Mem, ist nichts als ein Vorurteil. Gin­ge man allein nach den Texten der je­weiligen heiligen Schriften, könnte es auch kein modernes, postmodernes oder gar integrales Christen- und Ju­dentum geben. Entscheidend ist aber nie der Wortlaut einer Quelle, sondern der Umgang mit ihr. Denn es gibt kei­ne reine, „unverfälschte“ Lesart. Wir können Texte immer nur auf dem Hin­tergrund und unter den Bedingungenunserer kulturellen und individuellen biografischen Bedingtheiten lesen und verstehen – das ist eine wesentliche Er­kenntnis der grünen Stufe.

Explosive Fundamentalismen gibt es in allen Religionen

Die Behauptung, der Islam sei eine fundamentalistische Religion, zeugt von einer sehr begrenzten Perspekti­ve. Wer etwas genauer hinsieht, merkt, dass jede Religion und jede Weltan­schauung eine fundamentalistische Ausprägung haben kann. Und Funda­mentalisten aus den unterschiedlichen Religionen sind einander oft ähnlicher als Angehörige derselben Religion auf verschiedenen Bewusstseinsebenen. So fordern nicht nur konservative Muslime, dass Frauen Kopf und Arme verhüllen sollen, sondern ebenso die fundamentalistischen, orthodoxen Ju­den – und auch bei einigen besonders streng fundamentalistischen christ­lichen Gruppierungen bedecken die Frauen ihr Haar. Allgemeiner: Die be­nachteiligte Stellung der Frau ist kein Kennzeichen des Islam, sondern ein Kennzeichen der patriarchalen, blauen Stufe. Ähnliches gilt für religiös bzw. weltanschaulich begründete Gewalt: Muslime, Christen, Kommunisten oder Neonazis, die Bomben legen oder Attentate begehen, verbinden in sich eine streng blaue, dogmatische Welt­anschauung mit einem roten Durch­setzungswillen. Diese Kombination ist explosiv – von den Kreuzzügen ange­fangen bis hin zum 11. September und den „Döner-Morden“.

Die Behauptung, der Islam sei eine fundamentalistische Religion, zeugt von einer sehr begrenzten Perspekti­ve. Wer etwas genauer hinsieht, merkt, dass jede Religion und jede Weltan­schauung eine fundamentalistische Ausprägung haben kann. Und Funda­mentalisten aus den unterschiedlichen Religionen sind einander oft ähnlicher als Angehörige derselben Religion auf verschiedenen Bewusstseinsebenen. So fordern nicht nur konservative Muslime, dass Frauen Kopf und Arme verhüllen sollen, sondern ebenso die fundamentalistischen, orthodoxen Ju­den – und auch bei einigen besonders streng fundamentalistischen christ­lichen Gruppierungen bedecken die Frauen ihr Haar. Allgemeiner: Die be­nachteiligte Stellung der Frau ist kein Kennzeichen des Islam, sondern ein Kennzeichen der patriarchalen, blauen Stufe. Ähnliches gilt für religiös bzw. weltanschaulich begründete Gewalt: Muslime, Christen, Kommunisten oder Neonazis, die Bomben legen oder Attentate begehen, verbinden in sich eine streng blaue, dogmatische Welt­anschauung mit einem roten Durch­setzungswillen. Diese Kombination ist explosiv – von den Kreuzzügen ange­fangen bis hin zum 11. September und den „Döner-Morden“.

Nur weil sich der Islam in der gegen­wärtigen geschichtlichen Phase eher in Weltgegenden findet, die schwer­punktmäßig auf der roten oder blau­en Stufe funktionieren, scheint die Gleichung Islam = Fundamentalismus aufzugehen. Wo immer sich Bildung, wirtschaftlicher Erfolg und Weltoffen­heit, also orange Eigenschaften in ei­ner Gesellschaft durchzusetzen begin­nen, wandeln sich auch Religion und Weltanschauung. Das war deutlich zu sehen beim arabischen Frühling 2011, und ebenso deutlich ist jetzt zu sehen, dass die intellektuellen, gebildeten und modern ausgerichteten Schich­ten in den arabischen Ländern noch viel zu klein sind.

Wer in Deutschland gegen den Fundamentalismus vorgehen will, muss nicht in erster Linie Extremisten bekämpfen (obwohl das nötig sein kann), sondern die Lebensbedingungen verbessern.

Doch der arabische Frühling zeigt die Richtung an, in die sich auch die islamischen Länder frü­her oder später entwickeln werden: Demokratie und Menschenrechte wer­den sich durchsetzen in dem Maß, wie sich oranges und später grünes Be­wusstsein verbreitet.

Kein Allheilmittel, aber ein Weg: Die Evolution der Lebensbedingungen

Blau bietet Sicherheit und Orientierung durch strenge, aber erlernbare Regeln, ein klar gegliedertes Weltbild, durch Ri­ten und Traditionen und eine geregelte Gemeinschaft, in der jedes Mitglied sei­nen Platz zugewiesen bekommt. Das ist für manche attraktiv, die beim orangen Rennen nach Erfolg und Status nicht mitmachen wollen oder die sich im grü­nen „Anything goes“ verlieren. So je­denfalls kann man sich erklären, warum auch in Deutschland der strenge, fun­damentalistische Islam immer wieder neue Anhänger findet.

Die überwiegende Zahl der Musli­me in Deutschland, gewissermaßen die „schweigende Mehrheit“, ist jedoch sicherlich genauso wenig fundamenta­listisch geprägt wie die durchschnittli­chen Kirchenmitglieder, die erstaunlich wenig über ihre eigene Religion wissen, sie kaum praktizieren und ihr Christ­sein eher folkloristisch oder kulturell verstehen. Wer in Deutschland gegen den Fundamentalismus vorgehen will, muss nicht in erster Linie Extremis­ten bekämpfen (obwohl das nötig sein kann), sondern die Lebensbedingun­gen verbessern, gesundes Orange und gesundes Grün in der Gesellschaft fördern, auch und besonders bei Men­schen mit Migrationshintergrund, ge­nauso aber auch in den gottverlassenen Landstrichen in Ostdeutschland. Junge Männer, die sich gebraucht fühlen und beruflich etwas werden können, wer­den eher immun gegen rechtsradikale wie extremistisch-religiöse Heilslehren. Eigentlich ein Gedanke, den man auch ohne Kenntnis der Bewusstseinsstufen sollte nachvollziehen können.

[1] Die Ansicht, es gebe eine Pendelbewegung zwischen Wir-Stufen (Purpur, Blau, Grün) und Ich-Stufen (Rot, Orange, Gelb), ist zwar nicht unumstritten, mir erscheint sie jedoch einleuchtend. Wichtig ist bei diesem Gedanken allerdings – wie bei solchen Beschreibungen generell –, dass es sich dabei um ein Modell handelt, das keine strengen Gesetze beschreibt, sondern Spuren von Ordnung innerhalb einer wabernden, dynamisch fließenden Wirklichkeit entdeckt. Natürlich hat ein Mensch, der seinen Schwerpunkt auf einer Ich-Stufe hat, einen Bezug zur Gemeinschaft, und jemand, der schwerpunktmäßig auf einer Wir-Stufe zu Hause ist, ist dennoch ein Individuum mit Eigenleben.

Tilmann Haberer, gebo­ren 1955, ließ sich nach 18 Jahren Gemeindearbeit als evangelischer Pfarrer auf eigenen Wunsch be­urlauben. Sieben Jahre arbeitete er als Journalist, Übersetzer und Autor sowie als freiberuflicher Seelsorger mit eigener Praxis. Seit Februar 2006 ist er der evangelische Leiter der ökumenischen Krisen- und Lebensberatungs­stelle „Münchner Insel unter dem Marienplatz“. 2010 veröffentlichte er zusammen mit Marion und Werner Tiki Küstenmacher „Gott 9.0 – wohin unsere Gesell­schaft spirituell wachsen wird“

(aus:: IP 22 – 07/2012)

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