Sex, Ethik, Selbsterkenntnis

Religion / Spiritualiät

Sex, Ethik, Selbsterkenntnis

Warum spirituelle Unterscheidungskraft so wichtig ist

Mariana Caplan

Als Ergebnis meiner Recherchen, der Art von Büchern, die ich schreibe, und einer Beratungspraxis, die oft Menschen anzieht, die auf die eine oder andere Weise vom spirituellen Leben enttäuscht worden sind, bin ich in ein ungewöhnliches Material spiritueller Daten eingeweiht, das wir als „Unterleib der Erleuchtung“ bezeich­nen könnten. Das ist die Art von spirituellem Klatsch, die je­den ernsthaften Menschen, der sich dem Weg verpflichtet hat, schaudern ließe. Wenn man ihn ernst nimmt, offenbart er, dass absolut keiner, die Lehrer und uns selbst nicht ausgenommen, vor den Fallgruben sicher ist, denen man unvermeidlich auf dem spirituellen Weg begegnet.

Ich habe erschütternde Berichte gehört, wie einige der am meisten bewunderten „erleuchteten“ Lehrer unserer Zeit in ihrem Streben nach Spiritualität ihre Kinder verließen, spiri­tuelle Praktiken benutzten, um menschlichen Kontakt zu ver­meiden und ihre Intimpartner schlecht zu behandeln, und ihr Verhalten oft mit spiritueller Terminologie und spirituellen Konzepten rechtfertigten. Skandale in Bezug auf Sex, Geldund Macht durchdringen die gegenwärtige spirituelle Szene wie ein schmutziger Virus, der sich unentdeckt ausbreitet, bis er irrepa­rablen Schaden angerichtet hat.

Blinde Flecken untergraben die Integrität

Die facettenreichen Ursachen von Skandal und Desillusionie­rung im Hinblick auf spirituelle Lehrer zu verstehen, ist ein äu­ßerst komplexes Thema. Ich gebe hier eine kurze Betrachtung als Grundlage für das Verständnis, was nötig ist, um im eigenen Leben einen selbst bestimmten, skandalfreien Weg spirituellen Lernens und Wachsens zu gehen.

Als erstes ist es wichtig, die immer stärker um sich greifende Verbreitung von skandalösem Verhalten auf dem spirituellen Weg zur Kenntnis zu nehmen. Lebensbedrohliche Beispiele von Missbrauch bilden die Ausnahme, die meisten Verstöße sind leichter, daher aber auch weniger sichtbar und schließen psy­chische, finanzielle und sexuelle Nötigung ein. Wenn es auch schön wäre zu glauben, dass das Etikett „spirituell“ eine Ver­pflichtung zu tadelloser Integrität darstellt, so ist es doch kei­neswegs überraschend, dass es in einer modernen Welt, deren Götter Geld, Macht und Berühmtheit sind, nicht genügt, einen Lehrer oder einen Weg einfach mit dem Etikett „spirituell“ zu versehen, um sie von der gleichen Korruption auszunehmen, die in jedem anderen Aspekt des Lebens in Erscheinung tritt.

Zweitens lohnt es sich, darüber nachzudenken, welches Ver­halten tatsächlich den Mangel an Integrität ausmacht. Begeht ein spiritueller Lehrer oder eine spirituelle Lehrerin, der oder die eine sexuelle oder romantische Beziehung mit einer seiner Schülerinnen oder einem ihrer Schüler hat, damit gleich spiritu­ellen Missbrauch? Oder ist es das Element der Geheimhaltung oder des Widerspruches (wie ein angebliches Zölibat), das den Missbrauch ausmacht? Hängt es von den Umständen des Be­ginnes der Beziehung und dem daran beteiligten Reifegrad ab? Und wenn es wirklich ein Element von fragwürdiger Motivati­on gibt, tut das der Weisheit des Lehrers und seiner Fähigkeit, das Wissen weiterzugeben Abbruch? Ist die Bitte, zehn Prozent seines Einkommens abzugeben oder eine Erbschaft einer spiri­tuellen Organisation zu spenden schon als finanzielle Nötigung anzusehen, oder wird es erst dazu, nachdem man von einem bestimmten Weg oder Lehrer enttäuscht ist? Ähnliche Fragen könnte man zu allen Arten von spiritueller Manipulation stel­len, und ich bin überzeugt, es gibt keine einfachen, allgemein gültigen Antworten, da jede Situation eine einmalige Reihe von Variablen umfasst. Einige spirituelle Institutionen haben ver­sucht, einen offiziellen ethischen Kriterienkatalog aufzustellen, um spirituellen Missbrauch zu verringern, aber solche Bewe­gungen können auch eine erstickende Auswirkung auf Lehrer haben, deren Aufgabe darin besteht, den Praktizierenden dabei zu unterstützen, einen Zugang zu dem wilden, unbegrenzten Chaos der Schöpfung zu finden, und können manchmal auf Kosten von Kreativität und Freiheit ein Sicherheitsstreben un­ter den Praktizierenden hervorrufen.

Komplizenschaft: Es sind zwei Leute nötig, um Tango zu tanzen

Für mich liegt nahe, dass das, was die Hauptquelle der prob­lematischen Verhaltensweisen, die wir in spirituellen Gemein­schaften finden, ausmacht, in jedem einzelnen von uns exis­tiert. Das wirklich zu wissen, kann unsere Sichtweise von einer Opfermentalität hin zur Selbstverantwortung verlagern. Der Begriff der gegenseitigen Komplizenschaft bezieht sich auf das Prinzip, dass ein Lehrer und ein Schüler oder eine Gruppe von Schülern – wenn auch vielleicht weitgehend unbewusst – zu­sammenwirken müssen, damit zwischen ihnen ein Umstand von Korruption entstehen kann. Es sind zwei Leute nötig, um auf der Tanzfläche Tango zu tanzen, und es sind zwei oder mehr Leute nötig, um in einer spirituellen Schule ein System von Korruption entstehen zu lassen. Gegenseitige Komplizenschaft ist im Wesentlichen spirituelle Co-Abhängigkeit.

Korruption entsteht aus beidseitiger Unbewusstheit in der Schüler-Lehrer Beziehung.

Die Anwesenheit von spiritueller Korruption legt nahe, dass über den bewussten Zweck der Verbindung zwischen Schüler und Lehrer hinaus, also spirituelle Erleuchtung, Erwachen, Got­tesdienst oder ein anderes Ziel dieser Art, auch noch unbewuss­te Bedürfnisse und Übereinkünfte zwischen ihnen bestehen. Daran mag das Bedürfnis des Lehrers, sich mächtig, besonders, gebraucht oder geliebt zu fühlen und die Kontrolle zu haben, beteiligt sein, während der Schüler oder die Schülerin vielleicht unbewusst gerettet, beschützt und von der Notwendigkeit befreit werden möchte, erwachsen zu werden und die eigene Verantwortung für seine oder ihre Verhaltensweisen zu über­nehmen. Gleichgültig wie die Einzelheiten sind, Korruption entsteht aus beidseitiger Unbewusstheit in der Schüler-Lehrer Beziehung.

Obgleich es wahr ist, dass ein Lehrer eine Stellung von gro­ßer Macht und großem Einfluss innehat, sind oder sollten die meisten Menschen, auf die er Einfluss ausübt, Erwachsene sein. Wenn wir das Thema der Psychologie in diesem Buch wei­tererforschen, werden wir verstehen lernen, wie häufig unsere hehren spirituellen Ziele mit unbearbeiteten Kindheitsbedürf­nissen und –wünschen verwechselt werden: So finden wir uns oft in spirituellen Umständen wieder, die ungelöste Umstände unserer frühen Lebensjahre wiederholen. Das lehrte auch Carl Gustav Jung: „Wenn eine innere Situation nicht bewusst ge­macht wird, erscheint sie im Außen als Schicksal“.

Spirituelle Umgehungstendenzen

Vielleicht auf keinem anderen Gebiet der spirituellen Kultur er­leben wir die Auswirkung spiritueller Umgehungstendenzen so stark wie im Kreis der spirituellen Lehrer. Bei den meisten von uns wirkt sich die subtile Art und Weise, wie wir unsere psychi­sche Dynamik umgehen, nur auf unseren eigenen Integrations­prozess und vielleicht auf jene, die uns nahe stehen, aus. Wenn wir jedoch irgendeine Art von Lehrfunktion haben, verbinden sich die verdeckten Bereiche in unserer psychischen Bewusst­heit mit unserer Übermittlung der Lehren und können zu Ver­wirrung oder sogar großem Schaden für jene führen, deren Le­ben wir beeinflussen.

Die große Mehrheit spiritueller Skandale wird von Lehrern ausgelöst, die einen gewissen Grad an Realisation erlangt haben, aber in ihrer psychischen und sexuellen Entwicklung nicht im Gleichgewicht sind. Im Allgemeinen können die höchst schäd­lichen Verhaltensweisen, die Lehrer in der Beziehung zu ihren Schülern an den Tag legen, direkt auf psychische Wunden, einen blinden Fleck, die aus einem Kindheitstrauma, Missbrauch oder weniger als optimaler Betreuung durch die Eltern herrühren.

Viele spirituelle Skandale resultieren daraus, dass Lehrer eine unausgewogene Entwicklung im Hinblick auf die Perspektive der Sexualität durchlaufen haben und diese nicht reflektieren.

Diese unausgesprochenen Wunden drücken sich hauptsächlich durch eine verzerrte Beziehung zu Sex, Macht oder Geld und eine übertriebene Vorstellung von ihrer Realisation aus. In eini­gen Fällen manifestieren sich die Auswirkungen eines Lehrers, der seine eigene psychologische Arbeit umgangen hat, in massi­ven Skandalen, in denen Gemeinschaften auseinander brechen, Prozesse angestrengt werden und, in den extremsten Fällen, in­dividueller oder Gruppenselbstmord verübt wird. Oft sind die Erscheinungsformen subtiler und zeigen sich allmählicher, in­dem sie in die Psyche eindringen wie ein unerkannter Krebs, der erst entdeckt wird, nachdem großer und manchmal nicht wieder gut zu machender Schaden entstanden ist.

Entwicklungslinien – Warum auch Lehrer nicht zu 100 Prozent perfekt sind

Die Diskussion, die der Philosoph Ken Wilber über Entwick­lungslinien geführt hat, kann uns verstehen helfen, wie jemand auf einem oder mehreren Gebieten einen hohen Verwirkli­chungsgrad erreicht hat, aber in anderen viel unentwickelter bleiben kann. Wilber erklärt, dass Entwicklung in unterschied­lichen Linien oder Strömen geschieht, die Moral, Affekte, zwi­schenmenschliche Fähigkeiten, Wahrnehmung, Sexualität, Mo­tivation und Identität einschließen, aber nicht darauf begrenzt sind. In jedem beliebigen Individuum können einige dieser Li­nien mehr entwickelt und andere weniger entwickelt sein; so ist die menschliche Entwicklung ein ungleichmäßiger Prozess. Wilber schreibt: „Diese Linien sind ‚relativ unabhängig’, was bedeutet, dass sie sich zum größten Teil unabhängig voneinan­der entwickeln können, in unterschiedlichem Tempo, mit un­terschiedlicher Dynamik und unterschiedlichem Zeitplan. Ein Mensch kann in Bezug auf einige Linien sehr weit, in Bezug auf andere mittelmäßig und in Bezug auf wieder andere kaum fort­geschritten sein, alles zur gleichen Zeit.“

Viele spirituelle Skandale entstehen, wenn Lehrer eine un­gleichmäßige Entwicklung im Hinblick auf sexuelle Probleme zeigen, die vielleicht noch weiter verkompliziert werden durch gegenläufige kulturelle Faktoren, die eine Rolle spielen können, wenn östliche Lehrer ihre Traditionen auf westlichen Boden zu verpflanzen versuchen. Es gibt zahllose Berichte aus Vergan­genheit und Gegenwart von spirituellen Skandalen, an denen tibetisch buddhistische Mönche oder indische Yogis beteiligt waren, die in einem klösterlichen Umfeld aufwuchsen oder in Kulturen, deren kulturelle Prägung für Mann/Frau Beziehun­gen sie nicht auf die hübschen, sexuell verführerischen Schü­lerinnen vorbereitete, denen sie im Westen begegneten. Sie täuschten ihre Schüler darüber hinweg, dass sie in Wirklichkeit zahlloseAffären hatten. Die östlichen Lehrer rechtfertigen ihre sexuelle Promiskuität möglicherweise als „Initiationen“ oder behaupten vielleicht, dass sie „Tantra“ praktizieren, statt sich selbst und ihren Schülern gegenüber ehrlich zu sein und zuzu­geben, dass sie ihre eigene Sexualität erforschen oder ihre sexu­ellen Impulse nicht kontrollieren können.

Das Problem besteht nicht darin, dass Menschen, die als Lehrer dienen, nicht auf jeder Ebene integriert sind; das von sich selbst oder von anderen zu erwarten, ist unrealistisch. Der Schaden entsteht, wenn Lehrern die Fähigkeit oder die Bereit­schaft fehlt, sich mit schonungsloser Ehrlichkeit auf jeder ihrer Erfahrungsebenen zu prüfen und entsprechend zu beurteilen, ob und auf welche Weise ihre Schwächen anderen Schaden zu­fügen könnten. Wenn sie vortäuschen, entwickelter zu sein als sie tatsächlich sind, erweisen sie sich selbst und ihren Schülern einen sehr schlechten Dienst.

Schattenspiele zwischen Lehrern und Schülern

Ein anderes Phänomen, das auftaucht, wenn spirituelle Lehrer sich nicht mit ihren psychologischen Knoten beschäftigt haben, ist ihre Tendenz, Schüler mit ähnlichen Problemen anzuziehen, genauso wie in engen Beziehungen ganz allgemein gleiche Ei­genschaften die Tendenz haben, sich gegenseitig anzuziehen. So ist es ziemlich verbreitet, dass jene Bereiche der Psychologie des Lehrers, mit denen er nicht fertig geworden ist, sich mit ähnli­chen Tendenzen bei den Schülern verbinden. Eine Art spiritu­eller Co-Abhängigkeit, gegenseitige Komplizenschaft genannt, entwickelt sich. Die psychologische Schwäche des Schülers hakt in die psychologische Schwäche des Lehrers ein und umgekehrt.

Psychologische Dysfunktion realistisch betrachten

Wenn eine spirituelle Gruppe erklärt, dass sie nicht an Psycho­logie glaubt, besonders wenn sie die Psychologie pauschal im Namen der Wahrheit zurückweist, ist die Gruppe stärker ge­neigt in kollektive Aspekte spiritueller Umgehungstendenzen zu verfallen, die gegenseitige Komplizenschaft und spirituelle Co-Abhängigkeit einschließen. Wenn die Rolle der Psychologie geleugnet und unterbewertet wird, werden die einzelnen Men­schen in der Gemeinschaft nicht daran arbeiten, ihren eigenen Beitrag an deren psychologischer Dysfunktion zu verstehen. Das heißt nicht, dass sie nicht da ist, sondern nur, dass sie nicht überprüft wird.

Letztendlich muss eine Betrachtung über spirituelle Umge­hungstendenzen bei Lehrern anerkennen, dass es auf einer sehr praktischen Ebene unrealistisch ist, von jedem, der eine Funk­tion als spiritueller Lehrer ausübt, zu erwarten, dass er auf der psychologischen Ebene voll integriert ist.

Unsere Sorge muss sein, ob ein bestimmter Lehrer dazu qua­lifiziert ist, mit uns auf der vereinbarten Ebene zu arbeiten. Wir müssen so ehrlich und klar wie uns möglich ist, einschätzen, ob die persönlichen psychologischen Herausforderungen unseres Lehrers seine Lehrfähigkeit beeinträchtigen. Teil dieser Ein­schätzung, die zugegebener Weise sehr schwierig ist angesichts der zutiefst in­timen und verletzlichen Natur der Schü­ler/Lehrer Beziehung, ist das Erkennen, ob unsere eigenen psychischen Schwä­chen die Neigung haben, mit denen des Lehrers zusammenzuwirken.

Die Vereinigung von Psychologie und Spiritualität

Pioniere auf dem Gebiet sowohl der Psychologie als auch der Spiritualität haben in den letzten paar Jahrzehn­ten begonnen, sich mit diesen Themen zu beschäftigen, aber mir scheint, dass die Psychologie der Zukunft, eine um­fassende spirituelle Psychologie, die die einzigartige Komplexität der westlichen Psyche und auch die Rolle des Körpers in die integrierte Transformation ein­bezieht, erst im Entstehen begriffen ist. Sie wird zunehmend aus der Arbeit einer wachsenden Gruppe von engagierten spirituellen Praktizierenden mit hoher Unterscheidungsfähigkeit hervorgehen, die ihre eigene spirituelle Transformati­on leben, verstehen, schätzen und an ihr arbeiten und die außerdem Theorien und Methoden formulieren, durch die dies gelehrt und auf andere angewandt werden kann.

Spirituelles Verständnis entsteht aus der direkten Wahr­nehmung einer größeren Intelligenz, Kraft oder Macht. Spiri­tuelle Techniken helfen uns dabei, Zugang zur Erfahrung des Bewusstseins selbst zu gewinnen, und ausdauernde spirituel­le Praxis unterstützt uns dabei zu lernen, uns dauerhafter in dieser größeren Realität zu verankern. Währenddessen trägt die psychologische Arbeit dazu bei, die komplexen Stränge aus Mustern und Wunden, aus denen sich unsere persönliche Psy­che zusammensetzt, zu entwirren, die, wenn man sich nicht um sie kümmert, unser Wachstum und unsere Wahrnehmung der spirituellen Wirklichkeit behindern können.

Wir müssen unbedingt verstehen, dass unsere psychischen Blockaden unsere Fähigkeit, uns spirituellem Verständnis und spiritueller Erfahrung zu öffnen, tatsächlich behindern können. Kindheitstraumata und ein Gefühl, in der Kindheit verraten worden zu sein, was bis zu einem gewissen Grad viele erfahren haben, kann zu einem Mangel an Vertrauen in das Göttliche und in das Leben selbst führen und zu einer großen Schwierig­keit, sich dem Unbekannten zu überlassen. Enttäuschung über Autoritäten der Kindheit, wie Lehrer undreligiöse Führer, kann das Vertrauen in spirituelle Lehrer, Lehren und selbst in das Göttliche sehr erschweren. Unverarbeitete Emotionen aus un­serer Vergangenheit beeinflussen erheblich unsere Beziehung zu spirituellen Konzepten, Praktiken und Erfahrungen.

Das schwächste Glied erkennen

Viele Menschen betreiben in großem Umfang psychologische Arbeit und die sich daraus ergebenden Einsichten und Verän­derungen sind so tief, dass sie annehmen, das sei es, worum es bei spiritueller Transformation geht: Sie haben in ihrer Erfah­rung niemals Kontakt mit der nichtdualen Realität gehabt und so bleiben ihnen tiefere spirituelle Möglichkeiten unbewusst.

Die meisten spirituellen Skandale werden von Lehrern verursacht, die in Bezug auf wichtige psychologische Bereiche blind sind.

Am anderen Ende des Spektrums befinden sich jene, die regel­mäßig meditieren und eine spirituelle Praxis ausüben und die wenigstens so lange annehmen, sie hätten ihre psychischen Dynamiken transzendiert, bis ein wiederholtes Scheitern in Be­ziehungen, Kindererziehung und in der Arbeit mit den eigenen Emotionen ihnen deutlich macht, dass das nicht der Fall ist.

Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied, und ich bin überzeugt, dass die meisten spirituellen Skandale von spi­rituellen Lehrern verursacht werden, die in Bezug auf wichtige psychologische Bereiche blind sind. Sie nehmen an, dass ihre große spirituelle Einsicht ihre psychischen Wunden geheilt hat, obgleich das nicht stimmt. Diese Form der spirituellen Umge­hung scheint besonders häufig bei westlichen Lehrern und Prak­tizierenden östlicher spiritueller Traditionen vorzukommen, da diese Traditionen in dem Prozess der Übertragung in die west­liche Welt aus ihrem ursprünglichen kulturellen Zusammenhang herausgelöst werden und nicht notwendigerweise die psycholo­gischen Variablen berücksichtigen, die in der Kultur, in die sie eingeführt werden, eine Rolle spielen. Selbst das, was Einsicht in „objektive Wahrheiten“ zu sein scheint, unterliegt diesem Risiko.

Sex – ein spirituelles Minenfeld

Die westliche Psyche ist auf Grund verschiedener Faktoren in ihrer Beziehung zur sexuellen Energie von enormer Verwirrung und Verzerrung gekennzeichnet, und diese Verwirrung ist ver­antwortlich für viele spirituelle Skandale, die sich oft als „Tant­ra“ oder „besondere Initiation“ verkleiden. Wenn sexuelle Ent­haltsamkeit mit mächtigen spirituellen Praktiken verbunden wird, insbesondere wenn Praktizierende ihre Sexualität nicht erforscht und ihr psychisches Gepäck hinsichtlich ihrer Sexua­lität nicht losgeworden sind, besteht das Ergebnis oft in physi­schen und psychischen Blockaden, die sich durch eine Vielzahl von Manifestationen, angefangen von Depression bis hin zu Krankheit und Aggression, ausdrücken. Was den spirituellen Lehrer angeht, sind solche Blockaden oft verantwortlich für skandalöses und problematisches Verhalten.

Für die meisten zeitgenössischen Praktizierenden der westli­chen Spiritualität wäre es besser und effektiver, sie würden das Prinzip der „Zurückhaltung“ als die Praxis betrachten, Verant­wortung für die Macht und Kreativität ihrer Sexualität zu über­nehmen und zu lernen, bewusste und von Unterscheidungsfä­higkeit bestimmte Entscheidungen in Bezug auf sie zu fällen, statt den unbewussten Kräften von Unterdrückung, Verfüh­rung und Manipulation, die in der zeitgenössischen westlichen Kultur so verbreitet sind, zum Opfer zu fallen. Wenn wir lernen, einen Zugang zu unserer sexuellen Energie zu finden, sie zu ver­stehen und ihr eine Richtung zu geben, kann sie für eine be­liebige Anzahl von Zwecken benutzt werden. Sie kann benutzt werden, um Zugang zu höherem Wissen zu erlangen, um krea­tive Bemühungen zu unterstützen, um einfach nur die kostba­re Gabe menschlicher Lust zu genießen, aber auch um andere zu manipulieren und zu kontrollieren. Lehrer und Schüler des sexuellen „Tantra“ müssen besonders sorgfältig unterscheiden, wie sie ihre sexuelle Energie und ihr Charisma benutzen.

Es ist ratsam, sich spirituellen Wegen und Praktiken mit intelligentem Skeptizismus zu nähern, denn unsere Anziehung rührt gewöhnlich aus einer Kombination des authentischen Bedürfnisses der Seele und unseren blinden Flecken.

Intelligenter Skeptizismus

Wir wollen uns noch einmal daran erinnern, dass keiner von uns dagegen gefeit ist, in die Falle von spiritueller Verwirrung und spirituellem Missverständnis zu tappen. Den meisten von uns ist nicht genug Macht, Autorität und Ruhm gegeben, um die Subtilität und den Sog ihrer Versuchungen vollkommen erkennen zu können. Wir können nicht wissen, wie wir uns verhalten würden, wenn wir dieselbe Stellung innehätten. Die meisten von uns haben die Feinheiten dharmischer Weisheit nicht tief genug durchdrungen, um vollkommen abschätzen zu können, bis zu welchem Grad die noch unbewussten Aspekte des Ego die Wahrheit für sich in Anspruch nehmen und eine Schicht erzeugen können, die hart wie eine Rüstung aus Ster­ling Silber ist und makellos in der Sprache der Wahrheit selbst gerechtfertigt wird. Wie der Philosoph Robert McDermott einst zu mir sagte: „Ich bin nicht an einem Skandal interessiert, der mehr als sieben Jahre zurückliegt. Wenn ich nicht groß genug bin, um anderen Menschen Veränderung zuzugestehen, sollte ich mich nicht als spirituell betrachten.“

Es ist ratsam, sich spirituellen Wegen und Praktiken mit in­telligentem Skeptizismus zu nähern. Intelligente Überprüfung ist aus zwei Gründen nötig, weil spirituelle Organisationen, Lehrer und Gemeinschaften, die auf allen Ebenen auf einer hohen Stufe von Integrität funktionieren, die Ausnahme sind und weil unsere Anziehung zu spirituellen Wegen und Prak­tiken gewöhnlich aus einer Kombination des authentischen Bedürfnisses der Seele mit unseren psychischen Bedürfnissen und unserem blinden Fleck herrührt. Dennoch, die Möglichkeit authentischer Spiritualität einfach von der Hand zu weisen, weil es betrügerische oder „Rheinkiesel“-Spiritualität gibt, ist ebenso unsinnig, wie die Möglichkeit, die Liebe zu entdecken einfach abzutun, weil wir ein paar schlechte Beziehungen hat­ten. Dieses Buch soll vor allem auch dazu beitragen, dengroßen Morast unserer spirituellen und psychologischen Konzepte, Er­fahrungen und subtilen Ich-Mechanismen in Augenschein zu nehmen, so dass wir kraftvolle und intelligente spirituelle Ent­scheidungen in unserem Leben treffen können.

Dieser Beitrag ist eine Zusammenstellung von Auszügen aus Mariana Caplans Buch „Augen auf! Der Weg der spirituellen Unter­scheidungskraft“, das im Verlag Advaita Media erschienen ist (ISBN 978- 3-936718-21-8, € 16,80). Die Redaktion dankt dem Verlag für die Möglichkeit des Ab­drucks. Weitere Informationen: www.advaitamedia.de

(aus: IP 21, März 2012)

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