Integrales Tantra

Religion / Spiritualiät

Integrales Tantra

Silvio Wirth

Im Westen hat sich in den letzten 30 Jahren ein sehr verkürz­tes Verständnis von Tantra etabliert, nämlich die Verbin­dung von Spiritualität und Sexualität – vielerorts wird jede erotisch-sexuelle Praxis mit transzendentem Anspruch „Tantra“ genannt. Aus meiner langjährigen Erfahrung mit vielen Wegen und Aspekten des Tantra, auch dem hinduistischen Tantra-Yoga und dem tibetischen Buddhismus, verstehe ich Tantra als einen ganzheitlichen und vielseitigen spirituellen Übungsweg, der schon von seinen magisch-mystischen Wurzeln her einen Kern von „Integraler Lebenspraxis“ in sich trägt, da er die Bereiche Körper, Geist, Herz und Seele gleichermaßen anspricht.

Das Integrale Tantra ist ein Ansatz, die Methode und Weis­heit der tantrischen Schulen systematisch für den westlichen Menschen von heute anzupassen. Tantra wird, integral infor­miert, zu einem ganzheitlichen Weg für unsere Zeit, der Liebe, Sexualität und Intimität einschließt.

Was war der Impuls zu dieser Neukreation?

Ich hatte eine ausführliche Ausbildung zum Lehrer des Yoga und des Neo-Tantra gemacht und habe mich daraufhin mit ver­schiedenen Formen des traditionellen Tantra beschäftigt. Seit 2001 lehre ich Tantra im eigenen Institut. Im Laufe der Jahre habe ich erkannt, dass es eine Brücke von den traditionellen zu den modernen Formen des Tantra braucht, eine Synthese ohne Verflachung: eine Lehre, die die Tiefe und spirituelle Transfor­mationskraft der Tradition mit der Modernität und Leichtigkeit des modernen Tantra verknüpft.

Tantra ist ein ganzheitlicher spiritueller Übungsweg, der einen Kern von „Integraler Lebenspraxis“ in sich trägt, da er die Bereiche Körper, Geist, Herz und Seele gleichermaßen anspricht.

Der entscheidende Anstoß kam dann durch Ken Wilbers Buch „Integrale Spiritualität“, in dem er das Programm formu­liert, traditionelle spirituelle Wege integral zu informieren und aufzufrischen. Ich habe meine Arbeit mit der Integralen Theorie erweitert und erkannt, dass Tantra und die Module der Integra­len Lebenspraxis lückenlos zusammenpassen. Seit drei Jahren nenne ich meine Arbeit „Integrales Tantra“ und erfahre seither eine starke Zunahme von Wirksamkeit und Tiefe. Dabei ist ein Buch entstanden, in dem ich die integral-tantrische Landkarte ausgearbeitet habe.

Wichtigste Kennzeichen des Integralen Tantra

Ich habe mich einige Jahre damit beschäftigt, welche Gütekrite­rien eine Lehre erfüllen sollte, damit man von einem Integralen Tantra sprechen kann.

Ich denke, ein solcher Weg sollte die tantrische Tradition ernst nehmen und anwenden und andererseits vollintegral in­formiert sein. Etwas ausführlicher formuliert, sollten folgende Punkte erfüllt sein:

  1. Integrales Tantra soll weitestgehend auf die tantrische Tradition zurückgreifen. Das setzt eine gewisse Kennt­nis dieser Tradition bei den Lehrenden voraus und bedeutet auch, dass die traditionellen Methoden, die im Tantra üblich und auch heute noch zeitgemäß sind, geübt werden. Das gilt fast uneingeschränkt für die Elemente Hatha-Yoga, Pranayama und Meditation. Weitere Kernelemente im Tantra sind, wie wir feststellen werden, die Arbeit mit der Kundalini-Energie, die Lehre von den subtilen Körpern und verschiedene Formen der Meditation. Ferner stehen dem tantrischen Praktizierenden ein ganzes Arsenal kraftvoller Methoden wie Mantra, Yantra, Gottheits-Praxis und verschiedene Formen von Ritualen zur Verfügung. Das Integrale Tantra hat auch den Anspruch, was Körperlichkeit, Selbsterkenntnis, Liebe, Sexualität und Bezie­hung angeht, nicht hinter die Errungenschaften des Neo-Tantra zurückzufallen.
  2. Integrales Tantra sollte sich an den Modulen der Integra­len Lebenspraxis orientieren. Das soll sicherstellen, dass die Praxis alle Lebensbereiche abdeckt und zu nachhaltigen Fortschritten bei denen führt, die sich wirklich auf den spiritu­ellen Weg machen.
  3. Integrales Tantra soll die integral-evolutionären Modelle als geistigen Hintergrund einbeziehen. Vom integralen Standpunkt aus betrachtet, gibt es, wie sicherlich in anderen spirituellen Traditionen auch, eine Reihe von Elementen und Praktiken, die nicht zeitgemäß erscheinen oder nicht auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse sind. Die kontro­versen Punkte müssen diskutiert und gegebenenfalls angepasst werden.
  4. Das Integrale Tantra ist offen für eine geeignete wissen­schaftliche Begleitung. Es strebt ferner den Kontakt, den Austausch und die Vernetzung mit aufgeschlossenen Tantra- Instituten an sowie mit Organisationen und Schulen, die die integrale Idee weiterentwickeln wollen.
  5. Wichtig ist, dass auch die Art der Vermittlung auf eine re­spektvolle humanistische Weise geschieht und integrale Gütekriterien der Lehrer- und Schülerschaft erfüllt.

Tantrische Praxis und Sexualität

Das Integrale Tantra soll in erster Reihe eine Anleitung zur Praxis sein, deren Ziel eine möglichst systematische und viel­seitige Weiterentwicklung des Einzelnen ist. Die Entwicklungs­richtung geht hin zu größerer körperlicher und geistiger Kraft, emotionaler Stabilität, ausgewogeneren Urteilen, einem stärke­ren Willen, einer intensiveren und bewussteren Sexualität und größerer Liebes- und Beziehungsfähigkeit. Gleichzeitig verfolgt das Integrale Tantra die Absicht, den Praktizierenden stärkere Erfahrungen der Lebensenergie zu vermitteln und sie mit den außergewöhnlichen Zuständen vertraut zu machen, die man als subtil, kausal und non-dual beschreiben kann.

Integrales Tantra zielt auf größere körperliche und geistige Kraft, emotionale Stabilität, ausgewogeneres Urteilen, einen stärkeren Willen, eine intensivere und bewusstere Sexualität und größere Liebes- und Beziehungsfähigkeit.

Was macht diesen Weg nun konkret aus? Im Wesentlichen geht es darum, die Module der integralen Praxis konsequent mit tantrischen Inhalten zu füllen. Wichtig scheint mir insbe­sondere, auch die speziellen Module „Sexualität“ und „Bezie­hung“ einzuschließen.

Über tantrische Sexualität haben sich in den letzten Jahren viele Halbwahrheiten eingeschlichen. In meinem Buch versuche ich, viele dieser Mythen zu enttarnen und zugleich die Grundzü­ge zu nennen, um die es bei der tantrischen Sexualpraxis geht.

Voraussetzung für höheres Tantra ist, dass eine normale und gesunde Sexualität überhaupt vorhanden ist. Weil das in unse­rer Kultur oft nicht der Fall, heißt die erste Stufe im Tantra, die Sexualität von Ängsten und Hemmungen zu befreien – dazu bietet Integrales Tantra unter anderem sexualtherapeutische Ansätze.

Zudem gehörtzur Ausübung des sexuellen Tantra auch eine gewisse Freiheit und Selbstmeisterung im Umgang mit der Sexu­alität. Man sollte in der Lage sein, den Tiger zu reiten, wie es in den alten Schriften heißt, und nicht komplett dem Sex und den dazugehörigen Emotionen verfallen sein. Es geht im Tantra ja eben nicht um die Befriedigung persönlicher Lust und Gier, son­dern dahinter steht der Grundgedanke, dass die sexuellen Kräfte für viele Menschen eine Quelle für Anhaftung und daraus ent­stehende Abhängigkeiten darstellen. Anstatt sich nun von dieser Quelle abzuwenden, lehrt Tantra genau im Gegenteil einen be­wussten, meditativ-achtsamen Umgang mit diesen Kräften!

Die eigentlichen Methoden des sexuellen Tantra sind in ei­nem solchen ethischen Kontext zu sehen. Dabei geht es in erster Linie um die Kanalisierung der sexuellen Energie zu spirituellen Zwecken. Tantra-Übungen verbinden Erotik und Sexualität auf oft spektakuläre Weise mit Elementen aus dem Kundalini-Yoga mit Atemtechniken, Chakra-Visualisierung und Körpertechniken. Im Zusammenhang mit der Öffnung bestimmter Körperzentren besonders dem Herzen, werden dabei hohe Trancezustände erreicht, die das gesamte Erleben der Sexualität veränder können. Andere Methoden sind das Erlern­en der Tantra-Massage und auch der Einsatz temporärer sexu­eller Enthaltsamkeit, um die Energie zu sublimieren.

Wesentlich ausführlicher gehe ich in meine Buch „Integ­ales Tantra (erschienen 2011 im Phänomen-Verlag) auf diese Aspekte ein. Dort hab ich über die Stufen der Sexualität ge­schrieben, die integralen Prinzipien der Sexualethik und über die Auflösung des Konflikts, ob man zölibatär, monogam oder polyamor leben sollte (Lösung: alle drei Lebensweisen sind ab der integralen Stufe möglich und richtig!)

Eines meiner Ziele ist die Entstehung einer Art Tantra Akademie, in der sich namhafte Lehrende aus dem tantrischen und integralen Bereich an einer kompletten Ausbildung in integra­lem Tantra beteiligen, um Tantra auf eine neue Stufe zu heben. Interessierte sind herzlich eingeladen, mit mir dazu Kontakt aufzunehmen.

Silvio Wirth, Jg. 70, ist Tantra- und Yogalehrer seit 1997, Dipl. Psychologe, Psychothrapeut (HPG), Coach und Autor. Er leitet das Secret-of- Tantra-Institut (www.secret-of-tantra.de) in der Nähe von Berlin und bietet dort Ausbildungen und Seminare im Integralen Tant­ra an. Silvio lebt mit Frau und Kindern in einer ökologisch-spirituellen Lebensge­meinschaft bei Berlin und beschäftigt sich seit 2000 mit Integralen Themen und Fragestellungen. Auf www.tantra-integral.de gibt es weiterführende Informationen zu seinem Buch „Inte­grales Tantra“.

Ähnliche Beiträge