Eine größere Bewusstseinsdichte – Plädoyer für eine Kultur der Achtsamkeit
Gerd Metz
In seiner Weihnachtsansprache 2009 rief Bundespräsident Horst Köhler a.D. zu einer „Kultur der Achtsamkeit“ auf und dazu, „bewusster zu leben“. Bemerkenswert!
Eine wachsende Durchdringung der individuellen und kollektiven Lebensvollzüge mit Bewusstheit und Geist ist unübersehbar der Schlüsselfaktor dafür, ob es uns als menschlichen Kollektiven noch gelingen kann, zerstörerische Entwicklungen zu transzendieren als auch unser persönliches Leben erfüllend zu leben.
Bewusst das Bewusstsein und dessen Inhalte wahrnehmen
Was meint Achtsamkeit ? Sie hat zu tun mit be-achten. Nach innen gerichtet bedeutet sie, mir im gegenwärtigen Moment bewusst zu sein, dass ich gerade bewusst bin, und darüber hinaus, wessen ich mir bewusst bin. Das Erstere ist das von Moment-zu-Moment-Gewahrsein der Bewusstheit selbst, unabhängig von ihren Inhalten (Bewusstsein als „etwas“). „Wessen“ weist auf das Beachten und Gewahrsein meiner fließend sich verändernden Bewusstseinsinhalte (Gedanken, Gefühle, Absichten) – während sie gerade jetzt geschehen und ohne damit vollständig identifiziert zu sein. Also ein Bewusstsein von etwas.
Achtsamkeit ist nicht identisch mit Aufmerksamkeit – welche auch Tiere haben –, sondern steht eine Ebene darüber. Sie qualifiziert sozusagen die „oberste Führungsebene“ innerhalb meiner psychischen Struktur. Bin ich im Bewusstseinsmodus der Achtsamkeit, ist meine „oberste Führungsebene“ wach und präsent. Bin ich nicht im Achtsamkeitsmodus, dann funktioniere ich hauptsächlich aus dem Autopilot-Modus.
Im Achtsamkeitsmodus bekomme ich mit, wo meine Aufmerksamkeit sich in diesem Moment befindet und ob ich sie gerade jetzt dort überhaupt haben will. Dies ist deswegen von eminenter Bedeutung, weil sich aus dem Strom meiner Aufmerksamkeitsfokussierungen meine (innere) Welt und Weltsicht zusammenbaut, als auch der Fluss meiner Handlungen daraus entspringt, was wiederum im Ergebnis zu meinen aktuellen und künftigen Lebensumständen führt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Achtsamkeit hier nicht eine bemühte „Pass auf“-Haltung meint oder ein „Sich-zusammenreißen“. Achtsamkeit ist vielmehr ein uns natürlich und ohne Anspannung zugänglicher Geisteszustand. Er ist also leicht zu initiieren und tritt auch manchmal spontan auf, aber:
Er ist nicht leicht über den Moment hinaus aufrecht zu erhalten, also in ein Kontinuum zu überführen. Er ist extrem flüchtig und instabil.
Wir sind uns seiner besonderen Schlüsselbedeutung für die Qualität unseres Lebens nicht in vollem Umfang bewusst und beachten ihn daher nicht gebührend.
Er wird durch mentale Gewohnheiten und seelische Automatismen überformt.
Diese Flüchtigkeit gilt es, gelassen anzunehmen und dennoch auf die Kultivierung der Achtsamkeit in „geschmeidiger Entschiedenheit“ ausgerichtet zu bleiben. Durch Sich-erinnern „nähre“ ich das Bewusstsein und so kann es eine gewisse Bewusstseinsdichte annehmen.
Dieser Begriff Dichte lässt die Vorstellung aufkommen, Bewusstsein sei so etwas wie eine „feinstoffliche Substanz“, die sich ansammeln kann. Es ist intuitiv spürbar, dass ein zerstreutes Bewusstsein weniger „Substanz“ hat als ein gesammeltes. Im Unterschied zu Verdichtungsgraden der Materie, die je dichter umso schwerer, kompakter und unbeweglicher ist, kann man verdichtetes Bewusstsein als „angereicherter“, feiner und kohärenter erleben als das gewöhnliche Tagesbewusstsein.
Auch im zwischenmenschlichen „Feld“ kann man diese Verdichtung spüren, wenn ein Dialog dicht und gehaltvoll wird, weil alle achtsam und eingestimmt sind, oder wenn man in einer Meditationsgruppe tiefer in die Meditation kommt als alleine.
Weitere Dimensionen der Achtsamkeit
Achtsamkeit richtet sich auf den eigenen Geist und auf die Außenwelt. Sie ist eine Kontaktfunktion. Sie bringt in Verbindung (alignment), in ein Eingestimmt-Sein (being tuned in), eine Resonanz.
Mit den Wilber-Quadranten können wir alle Seins-Dimensionen beschreiben, in denen Achtsamkeit zu einem umfassenden Eingestimmt-sein auf das Leben führt.
In einer achtsamen Geistesverfassung bin ich eingestimmt und in Verbindung:
Mit mir selber:
Mit meinem Körper und seinen Empfindungen, seinen Bedürfnissen, Spannungs- und Entspanntheitszuständen, seinen Stresssignalen; mit meinen Gedanken und Gefühlen, Ambitionen und Zielen, mit dem, was mich bewegt, und dem, was mich zur Ruhe kommen lässt; mit meiner Mitte. Ich bin dadurch integrierter, kohärenter und gesammelter (bewusstseinsdichter).
Mit meinen Mitmenschen:
Mit dem, was sie mit-teilen, mit ihren Intentionen, Bedürfnissen und Sichtweisen, ihren Fähigkeiten; mit dem was uns verbindet; mit dem Atmosphärischen in einer Gruppe, mit kulturellen Prägungen. Ich bin eingestimmt auf das Innere meines Gegenübers und in Resonanz mit der Atmosphäre des sich zwischen uns entwickelnden Feldes.
Mit den Dingen und Vorgängen meines Alltags:
Im achtsamen Kontakt mit den Dingen, mit denen ich umgehe, verursache ich weniger Störungen. Ich beachte Probleme, solange sie noch klein sind und bevor sie groß werden. Ich halte meine dingliche und natürliche Welt in Ordnung und beachte ihre Gesetzmäßigkeiten. Ich bin in Kontakt mit den äußeren Realitäten.
Mit den übergeordneten Strukturen und Einheiten, mit dem Kontext:
Auch größere strukturelle Einheiten wie eine Firma oder die Gesellschaft „leben“, sie bewegen und verändern sich. Ich bin mit diesen übergeordneten Bewegungen in Kontakt. Aus einem intuitiven Gespür für größere Zusammenhänge und ihre Dynamiken vermag ich die Gegenwart als fließend wahrzunehmen und sie mitzugestalten. Ich fließe mit und bin in Kontakt mit Gegenwart und Zukunft.
Durch alle vier Quadranten fließt der Zeitstrom, mit dem ich durch Achtsamkeit ebenfalls in Resonanz bin.
Mit der Zeit:
Im Kontakt mit der Zeit habe ich ein Gespür für Zeiträume, Zyklen und Rhythmen. Ich organisiere meine Aktivitäten als einen „Fluss im Strom der Zeit“, presse Zeiträume nicht übervoll mit Aufgaben, sodass ich noch „Luft“ zum Atmen habe und nicht den Kontakt zu mir selber verliere (siehe erster Punkt). Ich fließe mit der Zeit.
Gut in Kontakt zu sein hat eine sanft ordnende und klärende Wirkung in den oben beschriebenen Dimensionen:
- Es trägt bei zu Ordnung und Klarheit im Kopf und Gemüt des Praktizierenden, zu einer „inneren Aufgeräumtheit“.
- Es hilft, in Beziehungen Missverständnisse und Verletzungen zu minimieren, eine Atmosphäre der gegenseitigen Wertschätzung zu kultivieren und trägt zu „geklärten zwischenmenschlichen Räumen“ bei.
- Es hilft, Ordnung zu erhalten oder zu schaffen in den Dingen meines Alltags und gut koordiniert im Zeitstrom zu handeln.
- Ich bin mir destruktiver Entwicklungen und Fehlfunktionen in den personübergreifenden Strukturen und Institutionen, in denen wir leben und arbeiten, bewusst und trage zu deren Harmonisierung und Weiterentwicklung bei.
Positive Wirkungen auf Kultur und Gesellschaft
Die lebendige Quelle des GEISTES, der Bewusstheit entspringt tief in jedem Einzelnen. Indem ich Achtsamkeit in meinem Leben kultiviere, öffne ich mich dieser Quelle. So tränkt sie meine seelischen Innenräume mit ihren „Wassern des Lebens“ und fließt in meine äußeren Handlungen. Wenn mehrere Menschen sie kultivieren, tränkt sie die „Felder“ ihrer Beziehungen und ihres Zwischenmenschlichen. Wenn der kollektive Strom eines achtsamen Bewusstseins anschwillt und sich verdichtet, wenn wacher GEIST ins Kollektive fließt, dann wird er unsere Institutionen, unser Wirtschaften, unsere Politik und unsere Medien durchdringen und weiterentwickeln.
Eine Kultur der Achtsamkeit würde sich befruchtend auf alle vier Felder auswirken und hätte somit, vermittelt über deren Kopplung, eine subtil durchdringende und aufbauende Wirkung auf alle Lebensbereiche des Menschen, einer Organisation oder der ganzen Gesellschaft.
Es muss sich ein gesellschaftliches Interesse herauskristallisieren – dahingehend, dass die Förderung und Heranbildung lebenstüchtiger und verantwortungsfähiger Bürger sich nicht allein auf die Ausbildung emotionaler und kognitiver Intelligenz, psychischer Gesundheit sowie beruflicher Fertigkeiten beschränkt, sondern die Schulung und Entwicklung des Bewusstseins als wesentlich mit einschließt.
Links
Rede des Bundespräsidenten: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/HorstKoehler/Reden/2009/12/20091225_Rede.html
Mein von Prof. Hüther veröffentlichter offener Brief dazu an ihn: http://www.win-future.de/downloads/bundespraesident_offener-brief.pdf
Gekürzte Fassung. Die Vollversion kann von Gerd Metz per Mail (metz@gerdmetz.de) angefordert werden, ebenso Infos über sein Online-Projekt zu einer Integralen Lebenspraxis.
Dipl.Psych. Gerd Metz ist Senior Coach, Kursleiter, Psychotherapeut und Achtsamkeits-Lehrer (MBSR). Er leitete fünf Jahre eine Psychologische Beratungsstelle. Eineinhalb Jahre Meditationspraxis in Indien, Thailand, Japan und Korea sowie ein Vier-Monats-Retreat in den USA. Aktiv im Kompetenzteam Kommunikation des Integralen Forums.
(aus: Quelle: IP 23 – 12/ 2012)